Maui, August 2022
Das Hāna Health Center war ein mit dunklen Natursteinen verkleidetes Gebäude mit modernem, in Weiß- und Grüntönen gehaltenem Inneren. Im Eingangsbereich stand ein üppiges Gesteck aus tropischen Pflanzen, eine Klimaanlage spendete angenehme Kühle, und die junge Frau am Empfang schenkte Emma ein freundliches Lächeln. Sie schickte sie in ein Wartezimmer den Flur hinunter, wo Emma neben einer älteren Dame Platz nahm. Ihr gegenüber saß eine junge Mutter, die ihr Baby neben sich auf einem Stuhl in einer Autobabyschale wiegte. Das Kleine – Emma konnte unmöglich sagen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war – spielte mit einer Rassel, die an dem Tragegriff der Babyschale befestigt war. Es patschte unbeholfen mit seinen kleinen Händchen nach dem Spielzeug, und jedes Mal, wenn die Mutter zu ihm sprach, stieß es glucksende Laute aus und schenkte ihr ein breites zahnloses Lächeln. Bei diesem rührenden Anblick zog sich etwas in Emma zusammen, und sie war erleichtert, dass Mutter und Baby wenig später aufgerufen wurden und das Wartezimmer verließen. Als die Ärztin, eine ältere Frau mit randloser Brille und kurzen, von grauen Strähnen durchzogenen Haaren, sie ins Arztzimmer rief, fühlten sich ihre Knie weich an. Die Untersuchung dauerte nicht lange, und das Ergebnis war niederschmetternd und beruhigend zugleich. Emma war schwanger, daran bestand nun kein Zweifel mehr. Im Augenblick sah der Ärztin zufolge aber alles bestens aus. Für einen Moment schloss Emma die Augen und versuchte, die Nachricht zu verdauen.
»Sie hätten sich lieber ein anderes Ergebnis gewünscht?«, fragte die Ärztin und betrachtete sie mitfühlend.
»Es kommt nur gerade etwas ungelegen«, antwortete sie ausweichend, denn sie verspürte keine Lust, ihre Situation zu erklären.
Ein Lächeln huschte über das Gesicht der Ärztin. »Das sagen viele zu mir, besonders die jungen Frauen, die gerade dabei sind, sich beruflich etwas aufzubauen. Ich verrate Ihnen was: Meine Mutter entdeckte, dass sie mit mir schwanger war, wenige Tage nachdem mein Vater im Vietnamkrieg gefallen war. Sie verstand sich nicht mit ihren Eltern und hatte keine abgeschlossene Berufsausbildung. Man konnte wirklich nicht behaupten, dass ich gelegen kam. Später war sie dennoch glücklich, sich für mich entschieden zu haben. Nehmen Sie sich ruhig ein paar Tage Zeit und sprechen Sie offen mit Ihrem Partner über Ihre Bedenken.«
Alles, bloß das nicht, dachte Emma. Es war klar, dass die Frau ihr nur Mut machen wollte. Aber auch wenn sich die Lage, in der sich die Mutter der Ärztin damals befunden hatte, furchtbar anhörte, war sie doch nicht mit ihrer vergleichbar. Sie hatte das Kind eines Mannes erwartet, den sie liebte, war vielleicht sogar froh, dass nach seinem Tod etwas von ihm geblieben war – das konnte Emma von sich nicht sagen. Sie wollte weder, dass Michael sich in ihr künftiges Leben einmischte, noch Erziehungsratschläge ihrer Mutter ertragen, nur damit sie nicht allein das Kind großziehen musste. Andererseits konnte sie auch ihren Traum, Astronautin zu werden, nicht einfach aufgeben. Und zu allem Überfluss war sie auch noch dabei, sich in einen Mann zu verlieben, der sie so viel besser verstand und sich für den Weltraum und die Sterne begeisterte wie sie selbst. Sie fühlte sich Elias mit jeder Faser ihres Körpers verbunden, was völlig verrückt war, weil sie sich doch erst so kurze Zeit kannten. Entschlossen stand sie auf, verabschiedete sich und verließ nach dem Bezahlen der Rechnung geradezu fluchtartig das Health Center.
Draußen schlug ihr die mittägliche Hitze entgegen, und sie war dankbar, dass gerade ein Taxi einen neuen Patienten brachte. Emma wartete, bis der Mann ausgestiegen war, dann ließ sie sich von dem Taxifahrer zurück zu der Shopping Mall fahren, bei der Jane sie zuvor abgesetzt hatte. Eigentlich war ihr überhaupt nicht nach Einkaufen zumute. Lustlos stöberte sie in einigen Läden nach etwas, das sie ihren Eltern oder ihrer Arbeitskollegin Ronja als Souvenir mitbringen konnte, wurde aber nicht fündig. Alles kam ihr entweder kitschig oder unpassend vor, und schließlich ließ sie es sein, setzte sich in ein Café und bestellte einen Cappuccino. Während sie an dem Kaffee nippte, recherchierte sie auf ihrem Handy, welche Möglichkeiten ihr zu einem Schwangerschaftsabbruch zur Verfügung standen. Zögernd machte sie einen Termin für Montag in einer Woche bei einer Schwangerschaftskonflikt-Beratungsstelle aus. Drei Tage nach so einem Beratungsgespräch konnte sie, wenn sie sich dafür entscheiden sollte, den Abbruch vornehmen.
Erleichtert fühlte sie sich danach nicht. Am liebsten würde sie diesen Zustand der Unsicherheit endlich beenden. Andererseits müsste sie Becky bei einer überstürzten Abreise erklären, was los war, und Elias hatte sich bei seinen Vorgesetzten so sehr für einen Besichtigungstermin des Observatoriums eingesetzt, dass sie ihn nicht enttäuschen wollte. Emma seufzte und sah einer Gruppe Teenager nach, die schwatzend in der Mall an ihr vorbeizogen. Außerdem hatte sie sich selbst wahnsinnig auf den Besuch von Science City gefreut. Vielleicht war es besser, die nächsten Tage noch in vollen Zügen zu genießen und Kraft zu tanken für all die unangenehmen Gespräche, die ihr in Deutschland bevorstanden. Sie dachte an die letzte verhängnisvolle Nacht mit Michael, wie sehr sie damals an ihre Liebe hatte glauben wollen, obwohl ihr doch schon lange hätte klar sein müssen, dass sie beide nicht zusammenpassten und sie sich ständig für ihn verbog. Dann kamen ihr wieder die Worte der Ärztin in den Sinn. Sprechen Sie mit Ihrem Partner. Ach verdammt! Sosehr es ihr davor graute und wie auch immer sie sich am Ende entschied, ob sie das Kind behalten oder abtreiben würde, sie konnte ihm die Schwangerschaft nicht einfach verschweigen. In jener Nacht hatten sie einvernehmlich miteinander geschlafen, es war schließlich nicht so, dass er ihr Gewalt angetan hatte. Sobald sie zurück in Deutschland war, würde sie ihn anrufen. Wie auf ein Stichwort klingelte ihr Handy, und sie zuckte zusammen. Aber es konnte nicht Michael sein, den hatte sie stummgeschaltet.
»Hi, Emma, bist du schon fertig mit Shoppen?«, fragte Jane.
»Kann man so sagen«, erwiderte Emma.
»Ach, super. Meine Freundin hat gerade eine Nachricht von ihrem Sohn erhalten. Sein Auto hat einen Platten, und jetzt soll sie ihn und seine Surfclique vom Strand abholen. Ich dachte mir, wir könnten noch zusammen in der Mall Mittagessen, falls du nicht was anderes vorhast.«
»Na klar, gerne.«
Sie einigten sich auf ein italienisches Restaurant, das in den oberen Stockwerken der Mall gelegen war und von seinen Fensterplätzen aus einen schönen Ausblick über die Küste bot. Als der Kellner Emma ein Glas Wein oder Sekt zu ihrer Pasta al Arrabiata vorschlug, lehnte sie dankend ab und bestellte stattdessen ein Mineralwasser.
»Was hast du denn Schönes für deine Lieben daheim gefunden?«, erkundigte sich Jane neugierig und nippte an ihrem Prosecco.
Emma verzog den Mund. »Gar nichts.«
Elias’ Schwester lachte auf. »Oh, das kenne ich nur zu gut! Kitsch und Krempel, wohin man schaut. Warum guckst du dich nicht im Souvenirshop des Observatoriums um? Vielleicht findest du dort eher etwas Ansprechendes. Deine Kollegin arbeitet doch auch im Luft- und Raumfahrtzentrum, oder?«
»Ja, und das ist eine ausgezeichnete Idee! Ich freu mich schon sehr auf den Besuch.« Und auf deinen Bruder.
»Na, dann seid ihr schon zu zweit«, Jane zwinkerte ihr verschwörerisch zu, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. »Ich habe eben mit Elias telefoniert. Er hat extra einen weiteren Tag Urlaub eingereicht und mich gefragt, ob du am Freitag schon was vorhast. Hast du?«
Emma fühlte, wie ihr Herz schon bei der Vorstellung, noch einen Tag mehr mit ihm zu verbringen, zu rasen begann. Oh, dieses dumme Herz! Sie sollte Nein sagen, sollte ihm und sich die Enttäuschung hinterher ersparen, sie konnten doch unmöglich eine gemeinsame Zukunft haben. Aber stattdessen hörte sie sich antworten: »Nur Packen, aber das ist in einer Stunde locker erledigt. Was hat er denn vor?«
»Das musst du ihn schon selbst fragen. Mir wollte er nichts verraten, nur, dass er dich dann am Samstag gerne auch zum Flughafen fahren würde.« Jane grinste breit. »Er ist wie ausgewechselt, seit er dich kennengelernt hat.«
Verlegen sah sie auf ihren Teller hinunter. Wie gerne hätte sie seiner Schwester gestanden, dass sie ebenfalls jede Sekunde genoss, die sie mit ihm verbrachte. In die peinliche Stille hinein, in der Jane sie aufmerksam musterte, summte plötzlich ihr Handy, und an ihren aufflammenden Wangen ahnte Emma, wer anrief.
»Hi, Takeshi! Wie geht es dir?«
Es war faszinierend, wie sich Janes Miene während des Telefonats mit ihrem Ex-Freund veränderte. Sie schien geradezu von innen heraus zu strahlen, und Emma fragte sich, was wohl zu dem Zerwürfnis der beiden geführt hatte. Es war offensichtlich, dass er ihr immer noch sehr viel bedeutete, auch wenn sie das – zumindest ihrer Mutter gegenüber – vehement leugnete.
»Im Ernst? Na, dagegen müssen wir doch etwas tun!«, sagte Jane und lachte.
Der Kellner kam mit zwei dampfenden Tellern. Emma hatte gar nicht gemerkt, wie hungrig sie war, und begann mit dem Essen, während Jane weiter telefonierte.
»Na, klar, dann komme ich am Mittwoch vorbei, und wir besprechen alles in Ruhe. Du, mein Essen ist gerade serviert worden, ich sitze hier mit einer Freundin beim Italiener. … Ja, danke, das wünsche ich dir auch. Bis Mittwoch!« Sie beendete das Gespräch und blickte noch einen Moment versonnen auf das Display, wo vermutlich ein Foto von Takeshi zu dem Kontakt hinterlegt war.
»Guten Appetit«, sagte Emma schmunzelnd. »Die Penne sind wirklich lecker.«
Elias’ Schwester zuckte zusammen. »Entschuldige bitte, ich wollte nicht unhöflich sein, aber ich habe schon den ganzen Vormittag versucht, ihn zu erreichen. Er war in einer Not-OP und …«
Emma winkte rasch ab. »Alles gut. Ich finde es toll, dass ihr beide euch noch so gut versteht.«
Jane errötete, schob sich einen Löffel Nudeln in den Mund und verzog genießerisch das Gesicht. »Die sind wirklich gut.« Sie betrachtete Emma nachdenklich. »Takeshi und ich versuchen eben, Freunde zu bleiben. Ich weiß, dass das selten nach einer Trennung gelingt, außer Kinder sind im Spiel. Wie sieht das denn bei dir und deinem Ex-Freund aus? Ist vermutlich noch alles zu frisch, aber glaubst du, ihr beide …«
»Nein«, unterbrach Emma rasch. Bei der Erwähnung von Kindern bekam sie einen bitteren Geschmack im Mund, den sie schnell mit einem Schluck Mineralwasser hinunterspülte. »Ich fürchte, bei mir und Michael ist es eher wie bei Elias und Colleen.«
»Oh, das tut mir leid. Habt ihr in Deutschland denn noch eine gemeinsame Wohnung?«
»Ja, und ich wünschte, das wäre alles schon geregelt. Michael und ich müssen dem Vermieter Bescheid geben, dass ich ab jetzt die alleinige Mieterin bin. Seine Sachen werde ich in Umzugskartons packen, und er kann sie gerne abholen, sobald er wieder in Deutschland ist. Keine Ahnung, ob er auch eine Entschädigung für die Wohnungseinrichtung haben will, die wir gemeinsam bezahlt haben, das muss ich noch mit ihm klären. Mir graut schon vor den ganzen Diskussionen, vor allem, weil Michael aktuell noch nicht begreifen will, dass es aus ist.«
Jane sah sie verständnisvoll an. »Das wird nicht einfach.«
Emma nickte und fand, dass es an der Zeit war, das Thema zu wechseln. »Wann hast du eigentlich deinen Friseurtermin?«
»Oh Gott, gut, dass du mich daran erinnerst!« Sie sah erschrocken auf die Uhr. »In einer Viertelstunde. Aber das schaffe ich, er ist gleich hier in der Mall im Erdgeschoss. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, so lange auf mich zu warten?«
»Nein, gar nicht, ich überlege, ob sie nicht auch einen Termin für mich frei haben.«
»Keine Ahnung, wir können gerne mal nachfragen. Aber um diese Uhrzeit unter der Woche ist nicht viel los. Was willst du machen, die Spitzen schneiden lassen?«
Emma schüttelte den Kopf und schob energisch ihr Kinn vor. »Ich möchte einen Pixie Bob Cut.«
Jane riss die Augen auf und starrte sie ungläubig an. »Nein! Das war ein Witz, oder?«
»Mein voller Ernst. Ich wollte das schon vor Jahren ausprobieren. Leider hielt Michael nichts von kurzen Haaren.« Sie sah an sich hinunter. Die Spitzen ihrer Haare reichten fast bis zur Taille. »In Zukunft lasse ich mir so was nicht mehr von einem Mann vorschreiben.«
Jane grinste. »Krasse Entscheidung, ein bisschen wie princess turns badass.«
Das brachte Emma zum Lachen. »Eine Prinzessin, die ihn bedingungslos anhimmelt, würde tatsächlich besser zu Michael passen.«
Zwei Stunden später saßen sie in Janes Wagen, und Emma musste sich beherrschen, nicht ständig in ihr kurzes Haar zu greifen. Der Friseur hatte dreimal nachgefragt, ob sie auch wirklich sicher war, diese Haarpracht seiner Schere zu opfern. Dann hatte er sich seufzend an die Arbeit gemacht. Das Ergebnis hatte Emma am Ende ebenso verblüfft wie den Maestro selbst. Ihre Haare waren jetzt an den Seiten und im Nacken kurz, das Deckhaar hingegen lang. An den Spitzen kringelte es sich ganz leicht nach innen, scheinbar hatte sie eine Naturwelle, die ihr bislang entgangen war. Sie verlieh dem Schnitt eine selbstbewusste Note. Insgesamt wirkte ihr Gesicht jetzt viel schmaler, und sie hatte den Eindruck, dass ihre Augen besser zur Geltung kamen.
»Wahnsinn!«, sagte Jane zum wiederholten Male und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das probiere ich nächstes Mal auch aus. Wie fühlt es sich denn an?«
»Total ungewohnt! So unglaublich leicht. Ich liebe es.«
»Du siehst wie ein Filmstar aus.« Emma lachte. »Nein, ehrlich! Wie Audrey Hepburn, nur dunkelblond. Weißt du was? Zur Feier des Tages gönnen wir uns jetzt noch bei ›Hāna Farms‹ den Cheesecake mit Ananasglasur.« Schwungvoll lenkte sie den Wagen bei der nächsten Ausfahrt vom Highway.
Die Sonne ging bereits unter, als sie wieder daheim bei Becky ankamen, die ebenfalls begeistert von Emmas neuer Frisur war. Zu dritt machten sie sich ans Abendessen. Während Jane und Emma Salat und Gemüse für einen Caesar Salad schnippelten, bereitete Becky das Dressing vor und erzählte ihnen, was sie im Laufe des Tages über die Verbindung von Marie und Susanna in Erfahrung gebracht hatte.
»Ich habe noch weitere Fotos und einige Briefe auf Deutsch gefunden, die ich leider nicht entziffern kann«, sagte sie aufgeregt. »Aber in ihnen kommt der Name deiner Urgroßmutter, Susanna, vor. Der Absender ist ein gewisser Samuel Grünberg aus Temeswar. Sagt dir der Name etwas?«
Emma schüttelte den Kopf und schob die klein gehackten Tomaten mit dem Messer vom Schneidbrett in die Salatschüssel. »Noch nie gehört. Aber das will nichts heißen. Ich weiß so gut wie gar nichts über meine Urgroßmutter, noch nicht einmal besonders viel über meine Omi. Die Briefe musst du mir unbedingt zeigen. Ich rufe Omi Viktória später an und frage sie, wer dieser Samuel war.«
Nach dem Abendessen hatten sie es sich auf der Couch bequem gemacht, und Emma betrachtete die neu entdeckten Fotos, die Susanna und Marie zusammen zeigten. Eines war auf einer Hochzeitsfeier entstanden, ein anderes musste von einer Taufe stammen. Es waren Gruppenaufnahmen, und die beiden waren nur klein inmitten der anderen Gäste zu erkennen. Die Umgebung wirkte auf beiden Bildern ländlich. Becky hatte die Briefe von Samuel Grünberg an Marie vorab nach Datum sortiert. Sie griff nach einem, der im Juli 1914 aufgegeben worden war.
»Und?«, fragte Jane neben ihr neugierig. »Was schreibt er denn?«
»Das ist gar nicht so leicht zu entziffern«, stöhnte Emma. »Was für eine furchtbare Schrift! Er fragt, wie es ihr in New York geht, und es ist von einer Paula die Rede, dass er es kaum erwarten kann, sie zu heiraten. Der Name sagt mir leider auch nichts.« Emma überflog stirnrunzelnd die Zeilen, bis sie dort angelangt war, wo der Name Susanna das erste Mal fiel. »Hier steht etwas zu meiner Uroma, Moment, ich übersetze es euch:
Du fragst, wie es deiner lieben Freundin Susanna geht und warum sie deine Briefe nicht beantwortet. Ich sage nur, sie wird ihre Gründe haben und »lieb« ist keine Eigenschaft, die ich ihr nach allem, was ich gehört habe, zuschreiben möchte. Hat denn der Johannes sich noch nicht bei dir gemeldet? Ich bin ihm Ende Mai begegnet, und er war außer sich, als er von deiner Abreise erfuhr. Es gibt einiges, was er dir über Susanna zu erzählen hat, hab bitte Geduld, sein Brief wird sicher bald bei dir eintreffen.«
Emma ließ das leicht vergilbte Papier sinken und sah Becky und Jane bestürzt an. »Na, das klingt ja nicht gerade schmeichelhaft für meine Uroma.«
»Aber spannend!« Janes Augen funkelten. »Was wohl dahintersteckt? Und warum will dieser Samuel ihr nicht selbst verraten, was er von Susanna hält, wenn er es schon weiß, sondern schiebt diesen Johannes vor? Alles sehr mysteriös. Steht vielleicht mehr in den anderen Briefen dazu?«
»Die sind viele Monate später angekommen«, warf Becky ein. »Ich nehme an, wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs. Bis dahin hat sie vermutlich längst den Brief von diesem Johannes erhalten. Ich konnte ihn allerdings in ihren Unterlagen nicht finden. Hast du den Namen schon einmal gehört?«
Emma schüttelte den Kopf. »Ein gemeinsamer Freund vielleicht? Im Krieg sind bestimmt viele Briefe verloren gegangen«, überlegte sie. »Gab es damals nicht auch eine Seeblockade?«
Sie versuchte, sich an ihr Wissen aus dem Geschichtsunterricht zu erinnern, und nahm den Brief, der im Dezember 1914 geschrieben worden war, aber laut Poststempel erst im März des darauffolgenden Jahres ankam. Er trug einen Stempel mit der Aufschrift K.u.K. Telegramm- und Briefzensurkommission. Scheinbar waren Briefe ins Ausland im Krieg zensiert worden. Einige Zeilen am Anfang waren auf Hebräisch. Jane versuchte, sie mit einer Übersetzungsapp zu entziffern, während Becky und Emma das Bild, das dem Brief beilag, betrachteten. Es zeigte ein junges Brautpaar, er im dunklen Anzug mit Hemd und Fliege, sie in einem überraschend modern wirkenden weißen Kleid, das aufgrund des schlichten Rocks und dem über die Hüften reichenden, eng taillierten Blazer mit schwarzem Gürtel eher einem Reisekostüm glich. Auf dem Kopf trug die Braut keinen Schleier, sondern einen breitkrempigen Hut, ebenfalls mit dunklem Band, unter dem helle Haarlocken hervorlugten. Damals war es noch üblich, ernst und streng in die Kamera zu blicken, trotzdem sah man den beiden an, wie glücklich sie waren. Emma drehte das Foto um. Samuel und Paula Grünberg, 30.11.1914, stand auf der Rückseite zusammen mit dem Stempel eines Fotoateliers in Arad.
»Ich hab’s«, rief Jane in diesem Moment. »Das sind frohe Chanukka-Wünsche und die Hoffnung, dass bald Frieden einkehren möge. Übersetzt du uns, was er auf Deutsch schreibt?«
Emma nickte und nahm die dicht beschriebenen, pergamentdünnen Seiten von ihr entgegen.
»Liebste Marie,
nun sind Paula und ich endlich Mann und Frau. Vor zwei Tagen ist sie zum Judentum konvertiert, und gestern hat der Rabbiner der Innenstadtsynagoge in Temeswar uns getraut. Unsere Familien sind außer sich vor Zorn und wir außer uns vor Glück, ich finde, bessere Voraussetzungen für eine glückliche Ehe kann es gar nicht geben.«
Jane kicherte, und Emma sah auf und musste ebenfalls grinsen. »Ich mag ihn«, sagte sie.
»In diesem Sinne hoffe ich für Susanna nur das Beste, denn auch ihr und Emil ist der Zorn beider Elternteile beschieden. Ja, du liest richtig. Deine ehemalige Freundin hat im September Emil Schmidt geehelicht. Was sie zu diesem unerwarteten Schritt bewogen hat, darüber wird viel im Dorf getratscht, und es sind wahrlich keine wohlmeinenden Zungen.«
Leider war das auch schon alles, was er zu ihrer Urgroßmutter geschrieben hatte. Es folgte ein Bericht über seine Arbeit in einem Kontor und Paulas Ausbildung zur Krankenschwester.
»Die ›Ungarländische Jüdische Zeitung‹ wird nicht müde zu betonen, dass wir jungen Männer unsere patriotische Pflicht dreifach erfüllen müssten und für die Ehre unseres Vaterlandes und unseres Glaubens kämpfen sollten. Jede Heldentat eines jüdischen Soldaten sei ein sorgsam bewahrtes Beweismittel gegen die feindseligen Beschuldigungen des Antisemiten. Aber weißt du was, liebe Marie, wenn ich daran denke, Paula gerade jetzt alleinzulassen, wo sie mit ihrer Familie gebrochen hat und niemand ihr beistehen kann, ist mir nicht wohl dabei. Ich bin weiß Gott nicht feige und liebe unser Vaterland, aber ich habe beschlossen, meinen Einberufungsbefehl abzuwarten und das Schicksal nicht herauszufordern. Wir werden …«
Emmas Handy klingelte und sie legte den Brief beiseite. »Meine Omi!«, sagte sie zu Becky und Jane. Sie hatte ihr vor dem Abendessen eine kurze Nachricht geschrieben, dass sie sie später sprechen wollte, und die musste sie gelesen haben.
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte Omi Viktória nach der Begrüßung besorgt.
»Ja, alles bestens«, log sie. Eine ungewollte Schwangerschaft war nichts, was man eben mal so am Telefon besprach. »Ich habe hier eine sensationelle Entdeckung gemacht.«
In kurzen Worten schilderte sie ihr die Freundschaft zwischen ihrer Urgroßmutter Susanna und der Großmutter ihrer Gastgeberin, Marie Rosenfeld.
»Aber das ist ja unglaublich!«, rief Omi Viktoría. »Ich fürchte nur, ich muss dich enttäuschen. Susanna war weiß Gott keine Frau, die offen über ihre Vergangenheit gesprochen hätte, schon gar nicht mit mir. Ich war nicht gerade ihre Wunschschwiegertochter, wenn du verstehst, was ich meine. Vielleicht hat sie früher deinem Opa Anton etwas von dieser Freundin in Amerika erzählt? Ich höre von dir diesen Namen zum ersten Mal.«
»Wie schade.« Ihr Opa konnte ihr keine Auskunft mehr geben. Er war deportiert worden und aus der russischen Gefangenschaft nicht zurückgekehrt, sollte er etwas gewusst haben, war es für immer verloren. »Gibt es sonst jemanden, der mehr über Susanna und Marie weiß? Einige Briefe stammen von einem gewissen Samuel Grünberg.«
»Die Grünbergs? Natürlich, die kenne ich gut. Vor allem ihre Tochter Ava. Sie hat mir erzählt, dass Susanna ihr und ihren Eltern vor der Eisernen Garde das Leben gerettet hat.«
»Wer war denn die Eiserne Garde?«, fragte Emma verwundert.
»Eine faschistische Bewegung im Königreich Rumänien. Aber ich glaube, das ist eine längere Geschichte. Zu lang für ein Telefonat. Irgendwo habe ich auch noch Avas Telefonnummer. Wir haben schon ewig nicht mehr voneinander gehört. Sie lebt inzwischen mit ihrer Familie in Budapest. Wenn du magst, rufe ich sie an und frage sie, ob sie Marie gekannt hat und weiß, warum ihr Vater so geringschätzig über deine Urgroßmutter Susanna geschrieben hat.«
»Oh, das wäre toll, wenn du das herausfindest. Am Samstag fliege ich zurück. Können wir uns am darauffolgenden Wochenende vielleicht treffen?«
»Sehr gerne, Emma, du weißt, ich freue mich immer, wenn du bei mir vorbeischaust.«
Sie beendeten das Gespräch, und Emma erzählte den beiden Frauen, was sie gerade erfahren hatte. Becky zog nachdenklich die Stirn in Falten.
»Jetzt bin ich noch neugieriger, was es mit deiner Urgroßmutter auf sich hatte und warum sie diesem Samuel geholfen hat, obwohl er doch so schlecht auf sie zu sprechen war.«
»Ich werde es euch wissen lassen, sobald ich das Geheimnis in Deutschland gelüftet habe«, versprach Emma.