August, 2022
An diesem Mittwochmorgen ging einfach alles schief. Erst schüttete sich Elias Kaffee über das Hemd und musste sich noch einmal umziehen. Als er gerade in seinen Jeep steigen wollte, erschien Noah wie aus dem Nichts und fragte, ob er ihm nur mal kurz helfen könne, einen Rohrschaden in seiner Küche zu reparieren. Der Klempner hätte erst nächste Woche Montag einen Termin frei, und seine Frau würde vollkommen ausflippen, weil sich die Schwiegereltern fürs Wochenende angekündigt hätten. Also schrieb Elias Emma eine SMS, dass es später werden würde, weil er seinem Nachbarn noch kurz das Leben retten musste. Leider hatte Noah das falsche Ersatzteil besorgt, sodass sie ein weiteres Mal in den Baumarkt fuhren, bevor sie überhaupt mit der Reparatur loslegen konnten. Es war fast elf, als Elias mit nassen, schmutzigen Klamotten zurück ins Cottage kam, um sich zu duschen und umzuziehen. Emma hatte ihm in der Zwischenzeit geantwortet, dass es kein Problem sei und sie mit seiner Mutter gerade Mittagessen machen würde. Erleichtert atmete er auf, weil sie ihm die Verspätung nicht übel nahm, als sein Handy klingelte und auf dem Display ein Gesicht erschien, das er schon eine ganze Weile nicht gesehen hatte. Genau genommen nicht mehr seit der Beerdigung seines Vaters. Oh, nein, nicht ausgerechnet jetzt! Er fühlte sich nicht bereit für dieses Gespräch. Also drückte er den Anruf mit einem gewissen Unbehagen weg und lief zu seinem Jeep. Kaum hatte er den Rucksack auf den Rücksitz geworfen und den Motor gestartet, klingelte es erneut. Stöhnend aktivierte er die Freisprechanlage und fuhr los.
»Hi, Kaleo. Es ist gerade wirklich ungünstig, ich bin unterwegs.«
Er bereute seine Begrüßung, kaum dass er sie ausgesprochen hatte. Verdammt, Kaleo war sein bester Freund, und er hatte ihn seit Tagen anrufen wollen, um ihm zu sagen, wie leid ihm sein blödes Verhalten bei der Beerdigung tat.
»Ich halte dich auch nicht lange auf«, klang es entsprechend kühl aus den Lautsprechern. Ohne Umschweife fuhr Kaleo fort: »Mir ist gesagt worden, dass du die TMT-Organisation in Washington bei der National Science Foundation unterstützt hast, um den Konflikt auf Bundesebene zu verlagern.«
Ihm schwante nichts Gutes. »Ja. Und?«
Ein abfälliges Schnauben in der Leitung. »Ich hatte es nicht glauben wollen.«
Elias bog auf den Highway Richtung Hāna und fragte sich, was wohl an diesem Tag noch alles passieren würde.
»Ich habe monatelang an der Entwicklung dieses Teleskops mitgearbeitet, du kannst es mir nicht übel nehmen, dass ich den Bau befürworte. Es wird großartig werden, eine unglaubliche Bereicherung für die Wissenschaft und für Hawaii. Was hast du denn mit der ganzen Sache überhaupt zu tun?«
»Ich habe mich mit einigen Leuten der Lālākea Foundation zusammengetan, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Kultur und Tradition unseres hawaiianischen Erbes zu bewahren. Wir haben Regierungsmitglieder für uns gewinnen können, die eine Gesetzesvorlage erarbeitet haben, über die in den nächsten Wochen abgestimmt wird. Wenn das Gesetz durchgeht und der Gouverneur von Hawaii es abzeichnet, verliert die Universität von Hawaii ihre Rolle als alleinige Aufsichtsbehörde über das Gebiet des Mauna Kea.«
Elias fühlte sich, als hätte Kaleo ihm gerade die Faust in den Magen gerammt. »Super. Das habt ihr ja wirklich toll hingekriegt«, sagte er süffisant. »Und wer soll dann für den Wissenschaftskomplex zuständig sein? Ein unorganisierter Haufen Hula-tanzender Spinner, die keine Ahnung von Technik und Astronomie haben?«
»Interessante Sichtweise, mein Freund.«
»Ich bin Wissenschaftler, verdammt noch mal!«
»Und Hawaiianer! Eli, du bist auf Maui geboren, wir sind zusammen aufgewachsen! Ich erkenne dich nicht wieder und kann nicht glauben, dass es dir völlig gleichgültig ist, wie wir hier auf dem Berg abgezockt werden.«
Elias stöhnte und fuhr sich durchs Haar. »Hast du mich angerufen, um mich an meine Wurzeln zu erinnern? Ich fürchte, du überschätzt meinen Einfluss auf die TMT-Organisation.«
»Nein. Ich wollte dich eigentlich für unsere Sache gewinnen und musste dann erfahren, dass du bereits auf der Gegenseite stehst. Wir sind keine Spinner. Wir wollen das Gebiet nur künftig mit einem mehrköpfigen Gremium verwalten, das aus verschiedenen Interessengruppen besteht, darunter auch Astronomen und Wissenschaftler. Ich hatte vor, dich für den Wissenschaftsjob vorzuschlagen.«
Stille herrschte nach seinen Worten, und in Elias tobte ein Sturm von Gefühlen. Noch vor ein paar Wochen hätte er es rundum abgelehnt, überhaupt darüber zu sprechen. Aber die Begegnung mit Emma hatte etwas in ihm ausgelöst. Er hatte sich nach der Trennung von Colleen von allen Freunden, von allem, was Gefühle in ihm auslösen könnte, abgeschottet, war stur seinem Job nachgegangen, um nur bloß nicht wieder verletzt zu werden. Ausgerechnet hier, auf der Küstenstraße, mit dem Blick auf die unendliche Weite des Meeres, wurde ihm auf einmal bewusst, wie falsch er damit gelegen hatte. So funktionierte das nicht. Wenn er keine Gefühle zuließ, konnte er auch nicht glücklich werden. Er war doch kein Roboter. Kaleo war Ohana, seine Familie, es wurde Zeit, dass er sich mit ihm aussöhnte oder ihn zumindest anhörte. Womöglich gab es ja eine Möglichkeit, zusammen und doch jeder auf seine Art etwas Großartiges für den heiligen Berg Hawaiis zu schaffen.
»Ihr habt also nicht vor, das Teleskop rundweg abzulehnen?«, fragte er ruhiger.
»Nein. Wir suchen nur einen Kompromiss, der alle Anschauungen berücksichtigt. Wie genau der aussehen wird, kann ich dir noch nicht sagen. Aber ich dachte, du hättest vielleicht Interesse, daran mitzuwirken, weil du beide Seiten kennst und verstehst. Scheinbar habe ich mich in dir getäuscht. Entschuldige, dass ich dich mit meinem Anruf aufgehalten habe.«
»Nein, warte!« Elias umklammerte das Lenkrad fester. »Es tut mir leid. Alles. Ich meine … ich habe ziemlich viel Mist in der Vergangenheit gesagt. Und mich eine Ewigkeit nicht mehr bei dir gemeldet. Aber ich würde dich gerne einmal wiedersehen und ein Bier mit dir trinken. Dann können wir über das alles in Ruhe reden. Also, wenn du das auch noch möchtest«, sprudelte es aus ihm heraus.
Wieder herrschte Stille. Als Kaleo sprach, klang seine Stimme belegt.
»Du bist Ohana, Eli! Ich bin nicht derjenige, der das in den vergangenen Jahren vergessen hat.«
»Ich weiß. Hör zu, am Samstag bringe ich eine Freundin zum Flughafen. Anschließend könnte ich einen Flug nach Big Island nehmen und euch besuchen kommen.«
»Okay. Willst du bei uns übernachten? Das, was wir zu besprechen haben, wird nämlich länger dauern.«
Elias lächelte. »Wenn ich dir nicht zur Last falle?«
»Das wird sich zeigen«, erwiderte Kaleo, aber seine Worte klangen härter als sein Tonfall.
»Wie geht es eigentlich Nalu?«, wechselte Elias das heikle Thema.
»Frag nicht. Der hat noch mehr verrückte Ideen im Kopf als wir beide früher zusammen. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht zwischen Ich-platze-vor-Vaterstolz und Ich-bekomme-gleich-einen-Herzinfarkt schwanke.«
»Hm, vielleicht kann ich ihm noch ein paar coole Tipps geben, um deinen Blutdruck anzuregen?«
»Untersteh dich!«
Er sah Kaleos Gesicht vor sich und hörte das verhaltene Lächeln in seiner Stimme. »Dann bis zum Wochenende.«
»Ja, bis dann.«
Elias war erleichtert über den Verlauf des Telefonats. Sie hätten viel früher miteinander reden sollen. Das Gespräch ermutigte ihn außerdem, darüber nachzudenken, wie er heute Nacht Emma unter dem Sternenhimmel seine Gefühle gestehen wollte. Denn er konnte nicht zulassen, dass sie am Samstag zurück nach Deutschland flog und für immer aus seinem Leben verschwand. Es war verrückt, aber er hatte trotz der kurzen Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, das Gefühl, endlich den einen Menschen gefunden zu haben, der ihn verstand und mit dem er sich eine Zukunft und ein gemeinsames Leben vorstellen konnte. War es denn verwunderlich, dass er dieses Leben so schnell wie möglich beginnen wollte? Wie sie das über Ozeane und berufliche Ambitionen hinweg schaffen sollten, konnte er auch noch nicht sagen. Aber wenn sie ebenso empfand wie er, würden sie bestimmt einen Weg finden.
Schwungvoll fuhr Elias eineinhalb Stunden später vor die Garage seiner Mutter, stieg aus und schlug die Autotür zu. Als er sich umdrehte, um zum Eingang zu gehen, kam ihm jemand aus dem Garten entgegen. Ihm fiel fast der Autoschlüssel aus der Hand.
»Emma!«, rief er und starrte sie verblüfft an.
Sie war beim Friseur gewesen und hatte ihr langes Haar radikal kurz geschnitten. Die Frisur brachte ihre schmalen Schultern, den schlanken Hals und ihre schönen Gesichtszüge zur Geltung. Unter dem schräg ins Gesicht fallenden Pony erschienen ihre Augen noch größer, wie die eines Rehs, und Elias war so fasziniert, dass er zunächst gar kein Wort herausbrachte. Erst als sie vor ihm stand und er ihren verlegenen Gesichtsausdruck und die Unsicherheit darin bemerkte, kam er wieder zu sich. Er hatte die langen Haare gemocht. Aber das hier …
»Emma«, wiederholte er mit rauer Stimme, »du siehst einfach unglaublich aus!«