August, 2022
An diesem Mittwochmorgen hatte sich Emma fünf Mal umgezogen, bevor sie ein Outfit gefunden hatte, mit dem sie einigermaßen zufrieden war. Ihre Wahl war am Ende auf eine dunkelblaue Dreiviertel-Hose gefallen, die oben figurbetont geschnitten und unten weit war. Dazu hatte sie ein enges Shirt mit marineblauen Streifen und einem U-Ausschnitt gewählt. Eine halbe Ewigkeit hatte sie anschließend vor dem Spiegel im Bad damit zugebracht, ihre ungewohnte Frisur zurechtzuzupfen und mit ein wenig Stylingcreme in Form zu bringen, wie sie es in dem Tutorial auf ihrem Handy zu dem Haarschnitt gesehen hatte. Dabei war ihr aufgefallen, dass die junge Frau in dem Video einen knalligen Lippenstift trug, und sie beschloss, sich zur Abwechslung auch ein wenig kräftiger zu schminken. Als Elias’ Nachricht einging, dass er seinem Nachbarn das Leben retten müsste, war sie kurz verunsichert gewesen. Doch dann hatte sie ihre Zweifel beiseitegeschoben. Er hätte sie bestimmt nicht gefragt, ob sie sich heute schon von Becky und Jane verabschieden und die restliche Zeit mit ihm verbringen wollte, wenn er ihre Gesellschaft nicht wünschte.
Jane war gleich nach dem Frühstück zu ihrem Ex-Freund Takeshi aufgebrochen, und nachdem Emma ihren Koffer gepackt hatte, half sie Becky beim Tischdecken und Gemüseschneiden und anschließenden Grillen im Garten. Wehmütig blickte sie zum Observatorium und weiter hinaus über das Meer.
»Ich werde dich und das alles hier furchtbar vermissen, Becky«, gestand sie leise.
»Du wirst mich doch hoffentlich wieder besuchen?«
»Natürlich! Und du bist jederzeit von Herzen eingeladen, nach München zu kommen. Ich habe zwar nur eine Wohnung, aber …«
Becky winkte ab, legte die Grillzange beiseite und umarmte sie fest. »Ich besuche dich gerne, und wenn es bei dir zu beengt ist, nehme ich mir einfach ein Hotelzimmer.«
Emma wollte gerade etwas erwidern, als sie von der Straße her Motorengeräusche hörte. Sofort machte ihr Herz einen Satz.
»Das wird Elias sein«, rief sie und eilte ihm entgegen.
Sie war nervös, denn sie wusste nicht, was er von der neuen Frisur halten würde. Tatsächlich starrte er sie sekundenlang an, dann trat ein Leuchten in seine grünen Augen. »Emma, du siehst einfach unglaublich aus«, sagte er, und auf einmal fühlte sie, dass etwas in ihr seinen Platz fand. Seine Worte schienen die letzte Bestätigung gewesen zu sein, die ihr Herz noch gebraucht hatte. Sie war verliebt.
Nein, das traf es nicht annähernd, das war das, was sie in der ersten Zeit gegenüber Michael empfunden hatte. Das, was sie jetzt empfand, war viel intensiver und ging tiefer. Sie liebte. Jede Faser in ihr fühlte sich zu ihm hingezogen, und sie ertrug kaum die Vorstellung, dass sie in drei Tagen von ihm getrennt sein sollte. Oder dass er vielleicht nichts mehr von ihr wissen wollte, wenn sie sich für ihr Kind entschied. Jetzt stand sie ganz dicht vor ihm. Sie hob die Hand. Sie musste ihn einfach berühren, doch gerade als ihre Finger seine Brust erreichten, zuckte sie zurück, weil sie Becky rufen hörte:
»Da bist du ja endlich, Elias! Was gab es denn bei Noah so Dringendes zu tun? Wir müssen uns jetzt mit dem Essen ganz schön sputen, wenn du Emma heute noch das Sonnenteleskop vorführen willst.«
Sie erreichten den Wissenschaftskomplex auf dem Haleakalā tatsächlich erst eine gute Stunde vor Sonnenuntergang. Emma hatte sich eine Fleecejacke übergezogen und sogar eine Mütze und eine weitere Jacke mitgenommen, denn auf über dreitausend Metern Höhe würde die Nacht empfindlich kalt werden. Schon bei ihrem ersten Ausflug auf den Vulkan am vergangenen Wochenende hatte sie das riesige vierzig Meter hohe Gebäude des DKIST, wie die Wissenschaftler das Sonnenteleskop-Observatorium abgekürzt nannten, bewundert. Die Kuppel war nur einen Spalt breit geöffnet, und bevor Emma und Elias den Laborkomplex betreten konnten, mussten sie spezielle Schutzkleidung mit Haube, Handschuhen und Mundschutz überziehen. Die empfindlichen optischen Instrumente durften keinen Staubpartikeln ausgesetzt werden. Zu diesem Zweck sorgte auch ein konstantes Belüftungssystem für eine nahezu staubfreie Umgebung. Beeindruckt starrte Emma auf die riesige weiße Teleskopkonstruktion, die den ganzen Tag über rotierte, um dem Lauf der Sonne zu folgen.
»Als ich Jane das erste Mal von dem Projekt erzählt habe, dachte sie, im DKIST würde es ähnlich wie in Moms Observatorium aussehen, nur ein wenig größer, und man könne mit bloßem Auge durch ein Teleskop mit Schutzfilter direkt in die Sonne schauen«, sagte Elias, und seine Augen über dem Mundschutz glitzerten belustigt.
»Na ja, mit diesen Dimensionen«, Emma deutete mit einer ausholenden Handbewegung um sich, »rechnet vermutlich niemand, der nicht vom Fach ist. Ich gestehe, so krass habe ich es mir auch nicht vorgestellt.« Sie sah nach oben zu der schmalen Öffnung und dem oberen Spiegel des Teleskops mit gigantischen vier Metern Durchmesser. »Wie verhindert ihr denn, dass der Spiegel nicht einfach unter der ständigen Sonneneinstrahlung schmilzt?«
»Eine wassergekühlte Metallblende lässt nur drei Prozent des Sonnenlichts durch, und der Spiegel wird zusätzlich aktiv von der Rückseite mit eiskalter Luft gekühlt.«
»Und das Licht, das dann auf den unteren Spiegel trifft, reicht trotzdem noch für diese ultrascharfen Bilder aus?«, fragte Emma ungläubig.
»Kaum zu glauben, nicht wahr? Der zweite Spiegel muss natürlich auch gekühlt werden. Hier ist die Hitzeentwicklung immerhin noch so groß, dass du eine Tüte Popcorn in drei Sekunden aufploppen lassen könntest.«
Emma grinste. »Gut zu wissen. Ich liebe Popcorn.«
»Süß oder salzig?«
»Natürlich salzig!«
Elias nickte. »Das merke ich mir für unseren nächsten Filmabend.«
Er hatte es bestimmt nur so dahergesagt, aber Emma konnte plötzlich seinen technischen Erläuterungen nur noch schwer folgen.
»Tausendfünfhundert Aktuatoren passen den Spiegel ständig an und …« Was, wenn er wirklich dasselbe für mich empfindet? »… rotiert mit einer Präzision von drei zehntausendstel Grad …« Will er deshalb den morgigen Tag mit mir verbringen, um es mir zu sagen? »… ist geringer als die Dicke eines Haares …« Wie er dann wohl darauf reagieren wird, wenn er erfährt, dass ich schwanger bin? »… verschiedene Wellenlängen korrespondieren mit den unterschiedlichen Schichten der Atmosphäre und …« Ich muss es ihm ja nicht gleich auf die Nase binden, sondern kann erst einmal den Beratungstermin in Deutschland abwarten. »… mit den Spezialkameras, die auf vier Instrumenten am Teleskop befestigt wurden. Magst du das Ergebnis mal sehen?«
»Hm?« Emma schreckte aus ihren Gedanken auf. Elias stand ganz nah bei ihr. Sie blickte über die medizinische Maske in seine grünen Augen, die voller Begeisterung für dieses Wunderwerk der Technik leuchteten. Emma legte ihre Hand so vorsichtig auf seinen Arm, als befürchtete sie, einen elektrischen Schlag zu bekommen. »Wahnsinnig gerne!«
Elias führte sie zu den Monitoren im Labor, wo sie ein Livevideo der Sonne betrachten und verschiedene Einstellungen vornehmen konnten. Goldgelbe bis nahezu weiße Strukturen mit dunklen Rändern zeichneten sich auf dem Bildschirm ab. »Also ich finde, die Sonnenoberfläche sieht ein bisschen wie pulsierende Bienenwaben aus«, bemerkte Emma fasziniert. »Und was ist mit den hellen Flecken hier?« Sie deutete auf einige Bereiche, die sich wie gleißende Adern zwischen den Plasmawaben zu schlängeln schienen.
»Hi, ich bin Asuka. Elias hat uns schon viel von dir erzählt«, hörte sie plötzlich eine Stimme hinter sich. Sie sah auf und drehte sich um. Vor ihr stand eine Frau in ihrem Alter. »Willkommen am DKIST! Gefällt es dir hier?«
»Ja, und wie! Ich bin so glücklich, dass ich die Gelegenheit bekommen habe, mir alles hier anzusehen. Danke!«
»Ach was, wir freuen uns, dass du hier bist. Wie aufregend, dass du Astronautin werden möchtest. Ich liebe den Sternenhimmel seit meiner Kindheit, aber den Mut, zu ihnen zu fliegen, hätte ich nicht.« Sie deutete wieder auf den Monitor. »Die hellen Flecken da sind magnetische Hotspots. Wir vermuten, dass von ihnen energiegeladene Teilchen Richtung Erde schießen können.«
»Als Sonnenwind oder Sonnensturm?«
»Genau. Solange nur Polarlichter dadurch entstehen, können wir uns zurücklehnen und das Schauspiel genießen. Wir versuchen aber, die Sonnenstürme zu erforschen, um bessere Vorhersagen über dramatischere Szenarien wie vereinzelte Stromausfälle oder den totalen Blackout treffen zu können.«
Sie unterhielt sich noch eine ganze Weile mit Asuka und lernte einige andere Kollegen von Elias kennen. Viel zu schnell verflog die Zeit, und sobald die Sonne unterging, verließen sie das DKIST, um zu den kuppelförmigen Gebäuden der beiden Pan-STARRS-Observatorien hinüberzuwandern, von wo aus sie den Sternenhimmel beobachten würden.
Emma trat ins Freie und blieb wie angewurzelt stehen. Der Anblick verschlug ihr den Atem. Wie ein dunkler Scherenschnitt breitete sich die Vulkanlandschaft des Haleakalā vor ihr aus, während der Himmel dahinter von Farben regelrecht geflutet wurde. Dort, wo die Sonne in der Wolkendecke verschwand, die über den Bergkuppen schwebte, gingen hellgelbe Strahlen in ein kräftiges Orangerot über, das sich zu den Seiten hin in purpur- und lilafarbenen Wolkenbänken verlor. Dazwischen färbte sich das Tintenblau des Himmels nachtdunkel. Emma stellte sich an die Brüstung und betrachtete das Schauspiel. Kühler Wind blies ihr ins Gesicht, und im Rücken fühlte sie Elias’ Wärme. Er stand ganz dicht hinter ihr, so nah und doch unendlich weit entfernt, falls sie nicht bald die richtigen Worte fand.
»Schön, nicht wahr? Ich bin jeden Tag, wenn ich Feierabend mache, gefesselt von diesem Anblick. Alle Welt ist verrückt nach dem Sonnenaufgang, in der Früh rücken hier ganze Heerscharen von Touristen an, das wirst du morgen erleben«, sagte er. »Versteh mich nicht falsch, der Sonnenaufgang ist auch toll. Doch die Stimmung abends ist viel intensiver. Und bald werden auch die ersten Sterne am Himmel aufleuchten.«
Emma fühlte seinen warmen Atem in ihrem Nacken, und etwas in ihr zog sich sehnsüchtig zusammen. Sie atmete tief ein.
»Macht es dir was aus, wenn wir noch eine Weile hier draußen bleiben, bevor wir zu dem anderen Observatorium gehen?«
»Nein, gar nicht. Ein bisschen Zeit haben wir. In einer Stunde habe ich in der Lodge unten einen Tisch für uns reserviert. Vor der Sternenbeobachtung möchte ich dich gerne zum Dinner einladen. Wir haben ja noch die ganze Nacht vor uns, und du sollst hinterher nicht sagen, dass ich dich verhungern lasse.«
Sie hatte das Restaurant beim Hochfahren gesehen, es sah teuer aus. Es war wirklich lieb, dass er sie einladen wollte, aber gerade wünschte sie sich nichts mehr, als eine Weile mit ihm ganz allein zu sein. Mit flatterndem Herzen drehte Emma sich um. Sein Gesicht war in das goldene Licht der untergehenden Sonne getaucht, das seinen Augen einen warmen Glanz verlieh. Ein Lächeln umspielte seinen Mund. Sie starrte auf seine Lippen, und plötzlich trieb eine Windbö eine Haarsträhne in seine Stirn. Emma hob die Hand, strich sie ihm aus dem Gesicht, verharrte an seiner Schläfe und ließ ihre Fingerspitzen dann langsam über die Bartstoppeln seiner Wange hinunter zu seinem Hals wandern.
»Ich würde gerade viel lieber mit dir hierbleiben, nur wir zwei allein, und die Sterne über uns.«
Er schluckte schwer und kam noch etwas näher heran. Seine Hände griffen rechts und links von ihr an das Geländer, als wollte er Halt finden oder verhindern, dass sie ihm entkam.
»Was immer du willst, Emma«, flüsterte er, während ihre Hand wie von selbst von seinem Hals in den Nacken wanderte. Emma kam nicht mehr dazu, ihn zu sich heranzuziehen. Im nächsten Moment beugte er sich vor, und seine Lippen trafen ungestüm auf die ihren. Ein Keuchen entfuhr ihrem Mund, als seine Hände das Geländer losließen, ihre Taille umfassten und sie fest an sich zogen. Sein Kuss vertiefte sich, und es war, als hätte sie ihr Leben lang auf diesen innigen Moment gewartet. Hungrig erwiderte sie das Spiel seiner Zunge, schlang die Arme um seinen Nacken und schloss die Augen. Ihr Puls sang in ihren Ohren, und sie verlor sich in dem Geschmack seines Mundes und dem herben Duft seiner Haut. In diesem Augenblick hörten sie Stimmen und die Tür des Observatoriums zufallen, und sie fuhren auseinander. Elias’ Kollegen verließen das DKIST, winkten ihnen zu, und Emma biss sich verlegen auf die Unterlippe.
»Ich habe eine Decke im Jeep«, raunte Elias, sobald sie gegangen waren. »Wenn du magst, können wir uns auch drüben im Visitor Center was zu essen besorgen und uns ein ruhiges Plätzchen hier draußen suchen.«
Sie schmiegte sich zurück in seine Arme. »Viel besser, als zum Dinner in die Lodge hinunterzufahren.«
Es fühlte sich völlig natürlich an, zusammen Hand in Hand zum Auto zurückzugehen, so, als hätten sie das schon immer getan. Emma fragte sich, warum es ihr nie zuvor aufgefallen war, wie angespannt sie in Michaels Gegenwart früher gewesen war, wie sie ständig das Gefühl gehabt hatte, nicht zu genügen, zu viel oder zu wenig zu reden oder etwas Falsches zu sagen, womöglich nicht interessant genug zu sein. Neben Elias fühlte es sich auch gut an, einfach nur zu schweigen und den eigenen Gedanken nachzuhängen, ohne dafür Schuldgefühle zu haben. Sie wünschte so sehr, sie hätte sich früher von Michael getrennt und diese letzte gemeinsame Nacht wäre niemals geschehen. Aber vermutlich musste all das genau so passieren, damit sie sich kennenlernten und sie den Willen aufbrachte, sich von Michael zu trennen. Rasch verdrängte sie den Gedanken an all die schweren Entscheidungen, die ihr noch in Deutschland bevorstanden, und betrat mit Elias kurz vor Ladenschluss das Visitor Center, wo die Mitarbeiter gerade am Aufräumen waren.
Eine Stunde später saßen sie dicht aneinandergeschmiegt in der Nähe eines Felsens unterhalb der Absperrung im Schutz der Dunkelheit auf Elias’ Decke. Sie hatten ihre Jacken angezogen und die Mützen aufgesetzt, dennoch war es empfindlich kalt, und Emmas Finger, mit denen sie das letzte Stück ihres Sandwiches hielt, waren ganz klamm. Elias hatte seinen Arm um sie gelegt, und sie lehnte an seiner Brust.
»Weißt du«, flüsterte er dicht an ihrem Ohr, »du bist mir heute Abend mal wieder zuvorgekommen. Ich wollte dir doch ursprünglich bei einem Candlelight Dinner in der Lodge sagen, dass ich seit Tagen nicht mehr aufhören kann, an dich zu denken und dass ich mich die ganze Zeit frage, wo und wann wir uns nach deinem Urlaub wiedersehen können und ob du das möchtest.«
Emma schluckte den Bissen ihres Sandwiches hinunter und drehte sich zu ihm um. »Ich will am liebsten gar nicht erst abreisen, Elias. Aber ich habe meinen Job und so viel in diese Bewerbung bei der ESA investiert …«
»Natürlich! Ich weiß doch, was dir diese Astronautenbewerbung bedeutet. Versteh das bitte nicht falsch, ich überlege doch nur …«
»Ich weiß.« Sie küsste ihn zärtlich. »Mir gehen auch seit Tagen tausend Gedanken durch den Kopf.« Und einen davon wage ich dir im Augenblick gar nicht zu sagen. »Ich war so glücklich, als du mich gefragt hast, ob ich die letzten beiden Tage mit dir verbringen möchte und dass du extra auch am Freitag Urlaub eingereicht hast. Warten wir doch erst einmal die nächsten Wochen ab. Du weißt noch nicht, ob der Bau des Teleskops in absehbarer Zukunft wieder aufgenommen wird und du dann nach Big Island ziehst. Ich habe keine Ahnung, ob ich die letzten Hürden für die Astronautenauswahl bewältigen kann. Und ich muss daheim eine Menge in Ordnung bringen.«
»Mit deinem Freund?«, fragte er, und seine Stimme klang belegt.
»Mit meinem Ex-Freund, ja. Ich muss klären, ob er die Wohnung behalten will oder auszieht, muss mir vielleicht selbst etwas Neues suchen. Und dann sind da noch einige andere Themen, die ich mit ihm und meinen Eltern durchkauen muss und viel zu lange aufgeschoben habe. Im Grunde hat mir deine Mom den Anstoß dazu gegeben.«
Er lachte leise. »Das kann sie gut.«
Ein grüner Lichtstrahl schoss plötzlich in den nächtlichen Himmel. »Was war das denn?«, fragte Emma verdutzt.
»Sie haben neuerdings ein Lasersystem installiert. Es dient als Hilfe, wenn das Teleskop den Fokus verliert.«
Elias verlagerte sein Gewicht und rutschte auf der Decke nach vorne, sodass sie jetzt im Liegen in den Sternenhimmel schauten.
»Auf dem Haleakalā fühlt man sich wirklich der Unendlichkeit so nah«, murmelte Emma und versuchte, die einzelnen Sternbilder in dem funkelnden Lichtermeer über ihr auszumachen. »Als müsste man nur die Hände ausstrecken und könnte nach den Sternen greifen.«
»Dabei ist der nächste vierzig Billionen Kilometer entfernt, unfassbar weit.«
Emma fühlte, wie die Kälte ihr immer mehr unter die Jacke kroch und sie bereits am ganzen Körper zitterte, aber sie wollte diesen Augenblick mit ihm hier so lange wie möglich auskosten, ihn irgendwie konservieren. Mit jeder Sekunde, die sie mit Elias verbrachte, glaubte sie, ihn noch ein Stückchen mehr zu lieben.
»Wollen wir nicht besser aufbrechen?«, fragte er nach einer Weile und beugte sich über sie.
»Du hast recht.« Seufzend stand sie auf. »Dann zeig mir mal, was die Pan-STARRS-Teleskope zu bieten haben.«
Als sie bei Sonnenaufgang den Haleakalā-Gipfel verließen, lag eine Nacht voller Wunder, Sterne und anregender Gespräche hinter ihnen. Elias lenkte den Jeep die Serpentinen talwärts, und Emma saß nachdenklich neben ihm. Noch nie hatte sie sich darüber Gedanken gemacht, ob es irgendwo auf der Welt einen Sehnsuchtsort für sie gab. Sie hatte ihn immer nur in den Weiten des Weltalls vermutet und jetzt ganz unverhofft auf der Erde gefunden, genau hier, auf dieser kleinen Insel im Pazifik, an der Seite dieses wundervollen Mannes. Wenn sie mit ihm zusammenleben wollte, und das wollte sie irgendwann auf jeden Fall, kam es gar nicht in Frage, dass er zu ihr zog. Sie würde ihm in dieses Paradies folgen, sie musste nur herausfinden, wie sie das möglich machen konnte.
Wehmütig betrachtete Emma die karge Vulkanlandschaft, über der noch der lilafarbene Schleier der Nacht lag, während am Horizont bereits das orangerote Feuer der Sonne aufloderte. Elias hatte recht behalten. Der Sonnenaufgang war traumhaft schön, aber kein Vergleich zu der Atmosphäre am Abend zuvor. Sie musste daran denken, dass sie in dieser Nacht beschlossen hatte, nicht nur Michael von ihrer Schwangerschaft zu erzählen. Sobald sich die Gelegenheit ergab, würde sie Elias einweihen. Sie wollte nicht, dass am Anfang ihrer Liebe eine Lüge stand. Emma dachte an all die vielen Momente, in denen sie Michael nicht gestanden hatte, was sie fühlte, nur weil sie ihre Beziehung nicht hatte gefährden wollen. Auch jetzt verfolgte diese Angst sie wie ein dunkler Schatten. Was, wenn Elias nach ihrem Geständnis sofort einen Rückzieher machte? Aber wenn sie es nicht einmal versuchte, wie konnte sie dann jemals wissen, ob seine Liebe auch Krisen und schwierige Entscheidungen überstehen würde?
Nebelbänke lagen über der Straße und erschwerten die Sicht. Sie sah aus der Seitenscheibe und entdeckte oben am Hang die eigentümlichen hellgrauen Stacheln einer Silberschwertpflanze. Das erinnerte sie an ihre gemeinsame Wanderung. Sofort sammelten sich wieder die Tränen in ihren Augen. Oh, diese verdammten Hormone! Sie wollte nicht gehen.
»Müde?« Elias’ Stimme riss sie aus ihren Gedanken und sie wandte den Kopf. Er tastete nach ihrer Hand und drückte sie, während er einhändig die nächste Kurve nahm. Emma lächelte und blinzelte die Tränen fort.
»Ein bisschen«, gab sie zu und musste wie zur Bestätigung gähnen. Grinsend hob er die Augenbrauen, ohne die Fahrbahn aus den Augen zu lassen. »Okay«, korrigierte sie sich, »sehr müde. Aber glücklich und traurig zugleich, weil ich bald all das hier zurücklassen muss. Ich weiß gar nicht, wie ich das beschreiben soll. Zu viel Input?«
Jetzt lachte er und sah kurz zu ihr hinüber. Es waren nur Sekunden, in denen aber seine Augen so viel Zärtlichkeit ausstrahlten, dass ihre Brust ganz eng wurde.
»So fühlt sich gerade mein Herz an, Emma. Viel zu viel Input für einen nüchternen Wissenschaftler wie mich.«
Elias drehte den Kopf zurück, gleißendes Licht flackerte plötzlich über sein Gesicht, und schlagartig gefror das Lächeln auf seinen Lippen. Mehrere Dinge geschahen gleichzeitig. Aus dem Augenwinkel nahm Emma wahr, dass die Nebelbank vor ihnen aufriss. Die tiefstehende Morgensonne goss ihre Strahlen über die Fahrbahn, und etwas Dunkles bewegte sich mit rasender Geschwindigkeit direkt auf sie zu. Elias zog seine Hand von ihr weg und riss in der nächsten Sekunde das Lenkrad herum. Emma wurde in den Sitz gepresst und zur Seite geschleudert. Sie schrie auf, spürte, wie ihr der Gurt in die Schulter schnitt, und im nächsten Moment erschütterte ein Schlag den Jeep. Sie hörte das Kreischen von Metall, und ihr Oberkörper wurde nach vorne katapultiert. Etwas Weißes prallte so brutal auf ihr Gesicht, dass sie glaubte, ihre Nase brechen zu hören, Panik raubte ihr den Atem. Blut sammelte sich in ihrem Mund, sie sah Sterne vor den Augen, und alles drehte sich. Eiseskälte packte sie mit einer Wucht, als die Welt sich zur Seite neigte und nur noch aus Klirren, metallischem Scheppern, einem Schleifen und aufheulenden Motorengeräuschen bestand. Der widerliche Gestank von Rauch und verbranntem Gummi ließ sie würgen. Emma wusste nicht mehr, wo oben oder unten war, der Jeep bewegte sich immer weiter und kam einfach nicht zum Stehen. Ein gellender Schrei sirrte in ihren Ohren. Dann wurde ihr Körper zurückgeschleudert, und sie krachte mit dem Hinterkopf gegen etwas Hartes. Ein gleißender Schmerz schoss in ihrem Nacken die Wirbelsäule hinunter, ihr Magen verkrampfte sich, und die roten Flecken auf dem weißen Gebilde vor ihr versanken wie Blutstropfen im Schnee. Sie sah dunkle Schatten unscharf an den Rändern aufziehen, und dann war alles um sie herum in unendliche Finsternis getaucht.