6.
École nationale supérieure de la police, Saint-Cyr-au-Mont-d’Or, Rhône, Februar 1994
»Commissaire Buron hat Ihnen mal wieder den Hintern gerettet, Capestan. Keine Ahnung, warum, vielleicht gefällt er ihm. Aber bei mir kommen Sie damit nicht durch. Ein Befehl ist ein Befehl, und dem haben Sie Folge zu leisten.«
»Nur nach pflichtgemäßem Ermessen. Befehle können, genau wie Ihre Andeutungen, unangemessen sein.«
Ihre Antwort war weder unverfroren noch schüchtern. Mit knapp neunzehn Jahren war Anne Capestan bei Weitem die Jüngste ihres Jahrgangs, und trotz ihrer herausragenden Leistungen in beinahe allen Bereichen hatte sie in Sachen Diplomatie und geschickter Verpackung noch einiges Entwicklungspotenzial, das wusste sie und warf es sich auch oft vor, aber nie besonders lange. An diesen Kompetenzen konnte sie später in aller Ruhe arbeiten. Das Verhalten von Serge Rufus, dem unsympathischsten ihrer Ausbilder, ließ einem ohnehin wenig Handlungsspielraum: Entweder man akzeptierte die völlige Unterwerfung, oder man lehnte sich auf, einen Mittelweg gab es nicht.
Sie durchquerten gerade den Park der Schule in Richtung
der großen Einfahrtstore. Beim Anblick der schier endlosen Grünfläche, die sich vor ihnen ausbreitete, suchte Capestan fieberhaft nach einem Vorwand, um diesem lästigen Gespräch zu entfliehen.
»Mir gefällt Ihr Ton nicht, Capestan. Ich bin nicht Ihr Mathelehrer in der 5b, ich lasse mir nicht von den frechen Gören aus der hintersten Reihe auf der Nase herumtanzen!«
Der letzte Satz allerdings verhallte ungehört. Für Anne Capestan existierte Serge Rufus nicht länger. Am anderen Ende der Grünfläche, umleuchtet von der Sonne, die plötzlich texanische Kraft hatte, war ein Halbgott erschienen, in einem dicken marineblauen Rollkragenpullover und einer Carhartt-Jacke. Er kam direkt auf sie zu, und auf seinem und ihrem Gesicht breitete sich synchron ein Lächeln aus, das schon jetzt wie über jeden Zweifel erhaben war. Als der Halbgott nur noch einen Meter von ihr entfernt war, hielt er an. Sie hielt an. Serge Rufus hielt an.
»Hallo, Papa«, sagte der Halbgott.
»Paul. Was treibst du hier?«, erwiderte der Commissaire unwirsch.
Der Sohn des Ekels. Die Neuigkeit wirkte wie eine kalte Dusche, und Capestans Lächeln erstarb. Doch der glühende Blick von »Paul« ließ auch den letzten eisigen Tropfen verdunsten. Paul. Er streckte seinem Vater ein zusammengefaltetes Blatt Papier hin.
»Dein Spitzel wollte mir seinen Namen nicht verraten. Scheint dringend zu sein, eine Versammlung.« Er drehte sich zu Capestan. »Aber bei dem liebenswürdigen Empfang gebe ich das hier wohl besser deiner Kollegin.«
Capestans Schlagfertigkeit war wie weggeblasen. All ihre Synapsen waren mit Endorphinen verstopft. Sie konnte
weder sprechen noch reagieren, geschweige denn dachte sie daran, den Zettel entgegenzunehmen. Ihr Gehirn hatte eine ganze Galaxie verschlungen und stand still vor Verblüffung. In einer kurzen Sekunde, auf die sie seit neunzehn langen Jahren wartete, hatte sie sich verliebt, in einen Angeber mit dem Gesicht eines Engels, einen überirdischen, lichten, schattenlosen Aufschneider, dessen Ego farbenfroher schillerte als das Rad eines Pfaus.
Serge Rufus stoppte seinen Sohn mitten in der Bewegung. Capestan bemerkte das Aufblitzen der Angst in Pauls Augen, das instinktive Zurückweichen, den angespannten Kiefer. Und plötzlich lief ihr Verstand wieder auf Hochtouren. Schluss mit lustig. Serge Rufus war ein Schläger, und sein Sohn wusste das nur allzu gut.