8.
Ab der Fontaine des Innocents war die allzeit belebte Rue Saint-Denis mit Secondhandläden und Sneakergeschäften gepflastert, die einen Großteil der Sexshops vertrieben hatten. Nur ein paar Neonschilder waren zurückgeblieben, wie um den Schein zu wahren und auch weiterhin die Touristen und die Sonntagmorgengaffer anzulocken, die das täglich Brot einbrachten. Eva Rosière und Louis-Baptiste Lebreton überquerten gerade mit langen Schritten die Rue de Turbigo und erreichten den zum 2. Arrondissement gehörenden Teil der Straße, wo die Etablissements nach und nach kleinen Hipsterrestaurants wichen. Wollte man zum Quartier Montorgueil, konnte man eine Abkürzung über die Passage du Grand-Cerf nehmen. Die kürzlich renovierte Passage verfügte über eins der höchsten Glasdächer der Pariser Passagen und bot Boutiquen Zuflucht, deren Ladenschilder in Form von Elefanten, Nasenfahrrädern und Pappmacheekrabben einen für einen kurzen Moment in eine andere Zeit entführten. Lebreton liebte diesen Ort. Sein Lebensgefährte Vincent hatte hier ein winziges Architekturbüro gehabt. Damals, in der glücklichen Zeit, als er noch gelebt hatte.
Die hübsche Weihnachtsdekoration und die festlichen Lichterketten entzündeten schmerzhafte Feuer in der Erinnerung des Commandants. Dieses Weihnachten würde sein erstes als Witwer sein. Die vorfreudige Erregung, die ringsum allmählich zu vibrieren begann, wollte ihn mitreißen, während er die Fersen in den Boden stemmte, um den Dezember nicht zu erreichen. Am liebsten wäre er direkt zum Januar übergegangen, ins neue Jahr gekrochen wie ein Schiffbrüchiger am Strand, der sich die ersten Meter des Festlands hochschleppt. Hätte mit dem Winter weitergemacht, ohne mit zusammengebissenen Zähnen abertausend Festmähler zu ertragen. Aber nein, zuerst musste er die Hauptsaison der Selbstmorde durchstehen, bevor er wieder normal leiden durfte, in seinem eigenen täglichen Rhythmus.
Ein himmlisches Licht fiel an diesem sonnigen Spätherbstmorgen durch das gewaltige Glasdach und tauchte die Passage in eine friedliche Atmosphäre. Nur das Geräusch ihrer Schritte auf den schwarz-weißen Fliesen und die gedämpften Stimmen der vereinzelten Besucher durchdrangen die Stille. Schließlich erreichten die Polizisten den Laden, den Dax ihnen genannt hatte. Er war geschlossen, obwohl der Lieutenant extra die Öffnungszeiten überprüft hatte.
»War ja klar«, schnaubte Rosière. »Das hat Dax ja toll hinbekommen.«
Lebreton studierte das Ladenschild.
»Nicht schlimm, sie machen in einer Viertelstunde auf.«
Mit einem »Hmpf!« wandte Rosière sich den anderen Schaufenstern zu.
»Guck mal, sind die Kissen da nicht hübsch?«, fragte sie und steuerte entschlossenen Schritts auf das Geschäft gegenüber zu.
Das Glöckchen über der Tür klingelte, und Louis-Baptiste Lebreton folgte seiner Partnerin mit einem stummen Seufzer.
Ein paar Minuten später kamen sie wieder heraus, Lebreton mit zwei dicken Plastiktüten voll bunter Sofakissen in der Hand, und konnten gerade noch einem kleinen Mädchen ausweichen, das auf seinem Roller vergnügt die traumhafte Rennstrecke entlangschoss. Seine Mutter weit hinter ihm hob nur träge den Arm, in einem halbherzigen Versuch, es zu bremsen. Schmunzelnd betraten die beiden Polizisten das Gut bestrumpft , das der Inhaber soeben geöffnet hatte.
Er empfing sie mit einem breiten, falschzahnigen Lächeln unter einem schmalen, sorgfältig geformten braunen Schnurrbart. Der Laden verkaufte nur Socken, und jeder Kunde war gern gesehen, vor allem solche mit prall gefüllten Taschen. Capitaine Rosière zeigte ihm ihren Dienstausweis.
»Guten Tag, Monsieur, wir sind hier, um Sie – hoffentlich – zu Ihrem guten Gedächtnis zu beglückwünschen. Vor ungefähr einem Monat haben Sie ein Paket von persorigolo.com angenommen. Ein emailliertes Straßenschild. Ziemlich schwer und ungefähr so groß«, erklärte sie und hielt die Hände etwa einen halben Meter weit auseinander. »Erinnern Sie sich zufällig noch an die Person, die es abgeholt hat?«
Der gerissene Verkäufer setzte eine geheimnisvolle Miene auf.
»Hm, nun ja … das ist lange her. Wahrscheinlich bräuchte ich eine Kleinigkeit, die meinem Gedächtnis auf die Sprünge hilft.«
Ungläubig starrte Rosière ihn an und brach in schallendes Gelächter aus.
»Ich werd nicht mehr … Der Opi im Jacquardpulli hält da s hier für Starsky & Hutch . Der will uns ein paar Scheine abknöpfen! Tja, so was würde sich heutzutage keine Serie mehr trauen, und ich weiß, wovon ich rede. Nein«, fuhr sie fort, nachdem sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel gewischt hatte, »Sie kommen jetzt lieber schnell Ihrer Bürgerpflicht nach, sonst mache ich einen auf Starsky und drohe damit, die Bücher dieses Schuppens mal genauer unter die Lupe zu nehmen.«
Empört, dass man seinen völlig legitimen Versuch so ins Lächerliche zog, wandte sich der Verkäufer an Lebreton, als sollte jener das Unrecht bezeugen, das ihm gerade widerfuhr. Der Commandant schlüpfte routiniert in die Rolle des guten Cops, der respektvoll an den klugen Geist appelliert und ihm die Möglichkeit gibt, seine Würde wiederherzustellen.
»Meine Partnerin hat Sie falsch verstanden, bitte entschuldigen Sie. Außerdem übertreibt sie gern«, sagte er und warf Rosière einen Blick zu, der sie bat, Öl auf die Wogen zu gießen. »Ich persönlich finde, Sie wirken wie ein Mann, dem jedes Detail auffällt. Aber natürlich brauchen Sie einen Moment, um Ihre Erinnerung zu ordnen, das ist doch selbstverständlich. Geben Sie uns einfach Bescheid, sobald Sie bereit sind.«
Damit holte Louis-Baptiste Lebreton ein Notizbuch und einen Kugelschreiber aus der Tasche und wartete mit todernster Miene. Er hoffte, dass sein kleines Manöver ausreichen würde, um Rosières Heiterkeitsausbruch wettzumachen. Die bebenden Lippen seiner Partnerin verrieten, dass sie nur mühsam ihren Lachkrampf unterdrückte. Wenn sie den Mann noch mehr kränkten, würde der überhaupt nichts mehr sagen, und sie hatten keinerlei Mittel, ihn dazu zu zwingen. Also würden sie zwar – zumindest die eine Hälfte ihres Teams – mit grinsendem Gesicht, aber leeren Händen von dannen ziehen.
Glücklicherweise presste der Ladeninhaber die Finger an die Stirn, wie um sein Erinnerungsvermögen zu unterstützen. Commandant Lebreton hatte ihm ein ehrenhaftes Hintertürchen geöffnet, und er schien geneigt, diesen Gefallen in Informationen zu vergüten.
»Ja, da war ein Mann. Eher dunkelhaarig, normale Größe und Statur. Eine Brille mit starken, viereckigen Gläsern. Dichter Bart und ein Vokuhila, wie sie in den Achtzigern in Mode waren.«
»Trug er eventuell eine Perücke? Und einen falschen Bart? Aber das hätten Sie sicher erkannt.«
Der Mann schüttelte energisch den Kopf.
»Nein, der Bart war echt und die Haare auch.«
»Ihre Beschreibung ist sehr präzise und sehr wertvoll. Würden Sie vielleicht im Kommissariat vorbeikommen, damit wir ein Phantombild anfertigen können?«
Bei diesem Ruf der Pflicht richtete der Ladeninhaber sich stolz auf.
»Natürlich. Ich schließe um 16 Uhr, danach habe ich Zeit.«
»Wunderbar, haben Sie vielen Dank«, sagte Lebreton und riss eine Seite aus seinem Notizbuch, auf die er die Adresse geschrieben hatte. »Dann bis später.«
Er fasste seine Partnerin am Ellbogen, um ihr zu signalisieren, dass sie aufbrachen. Eva Rosière hatte sich zu den Sockenregalen gedreht, um ungesehen vor sich hin grinsen zu können.