9.
Ein paar Stunden später betrat Évrard das kleine Büro, in dem Dax zusammen mit dem Zeugen am Phantombild arbeitete. Die beiden nahmen ihre Anwesenheit gar nicht wahr.
»Die Augen größer oder kleiner?«, fragte der Lieutenant, die Hand an der Maus.
»Ein bisschen größer. Aber er hatte eine dicke Brille auf, das ist immer trügerisch.«
Der Verkäufer sprach unnatürlich langsam, so als würde er Dax für den größten Idioten aller Zeiten halten. Man spürte, dass er das Ganze so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte.
»Ungefähr so, Monsieur? Können wir dann mit der Nase weitermachen?«
Dax war freundlich und zuvorkommend, wie eigentlich immer. Er gab sich Mühe. Kaum war Évrard allerdings um den Schreibtisch herumgegangen und hatte einen Blick auf den Bildschirm geworfen, konnte sie die Zurückhaltung des Zeugen verstehen. Als gute Blufferin verzog sie keine Miene, während sie den Lieutenant um Aufklärung bat.
»Findest du dieses Programm vertrauenswürdiger?«
Voll auf seine Zeichnung konzentriert, antwortete Dax, ohne die Augen vom Bildschirm zu lösen: »Wir haben die Software für Phantombilder nicht genehmigt bekommen, die kostet anscheinend eine Stange Geld. Also habe ich mir einfach hier ein Konto angelegt, die ersten zwanzig Level sind gratis. Ganz ehrlich, das passt doch, oder? Richtig präzise!«
Évrard legte den Kopf schief, um sich eine ehrliche Meinung zu bilden, und räumte schließlich bereitwillig ein: »Das passt auf jeden Fall.«
Im Wohnzimmer überflog Capestan unterdessen den Artikel aus La Provence .
»Unglaublich! Das kann kein Zufall sein.«
»Nein«, pflichtete Orsini ihr bei, »dafür sind sich die Fälle zu ähnlich. Und liegen zeitlich zu dicht beieinander.«
Das Vorgehen bei der Ermordung dieses Jacques Maire in L’Isle-sur-la-Sorgue entsprach dem bei Serge Rufus in allen Punkten. Sie mussten diesen Fall sofort genauestens unter die Lupe nehmen und den Zusammenhang zwischen den Opfern finden.
Als Orsini Commissaire Capestan den Artikel gezeigt hatte, hatte sie gerade die Akten der beiden Verdächtigen durchgesehen, die die BRI in Gewahrsam hatte. Die Waffe, mit der Serge Rufus erschossen worden war, war auch beim Mord an einem Hehler vor ein paar Jahren verwendet worden. Damals waren die Männer vernommen und wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Capestan konnte keine konkrete Verbindung zu Rufus entdecken, aber, so dachte sie verärgert, sie hatte bestimmt nicht alle Dokumente.
Orsinis Artikel änderte alles. Ein quasi identisches Verbrechen in der Provence stellte die gesamte bisherige Ermittlung auf den Kopf, und mit einem Mal verfügte ihre Brigade über die entscheidende Information. Was sollten sie damit anfangen? Sie den anderen Brigaden mitzuteilen wäre nicht nur fair, sondern auch verantwortungsvoll, immerhin ging es hier um Mord. Dazu kam das nicht zu vernachlässigende Vergnügen, die Konkurrenz ein paar Minuten lang von oben herab behandeln zu können. Schweigen würde ihnen allerdings einen Riesenvorsprung verschaffen. Verlockend. Was also tun? Diament benachrichtigen? Buron? Commissaire Capestan hatte noch kaum richtig darüber nachgedacht, als ihr Telefon schrillte, der Festnetzanschluss mit dem wütenden Klingelton. Das war sicher Buron. Er wusste um die Materialausstattung der Brigade und nutzte diese schamlos, um Capestan vor seiner Gardinenpredigt in die unterlegene Position zu versetzen. Mit einer Kopfbewegung entschuldigte sie sich bei Orsini, der in sein Büro zurückkehrte, um den neuen Spuren weiter nachzugehen.
Es war tatsächlich der Directeur.
»Capestan, haben Sie sich ohne Ermächtigung der Staatsanwaltschaft in die Seite eines Onlineshops gehackt und Ihre Spuren nicht verwischt?«
»Äh … das ist leider nicht ausgeschlossen«, erwiderte sie mit einem Blick in Richtung Dax’ Schreibtisch.
»Nicht ausgeschlossen, nicht ausgeschlossen – haben Sie die Anweisung dazu gegeben oder nicht?«
»Die Seite zu hacken? Natürlich. Ich hatte nur gehofft, dass es unauffälliger vonstattengeht.«
»Na, das nenne ich mal die Tragweite seines Handelns erkennen und seine Fehler eingestehen. ›Ich hätte nicht gedacht, dass ich erwischt werde‹, das klingt wie ein dahergelaufener Kleinkrimineller!«
»Ein wenig«, gab Capestan lächelnd zu.
»Gegen Sie wurde Beschwerde eingereicht. Was Sie herausgefunden haben, kann nicht vor Gericht verwendet werden.«
»Legen Sie sie auf den Stapel mit den anderen. In der Zwischenzeit … wir sind da auf eine interessante Fährte gestoßen. Das Straßenschild, das über die gehackte Seite bestellt worden ist, bringt den Mord an Rufus mit dem an einem anderen Mann im Vaucluse in Verbindung. Gleiche Vorgehensweise.«
Diese Information ließ Burons Verärgerung in den Hintergrund rücken.
»Soll heißen?«
Capestan fasste den Inhalt des Artikels aus La Provence zusammen und berichtete auch über ihre Fortschritte in Sachen Straßenschild. Sie konnte förmlich hören, wie die grauen Zellen des Directeurs am anderen Ende der Leitung arbeiteten.
»Wie haben Sie von dem Fall erfahren? Die Provence liegt nicht gerade um die Ecke, so etwas dringt normalerweise nicht bis zu uns durch.«
»Orsini sammelt Zeitungen.«
»Stimmt, das hatte ich vergessen.«
»Wir sind dabei, ein Phantombild zu erstellen. Ich hatte vor, Lieutenant Diament zu benachrichtigen, sobald es fertig ist.«
»Nein. Noch mal, dieses Phantombild wurde unrechtmäßig erlangt, nachdem Sie eine Seite gehackt haben. Es erscheint mir wenig sinnvoll, die Ermittlungen aller Brigaden in Mitleidenschaft zu ziehen. «
»Und was ist mit der Verbindung zu diesem anderen Fall? Behalten wir die Info auch für uns, oder spielen wir nach den Regeln?«
»Hm, ja … die BRI und die Kriminalbrigade sind an anderen Aspekten des Falls dran und kommen gut voran. Graben Sie erst mal allein weiter, damit wir die Kräfte nicht zerstreuen.«
»Monsieur le Divisionnaire?«
»Commissaire?«
»Sagen Sie es mir gleich, oder soll ich raten, wie beim letzten Mal?«
Sie sah Burons Grinsen beinahe vor sich.
»Da gibt es nichts zu raten, Capestan, es geht nur darum, andere Fährten und Methoden zu erwägen. Die BRI hält das Ganze im Moment für einen klassischen Gangsterfilm und rückt keinen Millimeter von ihrer Verfahrensweise ab. Ihre schrägen Vögel bringen ein bisschen frischen Wind in die Sache.«
»Meine schrägen Vögel, wie Sie es ausdrücken, haben …«
»Ja, ja, ich weiß, ich weiß. Übrigens kriegen Sie morgen noch einen Neuen.«
»Einen Neuen?«
»D’Artagnan. Der ist am Wochenende aus der Psychiatrie entlassen worden. Seine Akte haben Sie schon bei der Gründung der Brigade bekommen.«
D’Artagnan. Eigentlich Henri Saint-Lô, aber alle nannten ihn D’Artagnan, weil er sich für unsterblich erachtete, für einen Zeitreisenden aus grauer Vorzeit, der früher ein Musketier des Königs gewesen war.
Nachdem Capestan aufgelegt hatte, ging sie in die Küche, um sich einen Tee zu machen. Während das Wasser heiß wurde, gesellte sie sich zu Louis-Baptiste Lebreton auf die Dachterrasse. Der Commandant saß rauchend auf einem Liegestuhl, die langen Beine überkreuzt, und las den Autopsiebericht.
»Was Neues?«
»Nichts, was wir uns nicht schon gedacht haben. Nur eine genauere Eingrenzung der Tatzeit: zwischen sechs und sechs Uhr dreißig. Und ja, er ist wirklich vermöbelt worden. Mit den Fäusten und dem Griff einer Pistole. Ein oder zwei Personen.«
Ein Quieken erregte ihre Aufmerksamkeit. Es stammte von Merlots Ratte, die zu ihrem Futternapf neben dem Lorbeerbusch huschte. Die beiden Polizisten beobachteten, wie sie an ein paar Körnern knabberte. Mit einer sanften Bewegung schnippte Lebreton die Asche seiner Zigarette in den Aschenbecher zu seinen Füßen. Bevor er den nächsten Zug nahm, stellte er nüchtern fest: »Es hätte auch ein Schwein sein können.«
Capestan betrachtete den Nager.
»Stimmt, da sind wir noch ganz gut davongekommen«, gab sie zu, ehe sie das Thema wechselte.
»Gleich morgen früh berufe ich eine Brigadenversammlung ein. Orsini hat einen Fall aufgestöbert, in dem der Mörder genauso vorgegangen ist wie bei Rufus. Er sucht gerade nach weiteren Informationen, dann besprechen wir uns. Der Zeitungsartikel liegt im Wohnzimmer, falls du ihn dir schon mal anschauen willst.«
»Natürlich. Sobald ich hiermit fertig bin«, erwiderte Lebreton und wedelte mit dem Autopsiebericht.
Mit einem dampfenden Becher in der Hand kehrte Anne Capestan an ihren Schreibtisch zurück. Sie kramte die Akte des berühmt-berüchtigten Musketiers hervor, schaltete ihre Schreibtischlampe ein und fing an zu lesen.
Sie war so in ihre Lektüre vertieft, dass sie gar nicht hörte, wie Dax herantrat. Um sich bemerkbar zu machen, klopfte der Lieutenant, in Ermangelung einer Tür, auf die Schreibtischplatte. Anschließend streckte er ihr mit geschwellter Brust ein Dokument hin.
»Das Phantombild ist fertig, Commissaire.«
»Vielen Dank, Lieutenant«, sagte Capestan.
Doch ihr Lächeln erlosch schnell wieder. Der Mann auf dem Phantombild war zwar tatsächlich dunkelhaarig und mittelgroß und trug Bart und Brille, darüber hinaus aber auch ein langes grünes Fell, einen Schild und ein Schwert. Capestan deutete nur mit dem Zeigefinger darauf und bedachte Dax mit einem scharfen Blick.
»Ach ja, nein, das war nur ein Scherz, für Évrard«, druckste der. »Das ist aus World of Warcraft
»World of Warcraft
»Na ja, wir haben keine Phantombildsoftware genehmigt bekommen, deswegen habe ich die Charaktererstellung von World of Warcraft benutzt. Das ist ein Onlinespiel, heroische Fantasy. Das kennst du doch bestimmt, oder? Da gibt es Elfen, Orks und Gnome … Man kann sich superdetaillierte Charaktere zeichnen. Und weil der Ladeninhaber nicht mehr wusste, was der Kerl anhatte, habe ich gedacht, es wäre doch lustig … Okay, ich mache den Körper noch mal. Aber keine Ahnung, ob ich bei World of Warcraft eine Hose und ein Hemd finde.«
»Die haben dir die Software verweigert?«
»Ähm, ja.«
Innerlich schäumend vor Wut über diesen Geiz und vor allem diese erneute Beleidigung, schaute Commissaire Capestan sich das Phantombild noch einmal genauer an. Der Stil der Zeichnung erinnerte natürlich an ein Computerspiel, aber das Ergebnis war erstaunlich realistisch. Dax überraschte sie immer wieder.
»Das war eine geniale Idee, Lieutenant. Wirklich toll, bravo!«
Dax wuchs vor Stolz ein paar Zentimeter und wollte schon an seinen PC zurückkehren.
»Eine Sache noch … Als du persorigolo.com geknackt hast, hast du da deine Spuren beseitigt?«
»Nö. Das hast du auch nicht verlangt.«
»Stimmt, stimmt, ich habe es nicht ausdrücklich dazugesagt. Gut, dann also für die nächsten Male, insbesondere die Telefonabrechnungen: Verschleiere alles. Immer. Das ist ab jetzt das Standardvorgehen.«
»In Ordnung, wird notiert«, erwiderte Dax und notierte tatsächlich »Alle Hackingspuren beseitigen« auf ein Post-it, das er an den Rahmen seines Bildschirms klebte.
So was würde einen tollen Eindruck hinterlassen, wenn eins der hohen Tiere ihnen irgendwann einen Besuch abstattete.