15.
Alexis Velowski stellte das Tablett mit der noch gefalteten Zeitung auf seinen Nachttisch. Er schüttelte die beiden weichen Kopfkissen auf und platzierte sie sorgfältig am Kopfteil des Betts. Dann zog er seine Hausschuhe aus und schlüpfte wieder unter die Bettdecke für sein Morgenritual: das Zeitungsfrühstück. Er liebte diesen Moment des Friedens, in diesem Zimmer mit den freiliegenden Balken an der Decke, den dicken Mauern und dem kleinen Fenster, durch das man einen Fetzen Himmel und ein Stückchen Kirchturm sehen konnte. Die Scheibe war beschlagen, wie um ihn daran zu erinnern, wie viel schöner er es hier drinnen hatte. Nach langen traumatischen Jahren hatte er sich endlich eine gewisse innere Ruhe errungen, zerbrechlich, aber erholsam.
Er trank einen Schluck Tee und biss in sein Brot. Anschließend faltete er gemächlich die großen Blätter des Lyoner Progrès auseinander.
Zuerst überflog er die Nachrichten aus Frankreich und der Welt, machte einen Abstecher zum Fernsehprogramm und gönnte sich noch einen Bissen, bevor er die Seiten mit den Todesanzeigen in Angriff nahm.
Die dritte Anzeige ließ ihn erstarren. »In tiefer Trauer nimmt der Verein der Erinnerungspflege Abschied von seinem Mitglied Alexis Velowski, das brutal aus seiner Mitte gerissen wurde. Die Beerdigung findet am 8. Dezember in der Église Saint-Paul statt. Von Kranz- und Blumenspenden der nicht vorhandenen Freunde bitten wir abzusehen.«
Kalter Schweiß tränkte seinen Pyjama. Der 8. Dezember war heute. Alexis drehte sich zu seinem Wecker. Sechs Uhr siebenundzwanzig.
Er musste handeln, und zwar schnell. Die Angst überwinden, die ihn ans Bett fesselte, sich bewegen. Schnell.
Angetrieben von einem jähen Adrenalinschub, der heiß durch seine Muskeln jagte und sein Gehirn auf Touren brachte, sprang er auf. Methodisch vorgehen. Rucksack.
Ganz hinten im Schrank fand er den ultraleichten schwarzen Nylonrucksack und stopfte zwei T-Shirts, zwei Unterhosen, den Schlüssel und das Manuskript hinein.
Dann eilte er ins Badezimmer und warf aufs Geratewohl Toilettenartikel in seinen Kulturbeutel. Wenn er bis zur nächsten Dusche überlebte, würde er das Fehlende nachkaufen. Er schlüpfte in eine schwarze Hose, Socken, seine Turnschuhe und zog einen Pulli über sein Schlafanzugoberteil. Schnell.
Den Rucksack in der Hand, riss er seinen Parka von der Garderobe. Eher reflexartig als bewusst steckte er sich ein paar Quality-Street-Konfekte in die Tasche, ehe er aus der Wohnung hastete und die Tür hinter sich zufallen ließ. Erst nachdem er im Laufschritt die ersten Stufen überwunden hatte, fiel ihm auf, dass er sich nicht einmal Zeit für einen letzten Abschiedsblick durch sein Zuhause genommen hatte.
Plötzlich schoss ihm die Adresse der Beerdigung durch den Kopf. Église Saint-Paul.
Er wohnte gegenüber. Direkt gegenüber .
Mit klopfendem Herzen blieb Alexis auf dem Treppenabsatz stehen. Bis zur Haustür waren es noch zwei Stockwerke. Das Blut pochte ihm in den Ohren, im Takt der Sekunden, die verstrichen. Er konnte nicht hierbleiben, zu gefährlich. Aber er konnte auch nicht nach draußen, zu gefährlich.
So wenig Risiko wie möglich eingehen. Was sollte er tun?
Sein Überlebensinstinkt drängte ihn zur Tür, zur Flucht. Aber das war nur der Reflex eines Neandertalers, eines Tiergehirns, keine Entscheidung.
Alexis war heiß. Im Lyoner Winter. An einem 8. Dezember. Das Lichterfest. Die Heilige Jungfrau Maria würde heute nur Augen für die Millionen Kerzen haben, die ihr zu Ehren angezündet wurden, nur das vielstimmige Gebet der Bewohner ihrer Stadt hören, nicht das Flehen eines armseligen Sünders um ihre unendliche Gnade. Er würde ohne ihre Vergebung sterben.
Nicht heute. Er durfte nicht heute sterben. Es war noch viel zu früh. Das Licht ging aus. Er starrte in den düsteren Abgrund, in den die Stufen der Treppe stürzten. Er musste weiter, da runter, Kopf voraus.
Nach kurzem Zögern schaltete er das Licht wieder an, lauschte kurz und eilte dann weiter.
Auf dem letzten Absatz kauerte er sich zusammen und sondierte durch das Geländer die Eingangshalle. Die Mülleimer waren rausgebracht worden, die Nische hinter den Briefkästen war leer. Von seinem Posten aus gab es keinen toten Winkel. Die Eingangshalle war sicher. Sechs Uhr dreiundvierzig.
Brachte man so früh schon jemanden um?
Vielleicht war er noch gar nicht aufgestanden.
Das war seine Chance.
Er musste hier raus, jetzt !
Alexis knetete die Riemen seines Rucksacks. Seine Fäuste schienen für ihn zu denken, sie wollten den Rucksack loswerden. Verstecken? Ja. Ja, das war die beste Lösung. Ihn verstecken. Im Stromzählerschrank, das dauerte nicht lange, und der Ableser war erst letzte Woche da gewesen. Aber nicht in dem in der Eingangshalle, das war zu offensichtlich. In dem im ersten Stock. Der war auch größer, ein altes, umgebautes WC . Hastig rannte Alexis zurück nach oben, öffnete den Reißverschluss, holte den Schlüssel heraus, machte den Rucksack wieder zu und stopfte ihn ganz hinten in den Schrank, links neben den Zähler. Dann lauschte er erneut. Nichts.
Er stieg die Treppe hinab, zog leise die schwere Eingangstür seines Mietshauses aus der Renaissancezeit auf und ließ den Blick über die friedliche Place Gerson schweifen, über die Autos, die unter den nackten Bäumen geparkt waren, das Kopfsteinpflaster und die Mauern der kleinen Kirche. Rechts, ein paar Meter erhöht, der Zaun vor den Bahngleisen, die von der renovierungsbedürftigen Gare Saint-Paul zu den grünen Vorstädten im Westen von Lyon führten. Wenige Züge, kaum Lärm. Das Café-Théâtre, das einzige Geschäft in der Nähe, das über seiner Außentreppe thronte, würde nicht vor dem Abend munter werden. Bis dahin war Alexis allein auf diesem vergessenen Platz. Er sah niemanden, also brach er auf.
Die Tür fiel schwer hinter ihm ins Schloss.
»Hallo, Alexis.«
Velowski zuckte zusammen und fragte sich, ob dieser Schmerz in seiner Brust von einem Herzinfarkt herrührte. Er versuchte, ein erfreutes Gesicht aufzusetzen.
»Ich habe dich schon erwartet. Ich habe alles aufgehoben. Du kannst es haben.«
»Ich weiß, Alexis.«