16.
Zu dieser morgendlichen Stunde, nach den letzten Streifen der Nacht und vor der vollen Betriebsamkeit des Tages, dümpelte das Flaggschiff der Kriminalpolizei in ruhigen Gewässern. Nur ein paar Männer waren an Bord, und die Stille regierte mit fester Hand, nutzte die wenigen Minuten, die ihr noch blieben. Die Kaffeemaschine spuckte schon die ersten Becher aus, die von müden Händen mechanisch ergriffen und durch die verwaisten Gänge getragen wurden. Auch Anne Capestan gönnte sich einen Becher, bevor sie sich Buron stellte. Sie wusste, dass er die Akten aus den Archiven nicht so leicht herausrücken würde, vor allem nicht die aus Lyon. Der Directeur würde keinen Gefallen einfordern, nur um ihrer Brigade die Arbeit zu erleichtern, besonders für einen Fall, der so gut wie gelöst war. Das Kommando Abstellgleis sollte nicht stören, sondern nur gelegentlich aushelfen, und zwar diskret.
Trotzdem öffnete Buron ihr mit einer patriarchalen Geste und einem aufrichtigen Lächeln die Tür. Nach den üblichen Begrüßungsfloskeln bot er ihr einen Stuhl an und nahm selbst hinter seinem Schreibtisch Platz.
»Und, wie geht es Ihrem neuesten Rekruten, D’Artagnan? Immer noch unsterblich? «
»Na ja, eigentlich ist er nicht unsterblich, sondern ein Zeitreisender.«
»Ach, das ist natürlich etwas ganz anderes«, erwiderte Buron unter schallendem Gelächter und hob ein paar Dokumente an.
»Ja, das ist es tatsächlich, denn es heißt, dass er direkt aus dem siebzehnten Jahrhundert gekommen ist, ohne die anderen Jahrhunderte zu durchleben. Anscheinend ist er eines Tages einfach im Jahr 1982 aufgewacht.«
»Ich sehe schon«, sagte Buron, gab seine Suche auf und faltete die Hände auf der Schreibtischplatte, »es geht ihm sehr viel besser.«
Capestan begnügte sich mit einem Schulterzucken. In Henri Saint-Lôs Augen lag manchmal die Sehnsucht eines Vertriebenen, die kein Land der Welt stillen konnte. Selbst wenn er nicht aus dem siebzehnten Jahrhundert kam, zeigte er alle Symptome. Er war allein, fehl am Platz, fehl in der Zeit, ohne Freunde oder Familie, die ihn an die Realität banden. Das war seine Wirklichkeit.
Für einen Bullen gestand Commissaire Capestan der Wahrheit nur wenig Gewicht zu. Wenn ein Mann ihr sagte, er sei eine Frau, glaubte sie ihm, wenn ein zwanghafter Lügner sich das Leben mit Fantasiegespinsten schönredete, hörte sie ihm zu, und wenn ein ehemals Gefeierter seine alten Bewunderer heraufbeschwor, beglückwünschte sie ihn. Die Richtigstellung der Fakten war völlig überflüssig, solange man nur mit den Stiefeln der Vernunft auf den Träumen anderer herumtrampelte und dann ungerührt von dannen stapfte wie das letzte Arschloch.
»Vielleicht ist er tatsächlich durch die Zeit gereist«, erwiderte Capestan nachdenklich .
Ein überraschter, beinahe empörter Ausdruck huschte über Burons Gesicht, doch er fasste sich wieder und musterte Capestan beherrscht. Er konnte ihre Logik nie ganz nachvollziehen, das nagte an ihm.
»Typisch«, bemerkte er mit einer Handbewegung, die diese belanglose Frage verscheuchte. »Jetzt aber mal im Ernst, Capestan, was führt Sie zu mir? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«
Von diesem Moment an würde der Directeur nur noch Nein antworten, systematisch.
»Die Verbindung zwischen Rufus und Melonne dürfte irgendwann Anfang der Neunzigerjahre entstanden sein. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch daran erinnern, aber bevor Rufus zur BRI gekommen ist, hat er in Lyon gearbeitet und übrigens auch in Saint-Cyr unterrichtet …«
»Ja, dunkel. Und weiter?«
»Ich würde gerne die Lyoner Archive einsehen, seine Fälle von damals. Das ist bestimmt ein ordentlicher Berg, aber wenn in irgendeiner Akte der Name Melonne auftaucht …«
»Ernsthaft, Commissaire? Sie wollen, dass ich in Lyon anrufe, um einen Gefallen bitte und damit der gesamten örtlichen Führungsriege etwas schulde, nur damit Sie aufs Geratewohl Tausende von Akten nach einem Namen durchblättern können?«
»Ja, ernsthaft, Monsieur le Divisionnaire, das würde ich sehr zu schätzen wissen.«
»Sie ärgern mich doch absichtlich, Commissaire.«
»Nichts liegt mir ferner.«
Buron unterdrückte ein Lächeln und zog seinen Notizblock heran, nahm einen Füllfederhalter zur Hand und notierte sich ihre Bitte .
»Na schön. Das entscheide ich nach Lust und Laune. Sonst noch was?«
»Ohne Ihre Großzügigkeit überstrapazieren zu wollen …«
»Wie nett von Ihnen.«
»Nicht wahr? Wenn der Fall für die BRI und die Kriminalbrigade abgeschlossen ist, hätte ich gerne die Dokumente, die sie für ihren Eigengebrauch zurückgehalten haben: aktuelle Kontoauszüge und dergleichen. Und Rufus’ Antigang-Akten. Alle, wenn es keine Umstände macht, damit wir jeder Spur nachgehen können.«
»Mhm«, brummte Buron und kritzelte weiter.
»Eins noch: Straßenschild, Kriegerdenkmal … Wenn Ihnen in nächster Zeit noch mehr ungewöhnliche Morde begegnen, könnten Sie mich benachrichtigen.«
Buron nickte.
»Darauf bin ich auch von allein gekommen, stellen Sie sich vor. Aber im Moment gibt es nichts zu melden«, sagte er in abschließendem Tonfall, stützte die großen Hände auf die Tischplatte und stand auf.
Capestan erhob sich ebenfalls. Während er sie zur Tür begleitete, kam sie noch einmal auf das Thema Henri Saint-Lô zurück.
»Wissen Sie eigentlich, dass seine Einstellung auf 1612 datiert ist?«
»Ja. Seine Personalakte ist bei einer Versetzung in den Achtzigerjahren verloren gegangen, und jedes Mal, wenn er nach seinem ersten Posten gefragt wurde, lautete seine Antwort ›Musketier des Königs‹. Eines Tages hat sich wohl irgendein Witzbold einen Scherz erlaubt und es eingetragen, und seither …«
Buron verzog das Gesicht und schob sich die Brille auf den Kopf. »Die unergründlichen Mysterien des Behördenwesens haben den Rest erledigt.«
»Er kassiert mit Sicherheit eine gepfefferte Alterszulage.«
Das Lächeln des Divisionnaires gefror, als er die Summe überschlug. Als guter Betriebswirtschaftler fand er nur die Witze lustig, die nichts kosteten. Capestan musste sich jedoch keine allzu großen Sorgen um Saint-Lôs Gehalt machen. So einflussreich und manipulativ Buron auch war, bestimmte Personalverwaltungsapparate konnte auch er nicht in die Knie zwingen.
Ein blinkendes Lämpchen meldete einen eingehenden Anruf. Mit zwei Schritten war der Divisionnaire zurück an seinem ausladenden Schreibtisch, hob den Hörer ab und drückte auf einen Knopf. »Ja?«
Er lauschte ein paar Sekunden, dann warf er Capestan einen Blick zu.
»Er wurde gerade erst gefunden? … Gut. Bitte holen Sie mir den Präfekten von Rhône ans Telefon. Er ist ein Freund von mir, ich muss ihn um einen Gefallen bitten. Vielen Dank, bis gleich.«
Der Divisionnaire legte auf und schaute Capestan mit den hochgezogenen Augenbrauen eines Mannes an, der es gerne spannend macht.
»Sie wollten Lyon und etwas Ungewöhnliches, Commissaire. Voilà: zwei zum Preis von einem.«