17.
Ein neuer Mordfall, dieses Mal in Lyon. Die Kompassnadel hatte recht gehabt. Buron hatte einen »Freundschaftsbesuch« für sie arrangiert. Sie hatten schnell reagieren müssen. Anne Capestan und José Torrez waren mit dem ersten TGV
aufgebrochen und hatten es Louis-Baptiste Lebreton überlassen, die Abreise der übrigen Brigade zu organisieren. Sie hatten nur zwei Tage, um Nachforschungen über diesen Fall anzustellen und ihn mit den beiden anderen zu vergleichen, also brauchten sie ausreichend Personal.
Auf dem Bahnsteig hatten Capestan und Torrez die Hotels abtelefoniert und nur Spott geerntet. Ein Zimmer? Am 8. Dezember? Da müsste man ja für sie eine Kerze anzünden. Die Stadt war mit Millionen von Besuchern überschwemmt. Irgendwann hatten sie vier Zimmer aufgetrieben, und Lebreton würde es weiter versuchen.
Ein Taxi brachte sie von der Gare de la Part-Dieu bis zur Place Gerson und ließ sie direkt neben der Kirche aussteigen. Eine plötzliche Nostalgie verwandelte Capestans Magen in einen Knoten. Sie atmete tief ein, zwang sich, die vertrauten Fassaden zu betrachten, um sich wieder zu beruhigen, und bezahlte den Fahrer. Torrez war nervös, weil er neuen Kollegen begegnen würde, potenziellen Opfern, auf die sein
berüchtigtes Pech abfärben könnte, und wartete steif neben ihr, bis sie ihren schwarzen Mantel zugeknöpft und sich den Henkel ihrer großen Lederhandtasche auf die Schulter geschoben hatte. Die Hände in der Lammfelljacke vergraben, die Wanderstiefel wie am Boden festgewachsen, schien ihr Partner sich ohne sie keinen Zentimeter bewegen zu wollen. Sie schaute ihn an und lächelte.
»Gehen wir. Buron hat uns Ungewöhnliches versprochen.«
Sie schlüpften unter dem Absperrband hindurch, ohne dass irgendwer ihre Ausweise sehen wollte. Als sie auf die geschäftige Gruppe von Polizisten rund um die Leiche zugingen, zerstreute die sich, wich zurück, formte sich neu, wie ein Sardellenschwarm vor dem Maul eines Hais. Torrez’ Schatten versetzte sie in Angst und Schrecken.
»Du bist eine richtige Berühmtheit, José«, raunte Capestan ihrem Partner zu.
»Dafür habe ich auch keine Mühen gescheut«, scherzte der Lieutenant, doch seine Stimme strafte ihn Lügen.
»Mach dir nichts draus. Zumindest haben wir so genug Platz, um uns umzuschauen.«
Bevor sie den Tatort erreichten, bog Capestan kurz ab, um ihren Lyoner Kollegen zu begrüßen. Torrez blieb wie angewurzelt stehen, eine Kompassnadel, die alles in ihrem Umkreis Befindliche leerfegte.
»Guten Tag. Ich bin Commissaire Capestan, wir …«
»Ja, guten Tag, Sie wurden uns schon angekündigt. Commissaire Pharamond«, erwiderte der Mann. Er war um die fünfzig und hatte graues, ungekämmtes Haar, aber einen wachen Blick, obwohl er von Sirenen und Blaulicht unsanft aus dem Schlaf gerissen worden war
.
Sie schüttelten einander herzlich die Hand. Pharamond deutete auf die Leiche, die auf einem freien Parkplatz ruhte.
»Nach den ersten Erkenntnissen wurde er erwürgt. Meiner Meinung nach heute am frühen Morgen, denn bis die Clubs auf dem Quai schließen, sind alle Parkplätze hier belegt.«
Capestan lächelte. »Das nenne ich Ortskenntnis!«
Pharamond nickte spöttisch. »Er hatte sein Portemonnaie dabei. Das Geld war noch da. Alexis Velowski. Er hat direkt in diesem Haus hier gewohnt. Die Nachbarn haben uns das Stockwerk verraten. Er hatte keine Schlüssel bei sich. Der Schlüsseldienst hat uns die Wohnungstür geöffnet, und da haben wir dann die Zeitung mit seiner Todesanzeige gefunden.«
»Keine Schlüssel?«
»Nein, und die Tür war nur zugezogen. Ein Schlüsselbund steckte von innen … Entweder hat er ihn vergessen, oder er hatte noch einen zweiten, und der Mörder hat ihn mitgenommen.«
»Wenn er die Todesanzeige gelesen hat, war er bestimmt in Eile.«
»Ja. Wobei, immerhin hatte er genug Zeit, um Schokolade einzustecken«, bemerkte Pharamond belustigt.
Das weckte Capestans Neugier. Sie kehrte zu Torrez zurück, um ihn zum Weitergehen zu bewegen, und gemeinsam näherten sie sich dem Leichnam. Die anderen Polizisten stoben fluchtartig auseinander wie Kümmelblättchenspieler beim ersten Warnpfiff.
Der Tote war um die sechzig, schlank und ziemlich unscheinbar. Seine schwarze Hose war gut geschnitten, wahrscheinlich teuer, genau wie Kaschmirpulli und Parka. Unter dem Pulli war ein Pyjamaoberteil zu erkennen. Insgesamt ein Outfit, dem man die Hast ansah
.
Das aufgedunsene Gesicht hatte sich blau verfärbt, das linke Ohr blutete, und die Augen waren mit roten Flecken übersät. Der weit aufgerissene, wie vergeblich nach Luft schnappende Mund war bis zum Rand mit Quality-Street-Konfekt gefüllt. Die Farbexplosion der grün, blau, orange- und rosafarben glänzenden Einwickelpapierchen wirkte unangemessen fröhlich in diesem makabren Stillleben.
Wie immer gebot der Anblick des Unabänderlichen, des grausamen Todes einen Moment des Schweigens. Nach einer Minute bewegte Torrez unbehaglich die Schultern.
»Die rosafarbenen schmecken nicht, da ist irgendeine weiße Zuckermasse drin … Ich mag die mit Kokos lieber, aber ich weiß nicht mehr, welche Farbe die haben.«
»Blau. Die mit Kokos sind die blauen«, antwortete Capestan, während sie weiter das seltsame Arrangement betrachtete.
Man hatte buchstäblich den Eindruck, dass der Mann an Konfekt erstickt war. Wenn es sich um den gleichen Täter wie bei Rufus und Melonne handelte, hatte er dieses Mal auf die Schusswaffe mit Schalldämpfer verzichtet. Weil er dieses Opfer besonders hasste und es eigenhändig hatte töten wollen oder aus Vergnügen an der entwürdigenden Inszenierung?
Dieser Mann war nicht geschlagen worden. Er hatte nicht zum Reden gebracht werden müssen, sei es, weil er nichts wusste, was den Mörder interessierte, oder weil er alle Informationen widerstandslos rausgerückt hatte.
Commissaire Pharamond kam auf sie zu, und instinktiv wich Torrez in das nächste Gässchen zurück. Capestan wartete auf ihren Lyoner Kollegen.
»Wenn Sie hier fertig sind, würden die Jungs den Leichnam jetzt abtransportieren. Wir müssen noch in die
Wohnung, Spuren sichern, Fotos schießen, die Nachbarn befragen, das übliche Pipapo. Dauert bestimmt den ganzen Tag. Aber wenn Sie wollen, bringe ich Ihnen danach den Schlüssel und gebe den Kollegen wegen der Versiegelung Bescheid, dann können Sie sich ein eigenes Bild machen.«
»Ah ja, vielen Dank, das wäre wirklich praktisch. Bei der Befragung der Nachbarn treffen Sie wahrscheinlich auch auf meine Leute, die Fotos herumzeigen.«
Pharamond schwieg einen kurzen Moment. Er dachte nach.
»Was sagten Sie noch mal, zu welcher Brigade Sie gehören?«
»Einer Außenstelle des Quai des Orfèvres«, erwiderte Capestan ungeniert.
»Der Quai des Orfèvres! Den Namen müsste man ja fast in Großbuchstaben schreiben, oder? Der berühmte Quai des Orfèvres.«
Capestan ahnte, dass er gleich die alte Leier über die Pariser anstimmen würde, und daran war sie nicht unschuldig. Sie hatte ihre Dankbarkeit nicht besonders überschwänglich zum Ausdruck gebracht. Obwohl die BRI
und die Kriminalbrigade sich ständig bei allem sträubten, hatte sie das uneingeschränkte Angebot zur Zusammenarbeit ihres Kollegen so selbstverständlich angenommen, dass es schon fast an Überheblichkeit grenzte. Ein beschämendes Verhalten. Sie korrigierte unverzüglich ihren Kurs.
»Ja, es gibt mehr als genug Kollegen, die sich für lebende Legenden halten«, gab sie lächelnd zu. »Vermutlich hat man Ihnen die Gründe für unsere Anwesenheit nicht mitgeteilt?«
»Nicht genau, nein. Anscheinend könnte dieser Fall mit einem anderen in Verbindung stehen, aber es gibt nicht
genug stichhaltige Beweise, um uns mit Einzelheiten zu belasten, die am Ende keinerlei Bewandtnis haben. Man will uns nicht von unseren eigenen kleinen Fällen ablenken.«
»Verstehe.«
Capestan hatte die Wahl: Sie konnte entweder mit einer platten Entschuldigung auf dieser Schiene bleiben oder von der Parteilinie abweichen und Commissaire Pharamond das gleiche Vertrauen erweisen, das er ihr entgegenbrachte. Die zweite Option erschien ihr sowohl netter als auch klüger. Wenn sie ihm die Namen der anderen Opfer verriet, würden auch die Lyoner ihre Informationen viel bereitwilliger teilen, falls das Gemetzel, wie Capestan vermutete, seinen Ursprung tatsächlich in einer alten Geschichte hier aus der Gegend hatte.
Der unerschütterliche Pharamond ließ sie in aller Ruhe nachdenken und schien mit einem abschlägigen Bescheid zu rechnen. Trotzdem drängte er sie nicht, versuchte nicht zu verhandeln. Capestan öffnete ihre Handtasche und zog einen Umschlag heraus, der die wichtigsten Unterlagen zu den Fällen Rufus und Melonne sowie die Fotos und das Phantombild enthielt. Sie überreichte ihn ihrem Lyoner Kollegen, der angenehm überrascht eine Augenbraue hob.
»Ganz inoffiziell und mit der Bitte um äußerste Diskretion. Diese beiden Fälle ähneln vom Vorgehen her Ihrer Todesanzeige im Progrès
. Die Opfer sind der Commissaire im Ruhestand Serge Rufus aus Paris und ein Möbelfabrikant aus L’Isle-sur-la-Sorgue, der sich Jacques Maire genannt hat, aber eigentlich Jacques Melonne hieß.«
»Die Morde wurden auch in der Zeitung angekündigt?«
»Nein, auf einem Straßenschild und einem Kriegerdenkmal. Der Mörder ist ein Sadist, der seinen Opfern Angst
einjagen will und seine Taten sorgfältig plant. Aber er hat keine festen Rituale, es geht ihm eher ums Vergnügen. Wir tendieren zu einer Vergeltung, die zu lange vor sich hin geschwelt hat. Er hat Rufus brutal verprügelt, Melonne schon weniger und diesen Mann hier überhaupt nicht, zumindest dem ersten Blick nach zu urteilen.«
»Die haben schneller geredet als ein Bulle.«
»Ja, das haben wir uns auch gedacht. Aber vielleicht blendet uns unser Stolz.«
»Vielleicht. Vielen Dank für die Informationen, Commissaire. So vergeuden wir hoffentlich keine Zeit. Sollte ich in irgendeiner Akte auf die Namen der beiden anderen Opfer stoßen, hätten Sie vermutlich nichts dagegen, wenn ich Ihnen Bescheid gebe?«
»Das kann ich natürlich nicht verlangen, aber wenn Sie es so freundlich anbieten …«
Pharamond nickte, und er und Capestan verabschiedeten sich mit einem weiteren Handschlag. Dann eroberten die Techniker von der Spurensicherung den Tatort und dieses seltsame Opfer zurück, Torrez kam aus seinem Gässchen heraus, und die beiden Pariser Polizisten verließen den Platz in Richtung Saône.
Quai de Bondy. Eine neue Sturmbö der Nostalgie erfasste Capestan beim Anblick der farbenfrohen Häuser. Die Lyoner Architektur erstrahlte in allen Nuancen des florentinischen Ockers. Links ragte der Croix-Rousse-Hügel auf, umarmt vom mächtigen Fluss. Auf der gegenüberliegenden Uferseite erhob sich der Fourvière aus dem Quartier Renaissance bis hin zu seiner Basilika, die, dem Himmel so nah, den höchsten Punkt der Stadt bildete.
Auf diesem charmanten, ramponierten Quai hatte Capestan
ihre schönsten Jahre als junge Erwachsene verbracht. Während ihrer Ausbildung an der Polizeischule von Saint-Cyr-au-Mont-d’Or hatte sie hier in einem alten, für das Viertel typischen Mietshaus gewohnt: dicke Mauern, verzogene Türen, kein Aufzug, von Bewohnern aus zahllosen Jahrhunderten abgetretene Treppenstufen, schwere Fensterläden mit großen Holzlamellen, die man entweder für immer offen oder für immer geschlossen halten musste, und ein Blick auf die Saône, bei dem man nie wieder vom Fenster wegwollte.
Anne Capestan hätte stundenlang davorstehen können, Tag und Nacht, ohne sich je an der Schönheit dieser Stadt sattzusehen. Vor allem am 8. Dezember, wenn die Fenstersimse sich mit Tausenden tanzenden Flammen brüsteten. Die Familien verließen ihre Wohnungen, um ihre eigene Stadt zu besichtigen. Die Kinder waren so überdreht von diesem nächtlichen Ausflug, dass sie immer zwei, drei Meter vorausrannten, bis an die Grenze der elterlichen Toleranz, zwischen den Menschenschlangen hindurch, die geduldig vor den dampfenden Merguezwürstchenwagen warteten. Und überall an den Fassaden dieses Licht aus einem anderen Jahrhundert, das, schon lange bevor das Fest zu einem groß angelegten Touristenereignis geworden war, strahlend den Winteranfang verkündet hatte.
Während einer dieser vielen Nächte, die sie mit der Nase an der Fensterscheibe verbracht hatte, hatte sie eine Erleuchtung gehabt. Auf dem Bürgersteig gegenüber hatte sie Paul gesehen, wie er niedergeschlagen mit seinem Farbeimer von dannen gezogen war. Da hatte sie gewusst, dass es immer nur ihn geben würde, ihr ganzes Leben lang.