21.
»Gibt es in Ihrem Gefängnis irgendjemanden, der bereit ist, mit mir zu reden, oder muss ich erst persönlich vorbeikommen? Und ich warne Sie, ich bin Lieutenant Torrez, am anderen Ende der Telefonleitung bin ich Ihnen lieber. Ja, ich warte. Immer noch.«
Genervt ließ Torrez das Mikro seines Headsets los und griff nach dem Bügeleisen. Er knallte die dampfende Unterseite mit einer solchen Wucht auf den Hemdkragen, dass das ganze Brett wackelte. Seit über einer Stunde reichte man ihn jetzt schon von einem Büro zum nächsten durch, und allmählich verlor selbst er, der normalerweise so gelassen und hartnäckig war, die Geduld. Bei den Hemden machte er auch keine Fortschritte, und das bereitete ihm Sorge. Es war nicht mehr lange hin.
Max Ramier war nicht wegen guter Führung vorzeitig entlassen worden. Er hatte seine gesamte Strafe abgesessen und bei den Hofgängen Angst und Schrecken verbreitet. Nur wenige Insassen hatten seine Freundschaft gewonnen und noch weniger sein Vertrauen. Er war ein aggressiver Mann mit ebenso plötzlichen wie unvermittelten Wutausbrüchen. Der Knastfunk hatte nicht viele Infos gesammelt, außer dass er nie irgendeine versteckte Beute erwähnt hatte. Er warf nicht mit Geld um sich, und er wiederholte auch nicht immer die gleiche Leier, schmiedete keine Rachepläne, sprach von keiner Lektion, die er erteilen würde. Was ihn von seinen Räuberkollegen unterschied, die oft die unglaubwürdigsten, nur mit Blut zu begleichenden Rechnungen diskutierten und die ganze freie Menschheit für ihr schreckliches Schicksal verantwortlich machten. Ramier handelte, anstatt zu reden, ein Original.
Da der Knastfunk nur weißes Rauschen produzierte, konzentrierte Torrez sich auf die Gefängnisverwaltung. Er brauchte Ramiers Adresse. Die aus der Überfallakte war schon seit Jahren nicht mehr aktuell, der Gefängnisaufenthalt hatte zur fristlosen Kündigung geführt, da Ramier keine Miete mehr bezahlt hatte. Aber er hätte nicht aus der Strafvollzugsanstalt Lyon-Corbas entlassen werden können, ohne einen Wohnsitz anzugeben, und sei es nur vorübergehend. Und er hatte zwangsläufig einen Bewährungshelfer. Genau diese Infos ließen auf sich warten.
Schon wieder eine Falte im Ärmel. Torrez stellte seufzend das Bügeleisen ab. Er würde es nie schaffen. Es klopfte, drei kurze Schläge. Capestan.
»Herein!«
Sie öffnete die Tür mit einem breiten Lächeln, wie meistens. »Was Neues aus dem Kittchen?«
Torrez lieferte ihr eine Zusammenfassung der Lage.
»Sehr gut«, erwiderte sie. »Klingelst du kurz durch, sobald du Bescheid bekommst?«
Der Lieutenant nickte. Seine Chefin hatte keine Bemerkung über die improvisierte Bügelstation verloren. Sie war so unaufdringlich, dass es manchmal schon an Desinteresse grenzte. Torrez wusste es besser. Commissaire Capestan hatte die Angewohnheit, Sorge, Schmerz und Wut für sich zu behalten. Sie teilte nur Freude und Begeisterung, überzeugt, dass man ihr den Rest nicht anmerkte. Auch wenn ihre offene, direkte Art alles zu zeigen und nichts zu verbergen schien, gab sie in Wahrheit kaum etwas über sich preis. Doch obschon Torrez sie noch immer nicht durchschaut hatte, kannte er sie allmählich ganz gut. Irgendetwas beschäftigte sie. Ein Problem schwirrte in ihrem Kopf herum, er konnte es förmlich sehen. Sie würde es ihm sagen, wenn die Zeit reif war. Sie hatte ihre Gründe für ihr Schweigen. Torrez zweifelte nie an seiner Partnerin. Capestan zog leise die Tür hinter sich zu. Das Handy des Lieutenants vibrierte. Endlich! Sein angedrohter Besuch trug Früchte.
Anne Capestan kehrte ins Wohnzimmer zurück. Eigentlich hatte sie vorgehabt, sich ihrem Partner anzuvertrauen, aber Torrez hatte seine Aufgabe, und sie wollte ihn nicht ablenken. Sie wanderte schon den ganzen Tag ziellos im Kommissariat herum, lief hierhin und dorthin, wie um dem unausweichlichen Anruf der Obrigkeit zu entfliehen, dem Telefongespräch, das ihnen den Fall entziehen würde. Oder einer Frage, die sie zu einer Antwort, einer Entscheidung zwingen würde.
Dax tippte unterdessen den Namen Max Ramier in jedes erdenkliche Suchfeld im Internet ein. Immer wenn er den Kopf hob und das Post-it mit der Aufschrift »Alle Hackingspuren beseitigen« las, murmelte er: »Ach ja«, und hämmerte erneut auf seine Tastatur ein. Nach vier Stunden hatte er schon drei Namensvettern aufgespürt, alle völlig nutzlos, aber ordentlich dokumentiert.
Capestan setzte sich an ihren Schreibtisch und schaltete die große cremefarbene Schreibtischlampe ein. An diesem grauen Tag spendete die Sonne bereits am frühen Nachmittag nicht mehr genug Licht. Capestan versuchte, sich auf den warmen Schein zu konzentrieren, als Louis-Baptiste Lebreton herantrat.
»Hat Diament die Banküberfallakte schon bekommen?«
»Nein. Lyon hat die Dokumente nicht weitergeleitet, und ich hatte heute noch keine Zeit, ihn selbst anzurufen …«
»Wir müssen ihm Bescheid geben, Anne, sonst sieht es aus, als würden wir Informationen unterschlagen. Es sieht nicht nur so aus, wir tun es auch. Das ist ganz schlechter Stil und außerdem gefährlich.«
Capestan zog ein Papiertaschentuch aus der Box und wischte den Teerand weg, den ihre Tasse auf der Schreibtischplatte hinterlassen hatte.
»Na ja, ihre Ergebnisse haben uns auch nicht gerade mit Überschallgeschwindigkeit erreicht.«
»So ist das Spiel, Anne. Was gewinnen wir denn mit dieser Aktion? Einen Tag, vielleicht zwei? Immerhin sitzt ein Kerl in Untersuchungshaft. Das verschafft ihm ein ziemlich gutes Alibi für den Mord in Lyon, und da alle drei Verbrechen miteinander in Verbindung stehen … Sie müssen ihn auf freien Fuß setzen.«
Lebreton hatte natürlich recht. Irgendwann würde die Akte sowieso im Quai des Orfèvres landen. Nur dass er nicht alle Fakten kannte. Er hatte diese eine Seite nicht gelesen. Capestan warf das Taschentuch in den Papierkorb zu ihren Füßen.
»Nein.«
»Anne …«
Sie zögerte. Sie hatte die instinktive Vorsicht ihm gegenüber nie ganz abgelegt. Zu Unrecht. Wenn jemand in ihrem Team fähig war, nüchterne und durchdachte Entscheidungen zu treffen, dann war es der Commandant. Sie musste ihn einweihen, damit er es verstand. Seine Meinung wäre wertvoll.
Vorsichtig holte sie ein Dokument aus der untersten Schublade ihres Schreibtischs.
Im Fall Minerva tauchten nicht nur die Namen der drei Opfer auf, sondern auch noch ein anderer.
»Hier, lies das. Das gehört zur Akte. Ich werde es ihnen nicht geben, aber sie können es sich leicht selbst beschaffen. Und ich glaube, hier zählt jede gewonnene Minute. Aber sag mir, was du darüber denkst. Ganz unten, bei den Namen der Opfer.«
Die Frau und der Junge, die in Velowskis Büro getötet worden waren, hatten den Nachnamen Orsini getragen.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, murmelte Lebreton und starrte das Dokument an.
Die Rachevermutung, ihre bisherigen Erkenntnisse … das hier warf ein neues Licht auf den gesamten Fall. Oder eher einen neuen Schatten.
Warum hatte Orsini nichts gesagt? Ihm musste doch klar gewesen sein, dass sein Name irgendwann auftauchen würde.
Wofür wollte er Zeit schinden?
Und vor allem: Hatte er sich damit zufriedengegeben zu ermitteln, oder hatte er gemordet?
Es klingelte. Lebreton schaute Capestan an. Sie wussten beide, dass Lieutenant Diament vor der Tür stand. Sie mussten schnell reagieren, sich jetzt entscheiden. Lebreton gab seiner Chefin das Dokument zurück .
»In deiner Schublade war es gut aufgehoben. Soll ich mich um Diament kümmern?«
Capestan schüttelte den Kopf. Die schmutzigen Tricks musste sie selbst ausführen. Sie griff nach der manipulierten Akte und ging zur Tür.
Lieutenant Diaments massige Gestalt füllte den Rahmen. Er wirkte ausgesprochen verärgert. Die Verbindungen zwischen den Brigaden waren abgerissen, und das gefiel dem dafür Verantwortlichen ganz und gar nicht.
»Sie haben hoffentlich etwas für mich?«
»Selbstverständlich. Ich wollte Sie eben anrufen.«
»Nein, wollten Sie nicht.«
Mit Lieutenant Diament konnte man dieses Spiel nicht spielen, dafür fehlte es ihm an Leichtigkeit. Und an Lust. Er nahm die Akte an sich und blätterte die Seiten mit dem Daumen durch.
»Ist sie vollständig?«
»Natürlich. Warum? Bekommen wir von Ihnen etwa unvollständige Akten?«
Capestan ihrerseits war eine Profispielerin.
Diament zeigte nicht den Hauch eines Lächelns, keinen Anflug von Bedauern, keine Spur Fair Play. Erst als er ihr schon den Rücken zugedreht hatte, ließ er sich zu einem »Auf Wiedersehen, Commissaire« herab, das nichts als eine Formsache war.
»Vergessen Sie nicht, Ihren armen Verdächtigen freizulassen«, rief Capestan ihm hinterher, während er in den Aufzug stieg.
Diese kleine Provokation hatte sie sich nicht verkneifen können. Sie standen wieder in den Startlöchern. Das Rennen der Brigaden begann von Neuem. Und dieses Mal durften sie nicht verlieren. Ein Kollege stand auf dem Spiel.
Und diesen Kollegen würde sie bald mit den Tatsachen konfrontieren müssen. Aber zuerst waren da noch ein paar Kleinigkeiten zu überprüfen …
Eva Rosière saß in einem Clubsessel am Fenster des Spielzimmers. Sie war beinahe am Ende des Manuskripts angelangt. Sie hatte es in einem Rutsch durchgelesen, um zuerst den Sinn der Geschichte zu erfassen. Eine Art viktorianische Sittenkomödie à la Jane Austen. Der Schauplatz und die Figuren hatten nichts mit dem Banküberfall und dem Trauma, das er ausgelöst hatte, gemein. Doch irgendetwas stieß Rosière auf, ein unbestimmtes, unterschwelliges Gefühl. An sich war der Roman keinen Pfifferling wert – die Szenen passten nicht zusammen, die Reaktionen waren unglaubwürdig. Das alles wirkte wie das Werk eines Stümpers, aber gleichzeitig schien jede Seite, jeder Satz eigentümlich durchdacht, ganz bewusst gesetzt. Velowski wollte ihnen etwas mitteilen, ohne es auszusprechen, hoffte, dass man ihn verstand, ohne sich dessen sicher sein zu können. Er hatte das Durcheinander in seiner Birne direkt in die Tastatur unter seinen Fingern fließen lassen. Man musste sich die Zeit nehmen, es zu entwirren. Immerhin hatte er dieses Manuskript, und nur dieses Manuskript, eingesteckt, als er geflohen war. Das hieß schon etwas, auch wenn Autoren grundsätzlich an ihren Texten hingen wie an ihrem Nesthäkchen. Na schön. Jetzt würde sie richtig loslegen, in den Schriftstellermodus schalten und hinter die Erzählung blicken. Auf einen A3-Fotokarton zeichnete sie eine Tabelle und beschriftete die Zeilen und Spalten: Name, Ziele, Mittel, Interaktionen, charakteristische Züge .
Sie rückte gerade ihre Lesebrille zurecht, als Lewitz den Kopf durch die Tür steckte. »Torrez hat der Chefin was Neues geschickt, falls du kommen willst …«
»Bin gleich da«, grummelte sie.
Pilou machte seinem Namen alle Ehre und steuerte schon aus der Tür.
»Zwanzig Jahre Gefängnis, kein einziger Besucher«, fasste Commissaire Capestan zusammen. »Ramier hat Melonne des Geldes wegen umgebracht, aber die Verbitterung hat bestimmt mit auf den Abzug gedrückt.«
Sie klatschte in die Hände und fuhr fort: »Also gut, wir haben eine Adresse. Avenue Montaigne 25. Los geht’s!«
»Avenue Montaigne?«, hakte Rosière nach.
»Ja.«
»Das ist die Adresse vom Plaza Athénée. Man gönnt sich ja sonst nichts.«