22.
Ramier war nicht da gewesen, als Capestan und Lebreton an seine Zimmertür geklopft hatten, also mussten sie das Hotel beschatten. Dabei gab es zwei Probleme: Erstens wusste die Staatsanwaltschaft nichts von der Existenz ihrer Brigade, deshalb hatten sie keinen Durchsuchungsbeschluss und konnten ihren Verdächtigen auch nicht festnehmen, außer sie erwischten ihn in flagranti, oder er versuchte zu fliehen. Und zweitens würde die BRI
, sobald sie die Akte hatte, zu denselben Ergebnissen kommen wie sie, aber sie würden nicht so lange brauchen, um Adresse und Beschluss zu kriegen. Vielleicht waren sie sogar schon auf dem Weg.
Wenn sie Ramier vor ihnen schnappten, dann wäre es das gewesen – die BRI
hätte ihren Schuldigen, und das Kommando Abstellgleis müsste zu seinen alten Fällen zurückkehren, inklusive neuer Demütigungen. Von einer Bank unter den Rosskastanien aus beobachtete Capestan das eine Ende der wohlhabenden Prachtstraße und beschwor Ramier, endlich aufzutauchen.
Die kahlen, stachelschalenbehangenen Bäume waren mit Lichterketten geschmückt, die viel zu schwer für ihre abgemagerten Äste wirkten. Kein Laub versperrte die Sicht auf die Quadersteinfassade mit den reich von Geranien gesäumten
Balkonbrüstungen und den im gleichen Zinnoberrot gehaltenen Markisen, den Markenzeichen des Luxushotels.
Eng gegen die Stützgitter der Buchsbaumgrüppchen auf der Terrasse gedrängt, warteten Horden von Teeniemädchen mit gezückten Smartphones und schienen ebenfalls jemandes Auftauchen zu beschwören, aber bestimmt nicht Ramiers. Aus den Querstraßen strömten noch mehr herbei, und Capestan fragte sich einen Moment lang, welche andere Persönlichkeit wohl eine solche Menge anlockte.
Ein paar Meter die Straße hinunter nutzten Saint-Lô und Lewitz die Außenspiegel und die erhöhte Sitzposition in ihrem geparkten Geländewagen, um die breite Avenue mit geübtem Auge zu sondieren.
Lewitz konnte sein Glück kaum fassen. Er strich über das mit schwarzem Leder bezogene Lenkrad und berührte den Schalthebel mit so viel Respekt und Bewunderung, als wäre es der Hintern von Rihanna. Der einzige Wermutstropfen waren die getönten Scheiben. Genau das hatte er im Übrigen auch dem Typen von der Autovermietung gesagt: »Wenn ich schon einen Porsche miete, will ich transparente Scheiben, sonst sieht mich ja keiner an der roten Ampel, und ich habe keine Lust, mitten im Dezember mit offenem Fenster zu fahren.«
»Ach, der Monsieur redet dummes Zeug«, hatte sich Eva Rosière eingeschaltet und mit ihrer Platinkarte gewedelt. »Er ist mit den getönten Scheiben vollauf zufrieden.«
Und während der Händler mit einem bedauernden Blick auf den armen Toyboy der Millionärin verschwunden war, hatte die sich zu Lewitz gedreht und ihn daran erinnert, warum sie sich überhaupt für die Luxusversion entschieden hatten
.
»Es geht um eine Beschattung, Lewitz, eine Beschattung
! Vor dem Plaza fällt ein Cayenne am wenigsten auf, da sind wir uns einig, aber wenn deine Grinsevisage die ganze Zeit am Fenster klebt, war’s das mit der Tarnung.«
Am Ende hatte Lewitz sich gefügt, aber weniger aus Einsicht als aus Respekt vor der Kreditkarte. Und er bereute es nicht: Was für eine Eleganz, was für ein Komfort, mit diesen Knöpfen überall und dem Motor voll ungezähmter Hengste. Andächtig versuchte er, seine Begeisterung einem Partner zu vermitteln, dem solche automobilen Feinheiten völlig gleichgültig waren. Saint-Lô wandte ihm kurz den Kopf zu und gewährte ihm ein höfliches Nicken. Stunden um Stunden in vor zahnlosen Freudenmädchen nur so wimmelnden Weinstuben mit seinen Kollegen von der Leibgarde hatten den Capitaine und seine Dichterseele gelehrt zuzuhören, ohne irgendetwas zu vernehmen. Eingelullt von den Worten François Villons, Du Bellays, Ronsards und Clément Marots, entfloh er dieser Welt, die ihn ohnehin nicht mehr zu schätzen wusste.
Als Kind hatte Saint-Lô sich ein ganz anderes Leben ausgemalt, geprägt von Schneid und großen Schlachten. Er hatte davon geträumt, Schwerter aus Steinen zu ziehen und rastlos zu Pferde Land und Ehre zu erringen. Aber sein Körper und sein Können waren hier gefangen, in diesem Jahrhundert, in dem alle ihn nur auslachten.
Doch jetzt spürte er einen neuen Wind, die typische Brise eines Abenteuers. Es war schon eine halbe Ewigkeit her, dass man ihn auch nur mit einer winzigen Mission betraut hatte, und diesen neuartigen Palast der Eitelkeiten mit allem polizeilichen Geschick zu observieren forderte seine Aufmerksamkeit nicht weniger als damals die Nachtwache vor
dem königlichen Heerlager. Während Lewitz also vor sich hin brabbelte, lebte Saint-Lô auf. Die Leidenschaft des Musketiers wirbelte durch seine Adern und entfachte auf ihrem Weg das Feuer neu. Er fühlte sich bereit, dem Feind entgegenzutreten und bis zum Tod zu kämpfen. Wort und Tat kletterten in ihm empor wie Efeu an einer jungfräulichen Fassade. Der beste Fechter des Königreichs war zurück und wartete auf seine Befehle.
Wenn Max Ramier irgendwo in diesem wuselnden Ameisenhaufen kreischender Maiden herumschlich, würde Saint-Lô ihn erspähen und Lewitz aus seiner Verzückung reißen.
Mit dem eleganten Goldbesteck stach Eva Rosière unermüdlich auf ihren italienischen Salat ein.
»Rucola ist echt die Pest. Man stochert und stochert und hat doch nichts auf der Gabel.«
Louis-Baptiste Lebreton rührte gelassen in seiner Kaffeetasse aus feinstem Porzellan. Irgendwann legte Rosière das Besteck weg und riss ein Stück Brot ab, um damit das Dressing aufzutunken. Sie hatte die Schnauze voll. In den zwei Stunden, die sie jetzt schon an der Hotelbar herumhockten, waren ihnen zwar massenhaft Kristall, Kronleuchter und versnobte Fatzkes untergekommen, aber kein Ramier und auch keine Prominenten. Vergeudete Zeit. Nichts verabscheute sie mehr. Ihre Pumps trommelten den rastlosen Rhythmus ihrer Ungeduld.
»Was sind Beschattungen doch scheißlangweilig. Ich hasse Warten.«
»Jeder hasst Warten, Eva«, erwiderte Lebreton und überschlug die langen Beine.
Mit seiner Sportlerstatur und dem Dandyaussehen fügte
sich der Commandant perfekt in diese Umgebung ein. Und schien darauf zu pfeifen.
»Nicht jeder. Du bist total entspannt. Man könnte fast meinen, Warten sei ein Hobby von dir.«
Lebreton verzog den Mund zu einem Lächeln, das die feine Falte an seiner Wange vertiefte, und beobachtete die Cocktails, die vornehm auf dem Tablett eines Kellners im Smoking schwankten. Das Phantombild mit dem grünen Fell und dem Schild kam ihm wieder in den Sinn.
»Schon komisch, dass jemand, der nicht auffallen will, in einem Luxushotel absteigt.«
»Nicht so sehr, wie du denkst. Vielleicht will er sich gar nicht bedeckt halten. Immerhin steht er auf Zurschaustellungen und theatralische Inszenierungen. Sein Ego ist mit Sicherheit so groß wie ein Rammbockauto, wie bei allen Räubern. Außerdem ist ihm im Knast wahrscheinlich einer abgegangen bei der Vorstellung, in Seidenlaken zu furzen. Er gönnt sich jetzt das Luxusleben, das seine mühsam errungenen Scheinchen ihm ermöglichen. Und schließlich legen alle Grandhotels dem Tun und Lassen ihrer Gäste gegenüber eine Diskretion an den Tag, die fast an Blindheit grenzt. Bevor der nächste Skandal mit dieser friedlichen Straffreiheit aufräumt, hat bestimmt schon wieder mehr als ein aufgeblasener Prinz mit seinem Sklavenharem in den Luxussuiten der Hauptstadt genächtigt. An der Rezeption händigt man die Schlüssel aus, ohne mit der Wimper zu zucken. Monsieur hat die Mittel, Monsieur hat eine hervorragende Wahl getroffen, wir hoffen, Sie bald wieder bei uns begrüßen zu dürfen. Daneben ist dein Ramier nur ein Mückenschiss.«
»Ja, du hast recht. Außerdem hat es ihm sicher Spaß gemacht, seinem Bewährungshelfer diese Adresse zu nennen.
«
»Aber hallo! Die Ratte zieht in die Kornkammer.«
»Apropos Ratte, wo steckt eigentlich Merlot?«
»Der bildet Ratafia für den Polizeidienst aus.«
»Und das funktioniert?«, fragte Lebreton erstaunt.
»Na ja, zumindest macht dem Vieh keiner mehr einen Beaujolais für einen Côtes du Rhône vor. Was Sprengstoff oder Kokain betrifft, geht das Abrichten wahrscheinlich nicht ganz so professionell voran. Immerhin hat Merlot Ratafia bis jetzt noch nicht zerquetscht. Sie hat einen ausgeprägten Überlebensinstinkt. Wer weiß, vielleicht dient sie wirklich eines Tages Frankreich. So gut wie ein Hund wird sie zwar nie, aber jedem das Seine.«
Ein Mann mit Bart betrat den Säulengang und wurde von den unzähligen Spiegeln reflektiert. Die beiden Polizisten erstarrten und verfolgten den bis ins Unendliche Vervielfachten. Nein, zu dick, zu weißhaarig, falscher Alarm.
»Verdammt, das war der Weihnachtsmann!« Rosière schlug sich mit der Faust in die Hand. »Oder einer von diesen Hipstern, die sehe ich im Moment auch ständig am Filmset.« Sie schüttelte belustigt den Kopf.
Lebreton tippte mit dem Zeigefinger auf den Rand seiner Tasse. »Wo wir gerade von Weihnachten sprechen, hättest du Lust, mich an Heiligabend zu meiner Familie zu begleiten? Das ist mein erstes Weihnachten ohne Vincent, und ich … könnte eine Freundin an meiner Seite gebrauchen.«
Rosière wandte den Blick ab, um ihre Erleichterung zu verbergen. Ein riesiger Ziegelstein purzelte ihr vom Herzen und löste sich in der freundschaftlichen Atmosphäre zwischen ihnen auf. Ihr feinfühliger Partner ließ es aussehen, als würde sie ihm einen Gefallen erweisen, obwohl er ihr
Trost spendete. Sie griff über den Tisch und tätschelte ihm mit der reich mit bunten Steinen geschmückten Hand dankbar den Unterarm.
»Ja, mein Lieber, ich bin gerne dein Plus-eins. Vielen Dank, wirklich. Wir gehen davor aber noch einkaufen.«
Mit einer gewaltigen Spiegelreflexkamera um den Hals hatte Évrard sich unter die Menge gemischt. Die Mädchen warteten, genau wie die Verkäufer der Geschäfte ringsum, nur mit mehr Gekreische, auf die Ankunft von Kim Kardashian und Kanye West. Der braunhaarige Mann mittlerer Größe ohne Bart und Brille, den Évrard gerade entdeckt hatte, interessierte sie kein bisschen.
»Ich habe Sichtkontakt. Die Zielperson befindet sich auf Höhe der kanadischen Botschaft«, raunte sie in ihr Handy, das per Konferenzschaltung mit ihren Kollegen verbunden war.
Nachdem Commissaire Capestan selbst einen unauffälligen Blick in Richtung Botschaft geworfen hatte, wies sie ihre mobilen Einheiten an. »Okay, Évrard, wir lassen ihn vorbeigehen und nähern uns dann beide von hinten. Lebreton und Rosière, ihr kommt von vorne, aber ohne euch zu erkennen zu geben. Wenn wir nah genug sind, Évrard, zeigen wir unseren Ausweis. Vermutlich wird er versuchen zu fliehen, dann schneiden die anderen ihm den Weg ab. Sollte er uns entwischen, sind Lewitz und Saint-Lô dran, startet schon mal den Motor.«
Capestan schloss zu Évrard auf, und zusammen folgten sie Ramier. Als Lebreton und Rosière endlich auftauchten und in Stellung gehen wollten, überholte sie ein riesiger SUV
und hielt mit quietschenden Reifen direkt neben
Ramier. Die Jahre im Gefängnis hatten den Reflexen des Räubers anscheinend nichts anhaben können, denn er trat für einen Mann seines Alters so blitzartig die Flucht an, dass die sechs breitschultrigen, schwarz gekleideten und in kugelsichere Westen gezwängten Polizisten, die aus dem Wagen sprangen, einen Moment lang völlig verblüfft waren. Dieser Moment genügte, um die Teeniehorde davon zu überzeugen, dass in dem glänzenden SUV
ihre Idole und deren Bodyguards saßen. Sofort setzten sie zum Sturm auf die Einsatztruppe und den Wagen an. Sie erklommen die Motorhaube, warfen sich auf die Windschutzscheibe, rissen in ihrem Eifer Lebreton und Rosière mit und machten jedes Durchkommen unmöglich. Während ihr schrilles Kreischen den Polizisten die Trommelfelle durchbohrte, knipsten sie ein Selfie nach dem anderen und verewigten die perplexen, säuerlichen Gesichter der BRI
auf Instagram. Kim und Kanye nutzten unterdessen die Ablenkung, um unbemerkt ihre Suite zu erreichen.
Capestan war fassungslos. Sie waren so kurz davor gewesen, Ramier zu schnappen, und genau in diesem Augenblick kreuzte die Antigang mit ihren dicken Felgen auf und versuchte, ihnen den Kerl vor der Nase wegzuschnappen. Die gesamte Observierung war umsonst gewesen, und zwar für jeden, denn jetzt würde ihr Verdächtiger sich garantiert eine ganze Weile lang nicht mehr hier im Luxusviertel blicken lassen. So eine verdammte Scheiße!
Plötzlich sah sie einen Porsche ausscheren. Die Reserve übernahm, die Verfolgung ging weiter. Sie reckte den Hals und schaute dem Wagen hinterher. Irgendetwas stimmte da nicht. Für seine PS
-Zahl und das Temperament des Fahrers fuhr der Porsche eindeutig zu langsam. Sicher ein Problem
mit dem Motor, das hatte ihnen gerade noch gefehlt. Offensichtlich gönnte das Schicksal ihnen nichts.
»Schneller!«, rief Saint-Lô, während ihre Zielperson wie ein Pfeil davonschoss.
Doch Lewitz weigerte sich hartnäckig, aufs Gas zu drücken, und fuhr mit dem jugendlichen Ungestüm einer arthritisgeplagten Oma. Er hatte eben in den zweiten Gang geschaltet und war der Meinung, das würde genügen. Sein Ruf als Raser und Bruchpilot schien heute auf Sand gebaut.
»Na los!«
»Nein, nein, nein, sonst geht er noch kaputt. Nicht schlimm, nicht schlimm, wir holen Ramier wieder ein, nicht schlimm, nein, nein, nein.«
»Himmel, Herrgott«, rief Saint-Lô und griff in Richtung Lenkrad.
»Nein! Fass das nicht an, das gehört mir!«, brüllte Lewitz und riss die Augen auf wie ein Tobsüchtiger.
Verdutzt starrte Saint-Lô seinen Kollegen an. Dieser Beschützerinstinkt erinnerte ihn an seine eigenen Gefühle seiner ersten Stute Alezane gegenüber, und mit einem Mal begriff er: Lewitz war wie gelähmt vor Angst, dieses Auto zu zerstören. Er liebte es mehr als jedes andere. Indem die Brigade ihm den schnellsten Wagen zur Verfügung gestellt hatte, hatte sie seinen Bleifuß unschädlich gemacht. Wenn der Brigadier den Porsche zurückbringen musste, würde er heiße Tränen vergießen.
Inzwischen hatte Ramier die Quais de Seine erreicht und schien den Eiffelturm selbst erstürmen zu wollen. Sie würden noch einmal von vorne anfangen müssen.
Diese Verfolgung war ein einziges Fiasko.