24.
Mit dem Manuskript unterm Arm und Pilou auf den Fersen steuerte Eva Rosière auf Commissaire Capestan zu, die in der eisigen Winterluft auf der Terrasse einen Tee trank.
»Ich habe schlechte Neuigkeiten für dich, Anne.«
Schlechte Neuigkeiten. Capestan hatte sich gerade eine Standpauke abgeholt, einer ihrer Kollegen war höchstwahrscheinlich in einen Dreifachmord verwickelt, und ihr Hauptverdächtiger schlug Haken wie ein Hase. Schlechte Neuigkeiten. Sie wusste wirklich nicht, was in ihrer Sammlung noch fehlen sollte.
Rosière warf das Manuskript achtlos auf einen Liegestuhl und nutzte die Gelegenheit, um eine ihrer langen Zigaretten herauszukramen. Sie ließ den Deckel ihres goldenen Feuerzeugs schnappen und nahm einen kurzen Zug. »Es geht um deinen Schwiegervater.«
Natürlich. Eine letzte Achillesferse gab es noch. Ihren Ehemann. Welche Nachricht würde sie Paul überbringen müssen? Ihr Schwiegervater war in diesem Fall bisher ziemlich gut weggekommen. Würde die weiße Weste jetzt Flecken zeigen? Schlechte Neuigkeiten, das klang nicht nach Politur für die Verdienstorden, eher, als ob hinterher nichts mehr glänzen würde. Capestan rührte weiter in ihrem Tee,
ohne Capitaine Rosière anzusehen. Irgendwann hob sie den Blick, um ihr zu signalisieren: »Ich höre zu, schieß los.«
»Also, ich habe das Manuskript mehrmals gelesen, es ist verschlüsselt. Zuerst habe ich Orte, Berufe, Namen, Alter und Initialen verglichen, dann bin ich noch einen Schritt tiefer gegangen und habe die Motive der Figuren analysiert. Und da haben sich die Protagonisten unseres Überfalls herauskristallisiert. Mithilfe der Akten konnte ich die Lebensläufe überprüfen und den Werdegang in der Realität nachvollziehen. Es passt! Alexis Velowski war nicht einfach nur ein Zeuge, sondern ein Komplize. Oder sogar, wie ich glaube, der Kopf hinter der ganzen Geschichte. Aber er hatte nicht mit dem tragischen Ausgang gerechnet, deshalb ist er zusammengebrochen. Und Serge Rufus hing auch mit drin. Im Manuskript braucht der Mann, der die Justiz verkörpert, Geld, um die künstlerische Karriere seines Sohnes anzukurbeln. Und der Mäzen könnte für den Produzenten des Comedytrios stehen.«
»Wie bitte?«
»Die Kohle aus dem Banküberfall hat die Komikerkarriere deines Exmanns finanziert.«
Capestan nickte und griff nach der Akte auf dem Liegestuhl. Dann setzte sie sich und stellte ihre Tasse auf dem kleinen Eisentisch ab. Rosière nahm ihr gegenüber Platz, und Pilou streckte sich zu ihren Füßen aus.
Rufus, korrupt. Keine besonders große Überraschung. Die berufliche Kapitulation war nur der Höhepunkt einer traurigen Existenz. Aber er hatte es für seinen Sohn getan, den das schmutzige Geld zum Star gemacht hatte.
Capestan war sich nicht sicher, welche Wirkung diese
Neuigkeit auf Paul haben würde. Schuldgefühle, Reue, erneuerte Zuneigung oder im Gegenteil endgültige Ablehnung? Im Moment wusste sie nicht einmal, ob sie es ihm überhaupt sagen wollte. Darüber würde sie später nachdenken.
Blieb noch die Ermittlung. Rufus’ Verwicklung in die ganze Sache erklärte, warum er mit einem so unerfahrenen Team zu diesem Einsatz gefahren war. Die Räuber hatten entwischen sollen. Dass Blut fließen würde, hatte Rufus wohl nicht erwartet.
»Weißt du, wer den Kontakt hergestellt hat?«, fragte Capestan, während sie mit dem Daumen über den Henkel ihrer Tasse strich. »Wer hat die vier zusammengebracht?«
»Melonne. Er und Velowski sind im selben Viertel aufgewachsen. In welchem, wird weder aus dem Manuskript noch aus den Polizeiakten ersichtlich. Als Velowski bei der Bank anfing, hat Melonne die Verbindung wieder aufgenommen. Er hatte damals schon ein kleines Vorstrafenregister, aber er war kein Soziopath, er hat nie auf irgendwen geschossen. Und er hat als Spitzel für Rufus gearbeitet. Die drei haben sich das bestimmt hübsch ausgemalt, den großen Coup, das schnelle Geld. Der Fehler, die Unbekannte, war es, Ramier ins Boot zu holen. Auch hier hat Melonne den Vermittler gespielt. Er hatte ihn in jungen Jahren im Gefängnis kennengelernt, er hatte keine Ahnung, wie gefährlich der Typ war. Rufus genauso wenig. Ramier war bei seinen richtigen Dingern nie gefasst worden, sein Vorstrafenregister war das eines Lausbuben.«
»Gab es noch andere Komplizen?«
»Vielleicht, ich kann nichts garantieren. Ich habe mich bei meiner Analyse nur auf die Daten gestützt, die wir haben.
«
Am anderen Ende der Terrasse landeten gurrend zwei Tauben. Die Anwesenheit der ruhig dasitzenden, von der winterlichen Kälte betäubten Menschen konnte die geflügelten Pariser nicht beeindrucken. Die bescheidene Menge Efeu auf Halbmast bot ihnen eine willkommene Abwechslung von der steinernen Umgebung, also besetzten sie es einfach. Pilou seufzte. Jetzt musste er aufstehen und sich um die Eindringlinge kümmern.
Melonne hatte eine ziemlich große Summe kassiert, das bewiesen seine Fahrten in die Schweiz. Er hatte sie geradezu verschwenderisch ausgegeben, als Wiedergutmachung für die beiden Leichen, die ihm mit Sicherheit den Schlaf raubten. Velowski hatte sich, ebenfalls von Gewissensbissen geplagt, für die Selbstauflösung entschieden, dieses Geld hatte ihm erlaubt, sich völlig aus der Welt zurückzuziehen. Und Rufus? Capestan hatte ihn zwanzig Jahre nicht mehr gesehen, aber Merlot hatte in seinem Bericht aus der Gerüchteküche nichts von einem Luxusleben erwähnt.
»Als die Cowboys von der BRI
ihren Verdächtigen in Gewahrsam hatten und der Fall für sie quasi gelöst war, haben sie uns doch die vollständigen Akten überlassen. Waren darin auch Rufus’ Bankunterlagen?«
»Ja, ich glaube schon. Aber ein Bulle wäre bestimmt nicht so blöd gewesen, seine schmutzigen Scheinchen bei der Crédit Mutuel anzulegen. Wir könnten allerdings überprüfen, ob er regelmäßig Geld abgehoben hat. Wenn nicht, dann hatte er irgendwo einen Vorrat.«
»Ja. Und wenn er seinen Anteil versteckt hat, wollte Ramier wahrscheinlich die Adresse aus ihm herausprügeln.«
»Oder er hat alles in die Karriere seines Sohns investiert.« Rosière drehte ihre glühende Zigarette in der Vertiefung
des Aschenbechers, bevor sie ihrer Chefin ein mütterliches Lächeln zuwarf. »Dieses Mal bleibt dir nichts anderes übrig, meine Liebe, du musst ihm noch einen Besuch abstatten.«
Capestan nickte. Sie hatte tatsächlich keine Wahl. Ungeduld und Verärgerung prallten aufeinander, verschmolzen und lösten sich auf, bis nur noch Leere herrschte.
Stellte sich noch die Frage nach der Verbreitung der Information. Wie bei der Sache mit Orsini war Schweigen möglicherweise die beste Option.
»Hast du schon mit den anderen geredet?«
»Nein. Das ist dein Kuddelmuddel, nicht meiner. Du entscheidest.«
Und wieder geriet Capestan in einen Gewissenskonflikt. Eigentlich widerstrebte es ihr, überhaupt irgendetwas vor ihrer Brigade zu verheimlichen. Sie drängte sie alle, noch schneller zu sein, wie die Tiere zu schuften, nur um ihnen am Ende nichts von den Ergebnissen zu verraten. Sie gefiel sich nicht in diesem Spiegel, der ihr da vorgehalten wurde.
Durch Rufus’ Verwicklung in den Überfall würden sie erneut den Ruf eines Kollegen beschmutzen. Vielleicht sogar zweier Kollegen, mit Orsini. Wieder einen Bullen ins Visier nehmen und allen anderen in den Rücken schießen. Ihre Brigade hatte recht gehabt mit den anfänglichen Vorbehalten. Nun würden sie noch ein paar Etagen tiefer stürzen.
Andererseits hatten die Kriminalbrigade und die BRI
das Manuskript bisher nicht zu Gesicht bekommen. Und selbst wenn, hätten sie nicht Eva Rosière, um es zu entschlüsseln. Wenn Capestan es wollte, würden die Informationen die Mauern dieses Kommissariats nicht verlassen.
Wen sollte sie in den Dreck ziehen, wen belügen? Die
Brigade? Den Quai des Orfèvres? Die Justiz? Paul? Wem sollte sie was verraten?
Capestan drehte und wendete das Problem in ihrem Kopf wie eine gesprungene Vase, die man reparieren wollte. Eine falsche Bewegung, und alles würde in tausend Scherben zerbrechen.
Sie musste Paul gegenübertreten und das Andenken trüben, das sie so leichtfertig zu wahren versprochen hatte, als sie ihm die Nachricht vom Tod seines Vaters überbracht hatte.
Oder sie konnte diesen Aspekt für sich behalten und auf eine rettende Sintflut hoffen.
So oder so würde sie ihren Ehemann wiedersehen. Vorfreude, Angst und Schuldgefühle rangen in ihrem Inneren miteinander, während sie so tat, als würde sie es nicht bemerken.
Sie suchte in Rosières Augen nach einem Ausweg, fand jedoch nur Mitgefühl und Gewissheit. Mit einem tiefen Seufzer griff sie wie in Zeitlupe nach ihrem Handy, das neben dem kalten Tee auf dem Tisch wartete.