27.
Anne Capestan saß vor der Schlangenbeschwörerin
im Musée d’Orsay und fragte sich, welcher Fluch auf dem französischen Volk lastete, dass jedes Mal, wenn man andächtig vor einem düsteren, poetischen Meisterwerk des Zöllners Rousseau verharrte, einem die karibischen Rhythmen von »Vive le Douanier Rousseau« der Compagnie Créole
durch den Kopf schwirrten. Andererseits mochte sie das Lied ganz gerne.
Direkt nach ihrem Gespräch mit Paul hatte sie Denis angerufen und ihn um ein Treffen gebeten. Seitdem wartete sie hier und dachte darüber nach, warum genau sie den Korruptionsverdacht gegen ihren Schwiegervater verschwiegen hatte. Um wen zu schonen?
Serge Rufus und die kläglichen Reste seines Rufs? Paul und seinen unbestimmten Waisenschmerz? Sich selbst und ihre Rolle als Botin? Sich selbst und ihre letzte Chance, dass ihr Ehemann sie zurückwollte?
»Buh!«
Capestan zuckte zusammen, als die Raubtierpfoten sie an den Schultern packten. Sie war zu sehr in Gedanken versunken gewesen, um Denis zu hören. Er hatte ein Papiertuch um den Hals und kam gerade aus der Maske. Das Alter hatte seinen spöttischen Charme noch mehr herausgearbeitet
und das Pausbäckige aus seinem Gesicht verschwinden lassen, um den rauen, wie aus einem Stück Stein gehauenen Zügen eines Mannes der Tat Platz zu machen. Mit den kurz geschorenen Haaren und der Hakennase wirkte er allzeit bereit, auf die Motorhaube des nächsten Autos zu springen, um irgendeiner Explosion auszuweichen. Berühmte Freunde hatten den Vorteil, dass man ihren Werdegang auf der Leinwand nachverfolgen konnte, sollte man sie unerwarteterweise aus den Augen verlieren. Denis war derjenige aus dem alten Trio, der es geschafft hatte, der Siegreiche in dem ewigen Vergleich, dem die drei ihre gesamte Karriere über ausgesetzt sein würden.
Denis beugte sich vor, und er und Capestan berührten einander erst mit der linken, dann mit der rechten Schläfe. Das hatten sie sich eines Tages ausgedacht, um sich über einen berühmten Comedien lustig zu machen, der seine Begrüßungsküsse immer in die Luft hauchte, damit seine Föhnfrisur nicht platt gedrückt wurde oder etwas Ähnliches. Sie waren sich gar nicht mehr sicher, wie genau der Brauch entstanden war, aber er war geblieben.
»Wie geht es dir, mein Hase?«
»Bestens, und dir, mein Tiger?«
Denis breitete die Arme aus und wies auf das Set des neuesten Blockbusters hinter seinem Rücken, in dem er einmal mehr die Hauptrolle hatte. Ein Thriller, der zum Teil im Musée d’Orsay spielte, um dem Louvre eine Ruhepause zu gönnen.
»Solange niemand an meinem Ast sägt, läuft alles super. Den Eltern geht es gut, die Liebschaften sind zahlreich, der Urlaub steht vor der Tür. Und bei dir? Hat das Einsiedlerdasein endlich ein Ende und die Mojitos kriegen dich wieder?
«
Denis grinste. Das mit den Mojitos stammte noch aus ihren jungen Partyjahren. Die waren lange her, und das wusste er auch. Ernster fuhr er fort: »Hast du Paul mal wiedergesehen?«
»Ja. Genau deswegen wollte ich dich treffen.«
Hinter ihnen brüllten die Kameraleute und Tontechniker gegen die Beleuchtungspraktikanten und Regieassistenten an, während wieder andere in schrillen Stresshöhen nach Zeitplänen, Budgets oder Ruhe riefen.
»Sein Vater ist tot. Ermordet.«
»Ach du Scheiße.«
Denis wandte das Gesicht zu den Gemälden. Mehrere Gedanken schienen ihm durch den Kopf zu schwirren, und Capestan war sich nicht sicher, ob sie alle richtig las. Überraschung war jedenfalls nicht darunter. Er drehte sich wieder zu ihr.
»Weiß man schon, wer es war? Wie geht’s Paul? Wie hat er es aufgenommen?«
»Paul geht es einigermaßen. Und die Ermittlung läuft noch, also kann ich dir leider keine Auskunft geben.« Sie zog eine entschuldigende Grimasse. »Aber ich wollte dich was fragen.«
»Schieß los«, erwiderte er mit gerunzelter Stirn, die Hände in die Hüften gestützt.
»Als ihr damals nach Paris gekommen seid, um in diesem Theatercafé aufzutreten, das hat doch bestimmt eine Stange Geld gekostet. Unterbringung, Spesen … und ihr wart auch Koproduzenten.«
»Ja«, bestätigte Denis, wich ihrem Blick jedoch aus.
»Wer hat das alles bezahlt?«
Capestan hoffte, dass Denis ihr die Wahrheit sagen würde.
Sie hatten sich immer nahegestanden, aber seit über zwei Jahren nicht gesehen. Und finanzielle, genau wie polizeiliche Fragen verleiteten gerne zu Geheimniskrämerei. Vor allem bei Filmstars, die ohnehin unter Verfolgungswahn litten.
»Okay, okay, es war Serge«, gab der Schauspieler zu. »Ich musste schwören, es niemandem zu verraten, aber er hat mir eine ziemlich große Summe anvertraut. In bar.«
»Wie viel?«
»Fünfhunderttausend Francs.«
»Nicht schlecht.« Capestan pfiff durch die Zähne. »Und das fandest du nicht merkwürdig?«
Mit der Spitze seines Turnschuhs rieb Denis ein Staubkorn in den glänzenden Fußboden.
»Schon ein bisschen. Aber … na ja, bei der Sorte Mann habe ich gar nicht erst versucht, irgendwas zu verstehen, sondern es einfach genommen.«
»Hat er dir gesagt, woher das Geld kam?«
Denis stieß ein kurzes Lachen aus. »Nein, natürlich nicht. Er meinte nur, er wolle Paul unterstützen. Mein erster Gedanke war: unterstützen oder loswerden?«
»Wie hat er darauf reagiert?«
»Das habe ich doch nicht laut ausgesprochen, dafür hatte ich viel zu viel Schiss vor Serge. Paul war der Einzige, der ihm Kontra gegeben hat, als müsste er sich beweisen, dass er genug Mumm hat.«
»Das hatte er.«
»Ja.«
Diese Informationen bestätigten Capestans Verdacht. Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass Denis ihr etwas verschwieg. Der Eindruck haftete wie ein Post-it in einer Ecke ihres Hinterkopfs
.
Aus einem Walkie-Talkie am Set drang die blecherne Stimme des Regisseurs: »Wo steckt er denn jetzt wieder, unser Star?«
»Okay, ich muss, bevor sie mich noch höflicher bitten«, sagte Denis und verabschiedete sich mit der traditionellen Schläfenberührung.
Dann griff er nach einem nachgebildeten Taurus Raging Bull auf einem kleinen Tischchen und schwenkte ihn durch die Luft. »Nicht nur Bullen haben große Knarren.«
Ein dummer Spruch zum Abschied, trotz der traurigen Neuigkeit – ihr alter Freund blieb ihren Ritualen treu. Commissaire Capestan spielte mit. »Ja, aber wenn man deine mit echten .44 Magnum laden würde, würde dich der Rückstoß glatt ins Off befördern, mein Tiger.«
»Aaah, der war gut. Punkt für dich, mein Hase.«
Für den Spruch vielleicht, dachte Capestan. Was die Informationen und ihren Wahrheitsgehalt betraf, war sie sich nicht so sicher
.
Dax wusste noch nicht so recht, was er von dieser Speeddatingsache halten sollte, aber sein Kumpel hatte darauf bestanden. Er müsse es ausprobieren, bevor es wieder in der Versenkung verschwinde, hatte er gesagt.
Verlegen betrat der Lieutenant die große Brasserie, die extra für den Anlass gemietet worden war. Er war frisch rasiert und trug sein schönstes weißes T-Shirt unter der Lederjacke. Eine hübsche junge Frau begrüßte ihn. Sie nahm selbst nicht teil, erklärte ihm aber das Prozedere. Ein wenig zu schnell, doch Dax hatte sich das Wichtigste gemerkt: Er setzte sich an einen Tisch zu einer Frau, sie hatten sieben Minuten, dann klingelte die Glocke, und er ging zum nächsten Tisch mit der nächsten Frau.
Nervös strich er sich über die Tolle und nahm gegenüber Doriana Platz, wie das Namensschild verkündete.
»Hallo, ich heiße Doriana, bin zweiunddreißig Jahre alt und arbeite als Mobilfunkberaterin. Meine Hobbys sind Sport, Nähen und Fantasyromane. Und was machst du am allerliebsten?«
Dax dachte nach, bevor er etwas Dummes sagte. Er mochte seine Arbeit und Computer, Spazierengehen, vor allem im Wald, und natürlich Videospiele. Vögel beobachten. Boxen. Was genau meinte Doriana mit »am allerliebsten«? Er wusste nicht …
Es klingelte. Ehe er antworten konnte, musste er Doriana schon wieder verlassen.