29.
»Jetzt kann ich nicht mehr mitkommen.«
»Aber klar doch, José. Na los!«
»Nein, sonst geht es schief. Das war ein schlechtes Omen.«
»Das war kein schlechtes Omen, nur eine übereifrige Bemerkung. Komm endlich. Das ist ein Befehl!«
Die Stirn heftiger gerunzelt als die einer Dogge, die man zur Badewanne zerrt, schüttelte Torrez den Kopf, ehe er in den Peugeot 306 stieg und die Tür zuknallte, als wollte er sagen: »Ich habe euch gewarnt, ihr werdet schon sehen.«
Die Balkone des legendären Ozeandampfers in der Rue de Sèvres waren heute heruntergekommen und mit Sicherheitsnetzen bespannt, die wie Nasenpflaster nach der letzten Schönheitsoperation einer Diva wirkten.
Als Capestan und Torrez vor dem Eingang des Hotels anhielten, sahen sie Lebreton und Saint-Lô schon die Treppe hinaufstürmen; Évrard war am Empfang geblieben. Rosière, Pilou, Dax und Lewitz sprangen gerade aus dem Porsche, für den der Brigadier, wahrscheinlich aus Angst vor den wenig zimperlichen Haken der Abschleppunternehmen, einen ordnungsgemäßen Parkplatz gesucht hatte, am Fuß eines Baugerüsts vor der westlichen Fassade des
Luxushotels. Die vier rückten vor. Lewitz bildete das Schlusslicht; er hatte das Polierleder noch in der Hand, mit dem er ihre Fingerabdrücke abgewischt hatte.
Eine Bewegung erregte Capestans Aufmerksamkeit. Sie hob den Kopf, und alle taten es ihr nach. Ein Mann stieg aus einem Fenster und kletterte am Baugerüst herunter. Max Ramier.
In seiner Hast glitt der Flüchtende auf dem nassen Aluminiumsteg aus, prallte gegen die Fassade und konnte sich gerade noch festklammern, wobei er ein Stück weißen Stein losriss, das seinen langen, polternden Fall antrat. Ramier rutschte hinterher. Seine Hand tastete nach neuem Halt und bekam ein Balkongeländer zu fassen, das sein Gleichgewicht wiederherstellte.
Lewitz reagierte als Erster und schoss über den Boulevard Raspail. Bei einem solchen Blitzstart würde er Ramier schnappen, bevor der überhaupt den Bürgersteig berührte. Der Brigadier sprintete die letzten Meter, sprang ab und streckte sich so lang wie möglich. Er landete auf der Motorhaube des Porsches, gerade noch rechtzeitig, um den Stein abzufangen, der ihm das Schienbein zerschmetterte. Das dumpfe Geräusch brechender Knochen drang bis zu den anderen Mitgliedern der Brigade, die sich instinktiv zu Torrez umwandten. Der Lieutenant senkte gequält den Kopf und wich einen Schritt zurück.
Capestan drückte ihm kurz die Schulter, ehe sie, gefolgt von ihren Kollegen, Lewitz zu Hilfe eilte. Der Brigadier schrie vor Schmerz. Sein Bein stand in einem unnatürlichen Winkel ab. Die Polizisten drängten sich um ihn herum, um den Schaden zu beschauen und einen Krankenwagen zu rufen. Lewitz hatte ein Auto gerettet. Der Moment der Verwirrung
genügte Max Ramier, um auf den Boulevard zu entkommen. Capestan nahm die Verfolgung auf, bald flankiert von Lebreton und Saint-Lô, die ebenfalls den Weg über das Gerüst gewählt hatten.
Auf dem breiten Bürgersteig konnte Ramier seinen schnellen Beinen freien Lauf lassen. Er rannte immer geradeaus, ohne sich in eine der umliegenden Gassen zu flüchten. Man hatte fast den Eindruck, er wollte auf dieser Achse bis Lyon weiterlaufen, im gleichen Tempo. Lebretons Körpergröße und Saint-Lôs Flinkheit konnte er allerdings nicht so einfach abhängen. Capestan hielt Schritt, musste jedoch an ihre Reserven gehen.
Nicht einmal die Kreuzung mit der Rue de Rennes, der pulsierenden Hauptverkehrsader, auf der Fahrzeuge und Fußgänger aus allen Richtungen auftauchten, bremste Ramier. Die wüsten Beschimpfungen der erschrockenen Passanten wurden von quietschenden Reifen und heulenden Hupen untermalt. Die Polizisten setzten Ramier nach, die Arme entschuldigend erhoben. Er hatte zwanzig Meter Boden gut gemacht und überquerte im gleichen Kamikazestil die Rue de Vaugirard, bevor er abrupt nach links in die Rue de Fleurus bog.
Sechs lange Sekunden verloren sie ihn aus dem Visier. Sofort ploppten in Capestans Kopf haufenweise Stadtpläne mit Fluchtmöglichkeiten auf. Sechs Sekunden, das genügte, um nach links in die Rue Jean-Bart zu verschwinden oder in der Rue Madame in irgendeinen Hinterhof zu entwischen. Ein Umzugswagen versperrte ihnen, wenn auch vorschriftsmäßig geparkt, jede Sicht. Die Polizisten mussten sich blind für eine Richtung entscheiden und bogen nach rechts. Ihr Instinkt wurde belohnt. Gerade passierte Ramier vor ihnen
die Rue Guynemer und die schwarzen Gitterstäbe mit den goldenen Spitzen des Jardin du Luxembourg.
Wie elektrisiert von diesem Erfolg nach den Metern der Unsicherheit stürmten Lebreton und Saint-Lô in den Park. Ein paar Meter hinter ihnen schoss Capestan plötzlich die Frage durch den Kopf, ob Ramier wohl bewaffnet war. Kalter Schweiß lief ihr über den Nacken. Der Mann war gefährlich, skrupellos, und er machte, wie sie ja leider wussten, nicht einmal vor Kindern Halt. Und von denen wimmelte es im Jardin du Luxembourg nur so.
Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, die Umrisse der Kleidung zu erkennen, einzuschätzen, ob Ramier sich leichtfüßig oder schwerfällig bewegte. Vielleicht sollten sie die Jagd aufgeben. Aber Lebreton und Saint-Lô hatten Ramier mittlerweile fast eingeholt, was ihnen noch einmal zusätzlich Energie zu verleihen schien. Ramier bog in eine schmale Allee ein, die rechts vom Zaun eines Spielplatzes begrenzt wurde. Bevor die Polizisten ihm folgen konnten, blockierte ihnen eine Kolonne Ponys den Weg, die zu ihren Pflöcken zurückkehrten.
Selbst ohne Reiter trotteten sie nur langsam dahin, im Schritt, aus Gewohnheit. Der schier endlose Zug verhinderte jedes Durchkommen.
Bald wäre Ramier nur noch ein winziger Punkt am anderen Ende des Parks.
Lebreton und Capestan sogen heftig Luft in ihre brennenden Lungen, bereit zu kapitulieren, doch der immer noch frische Saint-Lô stürzte auf den Führer des Gespanns zu und entriss ihm ohne Vorwarnung die Zügel. Dann nutzte er seinen jockeygleichen Körperbau, sprang auf den Rücken des vordersten Ponys und gab ihm brüllend die Sporen. Das
verdutzte Tier machte einen Satz und galoppierte wie von der Tarantel gestochen los. Seine an ihn gebundenen Artgenossen hatten keine andere Wahl, als es ihm nachzutun.
Als Saint-Lôs Pony sich nach ein paar beruhigenden Schlägen auf den Hals von seinem Schreck erholt hatte, flog es regelrecht dahin. Getragen von seiner Begeisterung, endlich ungehindert laufen zu dürfen, verschlang es die Meter, die es noch von Ramier trennten. Mit lauter Stimme feuerte der Reiter sein junges Ross an. Der Rest der Kolonne folgte ihnen auf dem Fuß, und so rasten sie durch den Park wie eine verrückt gewordene Würstchenkette. Die trommelnden Hufe wirbelten mit apokalyptischem Getöse eine Riesenwolke Staub auf. Touristen sprangen mit erschrockenen Aufschreien beiseite, Spaziergänger retteten sich in Büsche oder auf Bänke, und Jugendliche brachten mit verblüffender Energie ihre Habseligkeiten und Zigaretten in Sicherheit, bevor sie ihre Smartphones zückten und filmten.
Die plötzliche Freiheit inspirierte die Ponys dazu, in alle Richtungen zu zerren, wodurch sie das beherzte Leittier bremsten. Saint-Lô, der diesen holprigen Galopp bewundernswert geschmeidig ausglich, wandte rasch den Kopf, um den undisziplinierten Tross zu taxieren. Mit einer beinahe instinktiven Bewegung schob er sein Hosenbein hoch, zog den kleinen Dolch aus seinem Socken und durchtrennte mit einem raschen Schnitt das Seil, das das Gespann verband.
Von der Last der Herde befreit, wuchsen seinem Reittier förmlich Flügel. Beschwingt beschleunigte der Minipegasus. Seine Mähne peitschte durch die Luft, und die kurzen Beine hämmerten auf den sandigen Boden ein. Die anderen Ponys verteilten sich unterdessen im Park auf der
Suche nach Knabbereien oder Zerstreuungen, mit Ausnahme eines ganz grauen, das brav zu seinem Pflock zurückkehrte. Wahrscheinlich war es zu alt für solchen Unsinn.
Max Ramier drehte sich hastig um, und selbst von Weitem konnte man die Überraschung auf seinen erschöpften Zügen erkennen. Doch der Mann war gewieft – er sprintete am Palais du Luxembourg vorbei, die Treppe hinauf und stürzte sich in den Verkehr auf der Rue de Médicis. Die Sache war vorbei.
Saint-Lô zog sanft an den Zügeln und klopfte seinem Pony auf die Flanke. Widerwillig fügte sich das Tier und verlangsamte seinen Schritt. Saint-Lô kraulte es hinter den Ohren, dann sprang er ab und beugte sich, die Zügel in der Hand, zu einem Stück Pappe, das am Fuß der Stufen zu Boden geflattert war.
Ramier hatte es verloren, als er gestolpert war.
Capestan wandte sich zu Lebreton und bemerkte ehrfürchtig: »Er muss der beste Reiter der ganzen Kompanie gewesen sein.«