37.
»Ich muss mit dir reden, Anne.«
Er hatte schließlich doch angerufen.
Capestan saß unter einem Heizpilz vor dem Cavalier Bleu und verfolgte die hypnotische Fahrt der Besucherköpfe die lange Rolltreppe des Centre Pompidou hinauf. Sie mochte dieses Bündel bunter Rohre, die »Gedärme der Kultur«, wie ihre Großmutter, eine erbitterte Gegnerin des Projekts, sie gerne nannte.
Auf dem nassen Pflaster zersetzten sich Hunderte Hinterlassenschaften der Tauben des Platzes und wiegten die Touristen in einer Illusion von feuchter Sauberkeit. In dieser Schulferienwoche waren die Pariser ausgeflogen. Auf der großen Terrasse an der Ecke Rue Saint-Martin und Rue Rambuteau war nur ein einziger anderer Tisch belegt, sie würden nicht gestört werden. Capestan hatte nicht den Mut für ein Gespräch unter vier Augen in Pauls Wohnung aufgebracht, und Paul hatte spontan ein Café in der Nähe des Kommissariats und von Annes Wohnung vorgeschlagen. Wie einfühlsam von jemandem, der einen Mord zu gestehen hatte.
Sie sah ihn schon von Weitem die Rue Saint-Martin entlangkommen, die Hände in den Taschen seiner marineblauen Jacke vergraben, die Schultern hochgezogen, um sich gegen die Kälte zu schützen. Unter der grauen Mütze, die es nicht schaffte, den wilden Haarschopf zu zähmen, lugten vom Regen durchweichte blonde Strähnen hervor, und Capestan fragte sich, wann seine Schönheit sie nicht mehr völlig aus der Fassung bringen würde. Vielleicht in zehn Minuten. Wenn er nicht das sagte, was nötig war.
Er zögerte eine Millisekunde, dann küsste er sie rasch auf die Wange und nahm ihr gegenüber Platz. Sofort tauchte der Kellner auf und klimperte wortlos mit dem Kleingeld in der Tasche seiner Weste herum.
»Für mich auch einen Kaffee«, bestellte Paul, ohne zu überlegen, eher, um den Mann loszuwerden, als weil er tatsächlich etwas trinken wollte. Anschließend wandte er sich wieder an Capestan. »Wie geht’s dir? Schönes Winterwetter, was?«
Er würde warten, bis sein Kaffee kam und der Kellner wieder verschwand, bevor er die ernsten Themen anschnitt.
»Was ist das?«, fragte er leicht beunruhigt und deutete auf die blauen Flecken an ihrem Hals und das Pflaster auf der Stirn. Dem Kellner dankte er mit einem Kopfnicken.
»Chelsea-Fans«, antwortete sie knapp.
Sie war nicht hier, um sich zu beklagen, geschweige denn, um sich trösten zu lassen.
Paul durchschaute sie wie immer mühelos. Viel länger konnte er nicht in seinem Kaffee rühren, allmählich wurde es Zeit. Bitte versau es nicht, betete Capestan innerlich. Paul holte tief Luft und blickte zu den Passanten auf der Rue Rambuteau hinüber.
»Okay. Ich werde dir die ungeschönte Version liefern, weil ich keine Ahnung habe, wie ich es verpacken soll. Vermutlich ermittelst du schon in dem Fall, aber man weiß ja nie: Ramier, der Typ, der meinen Vater ermordet hat, ist tot. Ich habe ihn umgebracht.«
»Wie ist das genau passiert?«
Eine typische Polizistenfrage, dachte Capestan. Eigentlich interessierte sie nur, warum er es ihr nicht früher erzählt hatte, aber stattdessen verlangte sie ein ausführliches Geständnis. Paul wirkte nicht überrascht. Er stürzte sich Kopf voraus in den Tunnel, weil es keinen anderen Weg gab und er einfach die Zähne zusammenbeißen musste, bis er auf der anderen Seite wieder herauskam. Nicht nachdenken.
»Er hat mich gewürgt, und ich hatte nicht mehr genug Luft, um mich zu befreien. Also habe ich geschossen.«
Erdrosselung, dieselbe Methode wie bei Velowski. Das passte zusammen. Fragte sich nur noch, warum Paul mit einer Pistole herumspaziert war.
»Wo hattest du die Waffe her?«
»Ja, ich verstehe schon. Ich fange ganz von vorne an, dann wird es hoffentlich klarer.« Paul klopfte zweimal mit dem Kaffeelöffel auf den Tisch. »Nach dem Treffen mit dir hat Denis bei mir geklingelt. Er hat mir einen Umschlag gebracht, den mein Vater ihm anvertraut hatte, ›nur für den Fall‹. Bei seinen Leichen im Keller dürften das ziemlich viele Fälle gewesen sein, da hat er lieber vorgesorgt. Und weil ich ihn nicht mehr sehen wollte … Na ja, das weißt du ja alles.«
Capestan antwortete nicht. Sie saß mit verschränkten Armen an die Sitzbank gelehnt und hörte zu, ohne Pauls Geständnis durch irgendeine Reaktion zu beeinflussen. Er seufzte und fuhr fort: »In diesem Umschlag lagen eine Mitgliedskarte für ein Fitnessstudio, ein Kärtchen, auf das er eine Schließfachnummer und seinen Code geschrieben hatte, und … ein Brief. Kurz.«
Er schluckte, und seine Augen röteten sich, doch er fasste sich stirnrunzelnd wieder. Der Tunnel.
»Am nächsten Tag bin ich zum Studio gegangen und habe das Schließfach geöffnet. Darin waren bündelweise Geldscheine, in aufeinandergestapelten Schuhkartons. Sechs Stück. Ich habe das Schließfach wieder zugemacht und das Studio verlassen. Und die ganze Nacht hin und her überlegt, ich hatte keinen blassen Schimmer, was ich davon halten sollte. Irgendwann habe ich mir gesagt, dass ich zumindest einen Karton brauche, um die Gesamtsumme abzuschätzen. Also bin ich noch mal hin. Und da hat ein Karton gefehlt. Ich habe nachgezählt, es überprüft, alles abgesucht, aber ich war mir sicher, dass ich mich nicht täusche. Einer hat gefehlt, jemand hatte ihn gestohlen. Wer? Mir ist sofort Ramier in den Sinn gekommen, die Spuren seiner Schläge auf der Leiche meines Vaters. Er hat ihn gefoltert, damit er ihm den Code für das Schließfach verrät.«
Paul breitete die Hände aus, wie um Capestan das Offensichtliche zu verdeutlichen.
»Ich wusste, dass er zurückkehren würde, also habe ich auf ihn gewartet. Aber mit einem solchen Kerl redet man nicht ohne ein Minimum an Schutz. Deswegen habe ich eine von den alten Waffen meines Vaters geholt, ein ›Phantom‹, wie er sie genannt hat. Die sind nicht registriert, das hat er mir erklärt, als er mich für seinen Polizeikram interessieren wollte. Er hätte mir auch beibringen können, wie man sie reinigt und wie man damit schießt, aber darauf hatte ich nie Lust. Ich habe also den Revolver genommen …«
»Es war eine Pistole, wir haben die Hülsen gefunden. «
»Aha.« Ihr Ehemann hob die Augenbrauen. »Okay. Die Pistole. Vorsichtshalber habe ich sie vorher irgendwo in der Pampa ausprobiert. Ich wollte ja nicht einem Mörder gegenübertreten, und dann macht mein Rev… meine Pistole nur klick-klick, wie im Film.«
Paul wagte ein Lächeln, das jedoch schnell wieder erlosch. Seine Ehefrau ihm gegenüber fand das alles kein bisschen zum Lachen. Sie ermaß den unglaublichen Leichtsinn, der ihren Mann auf diesen Pfad geführt hatte. Er hatte geglaubt, dem Mörder seines Vaters die Stirn bieten zu können. Sein Mut hatte ihn geblendet.
»Ist dir klar, was für ein Mensch Ramier war? Er hat drei Männer umgebracht. Wie konntest du dein Leben so aufs Spiel setzen? Warum?«
»Weil ich mehr erfahren wollte. War mein Vater wirklich korrupt geworden und zu welchem Zeitpunkt? Hat er selbst geraubt, getötet, seit wann, mit wem? Hat Ramier ihn umgebracht, weil der ihn übers Ohr gehauen hat oder weil er stattdessen eine plötzliche Anwandlung von Polizistenehre hatte? In dem Brief stand nichts darüber.«
Paul schüttelte verdrossen den Kopf, er war nicht stolz auf seine kümmerlichen Ergebnisse.
»Eigentlich weiß ich es gar nicht mehr so genau, und dafür habe ich mich in die Scheiße geritten. Aber mit einer Sache hatte ich recht: Er ist zurückgekehrt. Du hast mir auf deinem Handy ein Phantombild gezeigt. Ich habe ihn sofort erkannt, als er das Fitnessstudio verlassen hat, mit einer großen Tasche unterm Arm.«
Er unterbrach sich kurz, dann fügte er hinzu: »Ich habe die Tasche mitgenommen, ich überlasse sie dir natürlich. Auf jeden Fall habe ich beschlossen, ihm zu folgen. Als ich nur noch ein paar Meter hinter ihm war, habe ich ihn angesprochen. Er hat sich umgedreht und mich einen Moment lang gemustert, als würde ihn mein Gesicht an jemanden erinnern. Ich … na ja, ich sehe meinem Vater ähnlich, das weißt du ja. Ich habe seinen Verdacht bestätigt und mich vorgestellt. Er ist auf mich zugekommen, und als ich ihm gerade die erste Frage stellen wollte, ist er mir direkt an den Hals gesprungen und hat zugedrückt wie ein Irrer.«
Als Paul an den brutalen Angriff zurückdachte, riss er die Augen auf. Er war immer noch fassungslos, verstand es nicht.
»Ich habe mich gewehrt, aber bei einem solchen Nahkampf, ohne Luft … Ich habe schnell gemerkt, dass ich mich nicht würde befreien können. Irgendwie habe ich es geschafft, die Pistole aus meiner Tasche zu holen, und dann habe ich einfach abgedrückt.«
Seine Finger verkrampften sich um den Löffel in seiner Hand. Kläglich gab er zu: »Im Affekt habe ich wohl das ganze Magazin leergeschossen. Ich hatte Panik, dass ich ihn verfehle und er mir die Waffe abnimmt.«
Als Olympiasiegerin mit der Sportpistole konnte Capestan sich den Gedanken nicht verkneifen, dass bei einer so geringen Entfernung zwei Schüsse in die Bäume beinahe preisverdächtig waren. Aber man musste das Positive daran sehen, das würde für ihn sprechen.
Paul schien fertig mit seinem Bericht. Jetzt blieb nur noch die eine Frage, die Capestan wirklich auf der Seele brannte. Sie schaffte es kaum, sie zu formulieren.
»Warum hast du es mir nicht erzählt?«
»Um dich da nicht mit reinzuziehen.«
»Machst du Witze? Paul … «
Ihr Körper, ihr Leben war untrennbar mit diesem Mann verknüpft, seit sie ihn kennengelernt hatte. Obwohl sich die Verbindung leicht gelockert hatte, waren sie gerade erst wie von der Kraft eines sehr starken Gummibands wieder zueinander gezerrt worden, und er, der diesen Effekt in Gang gesetzt hatte, hatte sie »da nicht mit reinziehen« wollen?
»Wenn du das alles schon geplant hattest, warum hast du dann diese Botschaft vor mein Fenster gemalt? Warum?«
Paul senkte den Blick. Sie hatte recht, das wusste er. Aber sein Handeln hatte nichts mit Vernunft oder Logik zu tun gehabt. Sie hatten sich wiedergesehen, das hatte genügt.
»Weil ich an nichts anderes mehr denken konnte als an dich. Ich hatte das Ganze nicht durchanalysiert, ich wollte nur, dass du zu mir zurückkommst. Du doch auch, oder?«
Angesichts der Tatsachen war jede Antwort überflüssig. Er fuhr fort: »Es tut mir leid, ehrlich. Aber ich musste diese Sache allein durchziehen, ohne die Polizei, damit ich die wahren Antworten kriege, von dem einzigen Kerl, der Bescheid wusste. Ich habe nicht damit gerechnet, dass das alles so endet.«
Bei einem Soziopathen wie Ramier hätte es gar nicht anders enden können. Paul hatte sich in der Illusion eines romantisierten Verbrecherbilds gewiegt. Und er war abgehauen, anstatt sie anzurufen.
»Du hättest mich verständigen müssen. Solche Geständnisse legt man am besten sofort ab. Dann wäre da zwar immer noch das Problem mit der Waffe und den zurückgehaltenen Informationen über den Aufenthaltsort eines Flüchtigen gewesen, aber eine unmittelbar festgestellte Notwehr hätte alles viel einfacher gemacht. Warum hast du mich nicht angerufen? «
Paul zuckte mit den Schultern und rutschte ein Stück zurück, bevor er die Arme hob und ihr die Antwort lieferte, die ihm wohl am ehrlichsten erschien. »Eben weil du es warst. Hättest nicht du in dem Fall ermittelt, sondern irgendein Bulle, hätte ich wahrscheinlich angerufen. Aber ich war nicht gerade stolz auf mich, und wenn man sich wie ein Versager fühlt, ist die Frau, die man liebt, nicht die Erste, die man verständigt. Andererseits wollte ich auch niemand anderen als dich verständigen. Alles war ein einziges Chaos, ich stand völlig neben mir und auch ziemlich unter Schock, das kannst du dir ja vorstellen. Also habe ich gewartet.«
Capestans Blick verlor sich auf dem Platz. Die Tauben hockten in Reih und Glied auf dem Dach des Ateliers Brancusi. Der Regen fiel unablässig weiter, im ewig gleichen Pariser Rhythmus, verdunkelte den Asphalt, verbarg die Gesichter, tränkte die armen Kastanienbäume durch ihre Metallgitter hindurch und strömte in die Gullys, um sich mit anderen Wassern zu vereinigen.