38.
Sie erwog einen Moment lang, die Sache einfach zu begraben. Auch wenn das bedeutete, dass sie einen anderen Schuldigen finden musste. An Dreckskerlen mangelte es wahrhaftig nicht, da wäre bestimmt einer dabei, dem der Schuh passte.
Aber nein. Damit könnte sie nicht leben. Schade.
Anschließend dachte sie an den Vorschlag zurück, den Orsini ihr vor ein paar Stunden im Büro gemacht hatte: »Ich weiß nicht, ob es ein Vergeltungsakt oder ein Unfall war, aber wenn es sein muss, bin ich bereit auszusagen, dass ich dort war, dass er mich angerufen und aus Notwehr gehandelt hat.«
»Das wäre ein Meineid, Capitaine.«
»Paul hat ein Verbrechen begangen, das ich selbst begehen hätte können und vermutlich sollen. Da erscheint es mir normal, einen Teil der Schuld auf mich zu nehmen. Falschaussage, Beihilfe, was immer nötig ist.«
»Nein. Mal ganz davon abgesehen, dass es völlig lächerlich ist. Wenn ich Ihre Erinnerung auffrischen darf, Sie waren mit uns am Tatort, kurz nachdem die Leiche entdeckt wurde, und die Hälfte aller Bullen vom Quai des Orfèvres war dabei. Spätestens da hätten Sie die Sache doch irgendjemandem gemeldet, oder? «
Orsini hatte die Zähne zusammengebissen und den Kopf gesenkt. »Sie haben recht. Aber wenn ich irgendetwas tun kann … Ich will nur, dass Sie das wissen.«
»In Ordnung. Vielen Dank, Capitaine.«
Vielleicht …
Vielleicht könnte Orsini erklären, dass er einen Anruf bekommen und ihm nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt hatte, das würde Paul zumindest teilweise entlasten.
Nein. Capestan musste ihre Angst unterdrücken, dass ihr Ehemann hinter den schmutzigen Mauern eines Gefängnisses verschwinden würde, und die Ereignisse ganz nüchtern analysieren. Paul war kein Mörder, und das würden auch die Tatbestandselemente zeigen, wenn sie es endlich schaffte, sie wie bei jedem anderen Tötungsdelikt zusammenzufügen. Sie brauchte ein wenig Zeit, damit sich ihre Synapsen wieder beruhigten, denn im Augenblick schickten sie Stromstöße in alle Richtungen.
Paul wartete, immer noch zurückgelehnt, die Fingerspitzen gegen die Tischkante gepresst, bis die Neuigkeiten sich ihren Weg gebahnt hatten und Anne weitersprach.
»Und was soll ich deiner Meinung nach jetzt tun?«, fragte sie, mehr um das Schweigen zu brechen als aus irgendeinem anderen Grund.
»Mich verhaften. Es wäre mir lieber, wenn du es machst, außer natürlich, du möchtest nicht. Aber ich werde auf jeden Fall nicht türmen, dafür bin ich zu alt. Außerdem kennen die Leute mein Gesicht, da würde ich nicht weit kommen. Ich hatte geplant, mich zu stellen.«
Capestan entfuhr ein kurzes Seufzen, als sie nickte. Sich stellen. Er hatte keine Ahnung, was ihm bevorstand. Aber seine absolute Aufrichtigkeit strahlte wie ein helles Licht. Unter den Teppich dieses Mannes war nie auch nur das kleinste Staubkorn gekehrt worden.
»Er hat dir einen Brief hinterlassen?«
»Ja.«
Paul öffnete seine dicke Jacke und holte vorsichtig ein gefaltetes Blatt Papier aus der Innentasche, das er Capestan hinstreckte.
»Hier, lies ihn.«
Sie hob abwehrend die Hand. Das war etwas Persönliches. Ihr genügte eine Zusammenfassung des Empfängers.
»Lies ihn«, beharrte Paul und schob den Brief über den Tisch. »Das ist leichter für mich.«
Capestan faltete das Blatt auseinander.
Paul,
wie du weißt, war ich ein schlechter Ehemann, ein schlechter Vater, ein schlechter Polizist. Davor war ich der schlechte Sohn eines grausamen Vaters, aber das soll keine Entschuldigung sein.
Du warst ein miserabler Ehemann, genau wie ich vorausgesagt habe, aber ein guter Sohn. Ich habe deinen Mut damals nicht verstanden. Komiker zu werden, glücklich zu sein – etwas noch Gepfefferteres konntest du mir gar nicht entgegensetzen. Als ich es endlich begriffen habe, hatten wir schon fast keinen Kontakt mehr. Schade, aber so ist es nun mal.
Doch selbst aus der Ferne und ohne dass du davon erfährst, wollte ich dein Vater bleiben und auch so handeln. Ich habe eine Grenze überschritten, um deine Karriere in Paris zu finanzieren. Du hättest es bestimmt auch ohne mich geschafft, aber ich wollte daran teilhaben. Das habe ich als meine Pflicht angesehen .
Das Geld, das damals übrig geblieben ist, vererbe ich dir heute. Es ist unrechtmäßig erworben, aber ich habe die Francs im Laufe der Jahre in Euro umgetauscht, also ist es sauber. Es liegt in einem Schließfach in einem Fitnessstudio, Adresse und Code sind beigefügt.
Dein Vater, der vieles bereut, aber nichts ändern kann. Hab noch ein schönes Leben.
Papa
Capestan faltete den Brief wieder zusammen und behielt ihre Meinung über diese ebenso hochmütige wie verspätete und mehr als dürftige Reue für sich. Aber den Vorwurf, den sie ausräumen konnte, würde sie nicht stehen lassen.
»Du warst kein schlechter Ehemann.«
»Doch, natürlich. Er hatte recht. Ich war der Rolle nicht gewachsen.«
Sie schüttelte sanft den Kopf. Seit Serges Tod hatte sie genug Zeit gehabt, ihre Geschichte noch einmal zu überdenken. Im Grunde hatte sie sich wie ihr Schwiegervater verhalten. Sie hatte sich verschlossen und auch das letzte bisschen Freude um sich herum erstickt, ihre Wut schwelen lassen, knapp unter der Oberfläche, wie eine permanente Drohung, damit man sie in Ruhe ließ.
»Niemand wäre das gewesen, Paul, weil ich es nicht zugelassen habe. Dass du gegangen bist, war nur noch eine Formsache. Völlig legitim. Dein Vater hatte unrecht. Du warst ein großartiger Ehemann.«
Sie konzentrierte sich auf die Tauben, die Passanten, den Platz, den Wind, den Regen. Dann lenkte sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Paul. Sie musste Beweise für seine Aufrichtigkeit sammeln, die für sie einfach eine Tatsache war .
»Hast du die Waffe aufgehoben?«
»Ja, alles. Die Waffe, die Tasche, die Mitgliedskarte, meine schlammverkrusteten Schuhe …«
Plötzlich fielen Capestan die Spuren an ihrem eigenen Hals ein. Sie beugte sich vor. »Darf ich?«
Pauls heruntergeklappter Rollkragen offenbarte große bläuliche Flecken, die sich stellenweise schon gelb färbten. Anscheinend hatte der Schraubstock Ramier nichts von seiner Kraft eingebüßt. Aber sie durften nicht länger warten.
Von einem rein sachlichen Standpunkt aus müsste die Sache sich gut verteidigen lassen. Paul Rufus hatte aus Notwehr getötet, daran ließen die Hämatome keinen Zweifel. Die Waffe, die er unberechtigterweise mitgeführt hatte, und die Tatsache, dass er allein hatte handeln wollen, konnten darauf zurückgeführt werden, dass er nach dem Ableben seines Vaters und der Enthüllung seiner Korruptheit wenig später noch unter Schock stand. Das Geständnis war freiwillig erfolgt, zwar verspätet, aber die emotionale Situation war kompliziert: Seine Exfrau war an der Ermittlung beteiligt, und sie hatten gerade erst wieder zueinandergefunden, als Paul auf Ramier getroffen war. Verstört und traumatisiert, hatte er nicht sofort gewusst, wie er reagieren sollte. Doch sobald er bei klarem Verstand gewesen war, hatte er sich gestellt und das gestohlene Geld den Behörden übergeben.
Das könnte funktionieren.
Rosière und Merlot würden den meistgehassten Anwalt der gesamten Kriminalpolizei auftreiben, einen dieser gewieften Halunken, die die harte Arbeit von Monaten innerhalb von Minuten in der Luft zerrissen, um Ganoven rauszupauken, denen sie später nicht in einer dunklen Gasse über den Weg laufen wollten. Eine Geheimwaffe .
Sie mussten es versuchen.
Capestan scrollte durch ihre Kontakte und drückte auf den grünen Telefonhörer.
»Guten Tag, Doktor, hier spricht Commissaire Capestan. Hätten Sie Zeit für eine Begutachtung? … Es ist dringend. Im Kommissariat. Vielen Dank, bis gleich.«
Sie steckte ihr Handy wieder ein, machte sich bereit zum Aufbruch und forderte ihren Ehemann auf, dasselbe zu tun.
»Ich werde dich in Gewahrsam nehmen, Paul. Ich kann dich nicht selbst befragen, aber keine Angst – sag einfach die Wahrheit, genau wie gerade, dann wird es schon schiefgehen.«
Alles würde gut werden. Sie mussten nur nach vorne schauen.