Epilog
Mit einem Feuchtigkeitsanteil von fast siebzig Prozent war die Luft beinahe flüssig, man hätte sie durch einen Trinkhalm schlürfen können. Die französischen Polizisten, erschöpft vom Flug, der Zeitumstellung und dem Klima, hatten ihre mitgebrachten Klamotten förmlich auswringen müssen. Anschließend hatten sie zwei Tage lang die Geschäfte geplündert. Heute trugen sie alle weite Hawaiihemden mit großen Blumen und kleinen Palmen darauf, während sich ihre Nasen allmählich schälten.
Mai-Tai-trunken saßen sie vor dem Freiluftring und schwenkten die Arme, stampften mit den Füßen und feuerten ihren Landesmeister mit lautem Geschrei und schlichten Argumenten an. Die entscheidende Runde begann. Die Lautsprecher liefen zur Höchstform auf. Junge Frauen in der hiesigen, sicher auch Go-go-Tanz-geeigneten Tracht – Baströckchen und Ketten und Kränzen aus Tiareblüten – spazierten im Ring auf und ab und präsentierten den aktuellen Punktestand oder Werbeschilder von Philips. Das große Finale des Goldenen Bügeleisens 2012 war voll besetzt.
Torrez’ Kinder legten die gleiche Zurückhaltung an den Tag wie die Brigade – also gar keine. Doch es sah nicht gut aus für ihren Vater. Er trat gegen die Siegerin der beiden Vorjahre an, eine ein Meter achtzig große Kanadierin, die ihr Bügelbrett jedes Mal fast zum Bersten brachte, wenn sie das Eisen daraufknallte. Neben ihr thronte Bruce Lee, der Erneuerer des kulturellen Erbes, auf seinem steinernen Sockel. Die Rocky -Melodie dröhnte aus den überlasteten Lautsprechern. Torrez’ jüngster Sohn bebte vor Anspannung. Die Mädchen zupften an ihren Zöpfen und fixierten den Ring, ohne auch nur einmal zu blinzeln. Die beiden Ältesten knufften einander aufgeregt in die Seiten. Die Ehefrau des Lieutenants, eine spanische Schönheit mit braunem Haar und edlem Profil, kaute nervös auf ihrer Lippe herum, während sie ihre Sprösslinge im Blick behielt. Es ging los.
Torrez schloss eine Sekunde lang die Augen, bevor die Pfeife ertönte. Hier hatte er, anders als anderswo, alle Chancen. Im Finale wurde noch eine Schippe draufgelegt, man begnügte sich nicht mehr nur mit Hemden. Und auf diese Herausforderung war er vorbereitet, dafür trainierte er seit Jahren.
Die Kanadierin bügelte mit einer Sekunde Vorsprung los. Ein absichtlicher Fehlstart. Egal. Der Lieutenant griff nach dem ersten Hemd, dem zweiten, dem dritten. Bei einem Ärmel nahm er einen Rückstand in Kauf, aber er hielt seinen Rhythmus, so gut es ging. Mit schweißüberströmtem Gesicht und durchweichtem T-Shirt, konzentrierter als ein Sternekoch zur Stoßzeit, bearbeitete er die Kragen, ohne sich die geringste Pause zu gönnen. Seine Kontrahentin beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. Sie hatte ihren ersten Korb beinahe geleert, während Torrez erst bei der Hälfte war. Ein kleines Lächeln huschte unwillkürlich über ihre vor Anstrengung verzerrten Züge.
»Sie hat alle Knopfleisten versaut, du holst sie bei den Knitterfalten wieder ein«, rief Rosière. Sie hatte sich eingelesen.
»Nur nicht verzagen, mein Freund«, rief Merlot, stolz auf seinen Kollegen.
»Ja, ja, ja! Los, los, los! Hipp, hipp, hurra«, stimmte Dax lauthals ein.
»Ja, ja, ja! Los, los, los! Hipp, hipp, hurra«, bestätigte Lewitz.
Capestan, Lebreton und Évrard klatschten aus Leibeskräften, um dem Lieutenant durch eine schwierige Phase zu helfen. Selbst Orsini sprang irgendwann auf und stieß ein ebenso überraschendes wie geistesabwesendes »Vorwärts!« aus, ehe er sich schnell wieder setzte. Seit sie den Fall gelöst hatten, war der Capitaine in eine hartnäckige Depression versunken. Er hatte zu lange gesucht, zu lange gewartet, und am Ende zu spät gehandelt. Die Wahrheit ließ ihn ohne offene Fragen zurück, ohne Ablenkung, dafür mit unendlich viel Zeit, über seinen Schmerz und das Unwiederbringliche nachzugrübeln.
Schließlich nahm auch Torrez seinen zweiten Korb in Angriff. Bis zur letzten Zuschauerreihe spürte man, wie er plötzlich die Zügel schießen ließ. Die Kleidungsstücke folgten in rasender Geschwindigkeit aufeinander. Mit fachmännischen Bewegungen hob er die Ärmel an, drehte die Hemdbrust und zielte mit der Spitze des Bügeleisens auf den Millimeter genau. Seine Haare peitschten in wirren Strähnen durch die Luft. Mit einer raschen Armbewegung wischte er sich hin und wieder den Schweiß von der Stirn, auch wenn er sich dabei fast an der Dampfstation verbrannte.
Der Schlusspfiff.
José Torrez hatte seinen Rückstand aufgeholt, und beide Körbe hatten sich gleichzeitig geleert.
»Knitterfalten! Knitterfalten!«, skandierte das Publikum.
Der Schiedsrichter griff nach seinem Mikro. »Unsere beiden Kontrahenten haben exakt die gleiche Menge an Kleidungsstücken gebügelt. Also muss die Anzahl der Knitterfalten diesen Wettkampf entscheiden. Bitte gedulden Sie sich noch ein paar Minuten.«
Die Expertenjury betrat den Ring und begutachtete mit größtem Ernst die Wäschestapel, die sich ihrer Fachkenntnis darboten. Das Publikum erging sich unterdessen in wildesten Spekulationen und kaute sich reihenweise die Fingernägel ab. Endlich verließen die Experten den Ring wieder, und der gegelte Schiedsrichter umklammerte sein Mikro so leidenschaftlich wie der King in Las Vegas.
»Und hier die Ergebnisse, auf die wir alle gewartet haben … Knitterfalten bei den Hemden: für den Franzosen José Torrez einundfünfzig Prozent, für die Kanadierin Martha Kitimat zweiunddreißig Prozent.«
»Buuuh«, machten die französischen Fans, während die Kanadier in begeisterten Jubel ausbrachen.
»Es geht noch weiter, es geht noch weiter«, rief der Schiedsrichter beschwichtigend, um die Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. »Knitterfalten bei den Kinderkleidern: Kanada achtundsechzig Prozent, Frankreich null Prozent. Sie haben richtig gehört, meine Damen und Herren, null Prozent! Das ist unglaublich, ein neuer Rekord, ein perfektes Finish. So etwas erreichen Sie nur mit der Philips Pro Dampfbügelstation, erhältlich in jedem gut sortierten Elektromarkt und im Fachhandel. Bitte, sehen Sie selbst!«
Dutzende makellos gesmokte Minifalten, die sich unter geschickt gebundenen Schleifen aneinanderreihten, Strampelhosen aus gekämmter Baumwolle ohne eine einzige Falte rund um die Druckknöpfe – der Schiedsrichter präsentierte hier wahre Kunstwerke und vertraute sie nach und nach den jungen Hawaiianerinnen an, die sie vor dem ebenso beeindruckten wie beschwipsten Publikum auf und ab trugen.
»Damit ist der Franzose José Torrez der Gewinner des Goldenen Philips-Bügeleisens 2012. Einen tosenden Applaus, meine Damen und Herren!«
Der Lieutenant strahlte. Seine Kinder jauchzten, sprangen auf ihren Stühlen herum und einander in die Arme, klatschten und brüllten ihre Freude über diesen weltmeisterlichen Vater heraus. Weltmeister!
Der explosionsartige Beifall im französischen Lager der Zuschauer wurde mit jeder Sekunde lauter. Die Familie, die Kollegen und die Touristen auf der Durchreise überschrien sich gegenseitig. Diesen Eindruck hatte zumindest die völlig benommene Anne Capestan. Sie betrachtete ihren Partner, dessen Gesicht strahlte wie noch nie und dessen gedrungene Gestalt vor Glück ein paar Zentimeter wuchs. Sie freute sich ehrlich für ihn. Und sie war dankbar für diesen Ausflug unter Kollegen, zu dem sie die großzügige, die königliche Eva Rosière anlässlich des wenig bekannten Wettkampfs eingeladen hatte.
Trotzdem fiel es ihr schwer, das Ereignis gebührend zu würdigen. Vielleicht lag es an der Reise oder, was wahrscheinlicher war, an den schwierigen Umständen, die sie zu Hause in Paris erwarteten, aber sie fühlte sich irgendwie angeschlagen. Außerdem war ihr schrecklich übel.