Vorwort von Antje Rávik Strubel
Noch immer ist es so: Die eine große amerikanische Intellektuelle der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Susan Sonntag, ist auch in Deutschland vielen bekannt. Bei der zweiten, nicht weniger einflussreichen und stilprägenden großen Essayistin Joan Didion werden die Kenntnisse schon dünner. Manche kennen Didions großes Trauerbuch über den Tod ihres Mannes, des Schriftstellers John Gregory Dunne, Das Jahr magischen Denkens, das 2005 in den USA erschien und zum internationalen Bestseller wurde. Andere haben ihren Namen schon einmal gehört, sind sich aber unsicher und schreiben ihren Vornamen wie den von Joanne K. Rowling oder sprechen ihren Nachnamen französisch aus, sodass Didion klingt wie eine berühmte französische Senfsorte. Dabei könnte diese Autorin kaum amerikanischer sein.
Geboren 1934 im kalifornischen Sacramento, einer alten Goldgräberstadt im westlichsten Westen zwischen Obstplantagen und Sacramento River, als Nachfahrin der ersten weißen Siedler, die seit den 1850er-Jahren die Sierra Nevada überquerten und die Westküste besiedelten, schrieb sich Joan Didion ab den 1960er-Jahren tief ins kulturelle amerikanische Gedächtnis ein. Als eine der ersten Intellektuellen widmete sie sich dem mit der Counterculture von der Westküste ausgehenden Wertewandel innerhalb der amerikanischen Gesellschaft, beginnend bei den Blumenkindern von San Francisco über die Black-Power-Bewegung, die Studentenunruhen, die Frauenbewegung bis hin zu den Vietnamprotesten. Später beobachtete sie mit dem Einzug von Ronald Reagan ins Weiße Haus das Aufkommen einer neuen rechten Strömung, womit sie bereits in den 1980er-Jahren die Polarisierung der Gesellschaft und den Siegeszug der Populisten vorhersah, die mit Trump ihren bisherigen Höhepunkt erreichten. In gesellschaftskritischen und sprachskeptischen Essays sezierte sie mit spitzer Feder und präziser Schärfe Wahlkämpfe der Republikaner und Demokraten, die wachsende Korrumpierbarkeit amerikanischer Politik, immer wieder den amerikanischen Traum, auch am Beispiel von Hollywood, und zweifelte 1991 in einem großen Artikel über den sogenannten Central Park jogger case in der New York Times Book Review die Rechtmäßigkeit der Verurteilung von fünf latein- und afroamerikanischen Jugendlichen an, was zur Aufdeckung des größten Justizskandals der jüngeren US-Geschichte beitrug und eine breite Rassismusdebatte auslöste.
Die im vorliegenden Band versammelten Essays werfen ein Schlaglicht auf Didions Œuvre, das von den 1960er-Jahren, als sie mit Slouching towards Bethlehem fulminant die intellektuelle Bühne betrat, bis in die Gegenwart hineinreicht. Allerdings stehen diese Essays weniger im Rampenlicht des rein Politischen und verweisen damit stärker auf den Kern des Didion’schen Schreibens an sich. Denn neben zentralen Themen bilden sich in diesen Essays vor allem der schriftstellerische Werdegang und die poetologische Herangehensweise Didions ab. »… meine Aufmerksamkeit galt immer der Peripherie, dem, was ich sehen, schmecken und berühren konnte, der Butter und dem Greyhound-Bus«, heißt es im Essay Why I write – Warum ich schreibe.
Bei der Zeitschrift Vogue lernte Joan Didion das Handwerk, die Präzision, das Kürzen, aber auch das Selbstvertrauen, überhaupt eigene Worte gegen die übermächtigen Zweifel aufs Papier zu bringen. Bei Hemingway ging sie hinsichtlich stilistischer Fragen in die Lehre. Und eine aufmerksame Selbstbeobachtung während des Schreibens schärfte ihren poetologischen Blick auf gedankliche Bilder, aus denen Romane hervorgehen können. Didions Stil, der am New Journalism geschult ist, den sie allerdings zu einem so eigenen Sound entwickelte, das er über Jahrzehnte hinweg ganze Generationen prägte, ist mit unzähligen Attributen gerühmt worden; ihm werden Klarheit, Schärfe, Präzision, Kühnheit und Wahrhaftigkeit attestiert.
Im Grunde beruht ihr Schreiben auf drei Komponenten: der kalifornischen Herkunft, einer großen Sprachskepsis und dem Wissen um das Vergängliche, um die Allgegenwärtigkeit des Todes. Diese drei Dinge sind das Brennglas ihrer Überlegungen.
Immer wieder beschäftigte Didion der mit der Besiedlung der Westküste entstehende Frontier-Mythos, dieses Idealbild von einem Alles-ist-möglich-Amerika, das mit dem Versprechen unendlichen Reichtums lockt und bis heute das amerikanische Selbstverständnis prägt. Es sind die ersten Siedler mit ihrer Härte, ihrem Pragmatismus und ihrem schieren Überlebenswillen, die Didions Vorstellungskraft fesseln. Seit ihrem ersten Roman Menschen am Fluss dienen ihr die kalifornische Mentalität und die landschaftlichen Besonderheiten Kaliforniens oft als Ausgangspunkt ihrer kulturellen und politischen Analysen, nicht zuletzt, weil sie von sich selbst, von ihrer eigenen Befindlichkeit, ihrer konkreten persönlichen Erfahrung ausgeht und alles durch die Schleuse subjektiven Erlebens schickt. So beschreibt sie in ihrem Essay Eine Reise nach Xanadu den luxuriösen Landsitz der Hearsts als Sinnbild dieses uramerikanischen Mythos, wie sie ihn als Kind empfand. Und während sie 1968 noch vom Verlustpotenzial spricht, das diesem Mythos innewohnt, weil der kindliche Blick eben irgendwann verloren geht und alles im Leben Veränderungen unterliegt, stellt sie in späteren Texten den Sturz des Mythos von seinen traumhaften Höhen in eine staubige Leere dar. In ihrem Essayband Woher ich kam und in Reportagen über die Südstaaten, über Miami und El Salvador entlarvt sie dieses das politische Großmachtgehabe der USA befeuernde Bild vom strahlenden selbstbestimmten Helden als eines der Gier, der Rücksichtslosigkeit und der entfesselten Brutalität, was sich auch in Romanen wie Das Letzte, was er wollte oder Demokratie niederschlägt, die sich um illegale Waffengeschäfte der US-Regierung drehen, ob in Lateinamerika oder im Vietnamkrieg.
Bei allem politischen Interesse, aller gesellschaftsanalytischen Schärfe schreibt Didion aus dem grundsätzlichen Bedürfnis heraus, das eigene Denken zu durchleuchten und zu verstehen. »Ich schreibe ausschließlich, um herauszufinden, was ich denke, was ich anschaue, was ich sehe und was das bedeutet. Was ich will und wovor ich mich fürchte«, heißt es im Essay Why I write – Warum ich schreibe. Und dabei denkt sie vom Ende her. Sie betrachtet das Dasein vor dem Hintergrund seiner Vergeblichkeit. Angesichts des Vergänglichen, einer letzten Sinnlosigkeit allen Handelns sieht sie es als ihre moralische Pflicht, unsauberes Denken offenzulegen, bei sich selbst und eben auch bei anderen. So ist der wichtigste Gegenstand ihrer Beobachtung die Sprache selbst, in der sich das Denken ausdrückt. Denn nicht erst im Inhalt der Worte, sondern bereits in der sprachlichen Form stecken die Unsauberkeiten, Scheinheiligkeiten, die Kniffe und Tricks, mit denen wir uns so gern selbst betrügen und die Welt besser reden, als sie ist. Die Struktur der Sätze ist Teil der Aussage. Ändert man die Reihenfolge der Wörter in einem Satz, ändert sich seine Aussage. Das ist auch ein Didion-Befund. In Das Jahr magischen Denkens schreibt sie: »Sogar schon als Kind und lange bevor das, was ich schrieb, überhaupt veröffentlicht wurde, entwickelte ich ein Gefühl dafür, dass der eigentliche Sinn bereits im Rhythmus der Worte und Sätze und Abschnitte angelegt ist; eine Technik, um genau das zu verschweigen, was sich, wie ich vermutete, hinter einer immer undurchdringlicheren Fassade befand.«
Sie interessiert sich dafür, wie über die Dinge gesprochen wird, ob es die Ästhetik Mapplethorpes betrifft oder ein Jahrestreffen von Veteranen des Zweiten Weltkriegs oder ob es um Martha Stewart geht, eine der ersten Influencerinnen im großen Stil, die sich als Autorin und Fernsehköchin ein Imperium aufbaute und in den 1990er-Jahren in den USA zum Star in Sachen Kochen und Hauswirtschaft avancierte. Das, was die Menschen sagen und wie sie es sagen, ist das Material, in dem Didion mit literarischem Skalpell ganze Ideologien offenlegt. Eine genaue Untersuchung solchen Sprachmaterials führt Didion wunderbar anschaulich am Beispiel von Hemingway vor, diesem Autor, dessen Satzbau sie schon als Jugendliche studierte, indem sie seine Sätze abtippte.
Didions sprachskeptischer Impuls ist es auch, der sie in Alicia und die Untergrundpresse die angeblich objektive Berichterstattung großer Medien anzweifeln lässt. Wo schon die Anordnung der Worte subjektiven Entscheidungen der Autorin folgt, ist eine Berichterstattung, die vorgibt, objektiv zu sein, nicht wahrhaftig. Diese Einschätzung ist ganz im Sinne des New Journalism, ein Terminus, den Tom Wolfe in den 1970er-Jahren prägte und der eine journalistische Schreibweise meint, bei der Fakten mithilfe literarischer Techniken und einer erzählerischen Herangehensweise präsentiert werden und der Standpunkt der Autor*innen offenkundig ist. Didion geht häufig darüber hinaus. Selbst das körperliche Empfinden, eine Migräne oder nervöse Unruhe kann bei ihr zum Seismografen kultureller Erschütterungen werden.
In jedem Fall trifft das, was sie über Hemingway schreibt, auf sie selbst ebenfalls zu: Auch Didion hat »den Rhythmus dessen verändert, wie sowohl [ihre] Generation als auch mehrere der kommenden Generationen reden, schreiben und denken«. Unzählige Autor*innen versuchen sich an diesem messerscharfen Formulieren, das trotz des ernüchterten, desillusionierten Blicks auch kleinste emotionale Schwingungen zu erfassen vermag und immer wieder den Nerv einer Zeit, einer gesellschaftlichen Bewegung, eines kulturellen oder politischen Phänomens trifft und die Syntax der Macht wie nebenbei dekonstruiert. Auch weil Didion eine solche Meisterin darin ist, das Periphere, scheinbar Nebensächliche, das ganz Persönliche aufs Wesentliche hin zu lesen: als Ausdruck des Gesellschaftlichen. Daraus scheint sich dieser paradoxe, berauschende Mix aus kühler Distanz bei gleichzeitig größtmöglicher Nähe zu speisen, der ihre Texte so einzigartig macht. Die literarische Autofiktion oder die soziologisch-autobiografischen Texte einer Annie Ernaux, die gegenwärtig so en vogue sind, wären ohne Didion in dieser Form kaum denkbar.
Didions stilistische Radikalität erreichen jedoch nur wenige.
Und so, wie Didion mir und vielen anderen zum Vorbild und zur bewunderten literarischen Begleiterin wurde, dienten ihr wiederum nicht nur Ernest Hemingway, sondern auch Henry James und George Eliot als Lehrmeister*innen, neben Joseph Conrad, an dessen kulturpessimistischer Haltung sie ihre Beobachtungsgabe geschult hat. Sie sei, schrieb sie einmal, »mit der Überzeugung aufgewachsen, dass das Herz der Finsternis nicht in einem Fehler der gesellschaftlichen Ordnung, sondern dem Menschen im Blut« liege. »Wenn es den Menschen bestimmt ist, Fehler zu machen, dann ist notwendigerweise jede gesellschaftliche Ordnung fehlerhaft.«
Denn man darf sich nicht täuschen. Didion ist keine Autorin, die auf die Barrikaden geht. Der große öffentliche Auftritt, die Polemik, die Rolle der moralischen Aufklärerin sind ihre Sache nicht. Sie ist eine Wirklichkeitsseziererin. Ihr Anti-Illusionismus macht dem Vertrauen darauf, dass die Welt sich bessert, keine Zugeständnisse. Sie erschüttert vielmehr das Fundament und lässt uns zurück inmitten eingestürzter Bauten. Sie ist die skeptische Beobachterin, die aufmerksame Zuhörerin und dabei von so kleiner und unscheinbarer Gestalt, dass die Leute ihre Anwesenheit vergessen, wie sie einmal sagte. Und da liegt ein weiteres ihrer Geheimnisse verborgen: Ob es sich um Nancy Reagan, Veteranen oder Spielsüchtige handelt, in Didions Gegenwart achten sie nicht mehr auf das, was sie sagen. Und das lässt in Didion Bilder entstehen, Bilder, die an den Rändern schimmern und uns, den Leser*innen, das Material sichtbar machen, aus dem sich die Wirklichkeit zusammensetzt. »Man nimmt sich zurück«, schreibt Didion. »Man bleibt still. (…) man bewahrt das Nervensystem vor dem Kurzschluss und versucht, die Katze im Schimmern zu verorten, die Grammatik im Bild.«