Inneren Frieden finden

»Was mich betrifft«, sagte die junge Frau, »läuft es in den sieben Monaten, seit ich das Programm mitmache, richtig gut. Ich war eine Pokerspielerin, spielte ausschließlich in Gardena, Lowball. Ich spielte nachts, wenn ich die Kinder ins Bett gebracht hatte, und natürlich kam ich nie vor fünf Uhr morgens nach Hause, und mein Problem war, dass ich dann nicht schlafen konnte. Ich spielte jeden einzelnen Zug nach, und deshalb war ich am nächsten Tag, also, müde. Gereizt. Zu den Kindern.«

Sie klang wie jemand, der seine Art, vor Publikum zu sprechen, aus Schmerzmittelwerbungen hatte, verkaufte aber nicht wirklich ein Produkt. Sie legte eine »Beichte« ab auf einem Treffen der Anonymen Spieler, an dem ich vor Kurzem teilnahm, um neun Uhr an einem Winterabend im Clubhaus einer Bungalowsiedlung im kalifornischen Gardena.

Gardena ist die Hauptstadt des Draw Pokers im Los Angeles County (kein Stud Poker, kein Alkohol, die Clubs sind zwischen fünf und neun Uhr morgens geschlossen und am ersten Weihnachtsfeiertag ganz; das ist nicht Nevada, sondern Kalifornien, wo es nur Draw Poker gibt und nur auf lokaler Ebene), und die verführerische Nähe der Pokerclubs hing über diesem speziellen Treffen wie eine paraphysische Substanz, fast so greifbar wie die Porträts von Washington und Lincoln, die amerikanische Fahne, die Plastikhortensien und der Tisch, den das Erfrischungskomitee gedeckt hatte. Direkt um die Ecke wartete es, das Abenteuer, und hier, in diesem überhitzten Raum, unruhig auf ihren Stühlen herumrutschend und durch den Zigarettenrauch blinzelnd, saßen vierzig Leute, die es ersehnten. »Dieses Gardena«, hauchte ein junger Mann. »Es hat mich zerstört.« Der junge Mann, der sagte, dass er im technischen Zeichnen an der Van Nuys High School okay gewesen sei, war zweiundzwanzig Jahre alt und trug das Haar in einer spitzen 1951er-Entenschwanzfrisur, was vielleicht andeutete, in welchem Ausmaß er, wie alle anderen im Raum, nach einer anderen Pfeife tanzte. »Ich habe kein Vermögen verloren«, sagte er, »aber ich habe alles Geld verloren, das ich in die Finger bekam, bei der Marineinfanterie hat es angefangen, in Vietnam habe ich viele Zocker getroffen und habe leichtes Geld gemacht, und das war, könnte man sagen, die Phase in meinem Leben, die, also, zu meinem Untergang geführt hat.«

Der Rauch wurde dichter, die Bekundungen heftiger. So viele Offenbarungen einer ganz bestimmten Sorte hatte ich nicht mehr gehört, seit ich mich in Greyhound-Bussen in Gespräche gestürzt hatte in der irrigen Annahme, das wäre eine gute Art, etwas über das Leben zu lernen. »Wisst ihr, ich hatte gerade eine große Summe Geld von meinem Arbeitgeber veruntreut«, erzählten sie einander, und: »Ich war auf dem Weg zu einem Treffen in Canoga Park, und auf dem Freeway drehte ich um, das war letzten Mittwoch. Ich landete in Gardena, und jetzt steh ich wieder kurz vor der Scheidung.« Mea culpa, schienen sie zu rufen, und viele von ihnen hatten das schon am vergangenen Abend gerufen und am Abend zuvor: Jeden Abend gibt es irgendwo in Los Angeles ein Treffen der Anonymen Spieler, irgendwo in Long Beach oder Canoga Park oder Downey oder Culver City, und im Idealfall sollte man an fünf oder sechs von ihnen teilnehmen. »Zum Treffen in Gardena habe ich es vorher nie geschafft«, erklärte jemand, »und zwar nur aus dem einfachen Grund, dass mir jedes Mal der kalte Schweiß ausbricht, wenn ich nur auf dem Freeway an Gardena vorbeikomme, aber heute Abend bin ich hier, denn jeder Abend, an dem ich es auf ein Treffen schaffe, ist ein Abend, an dem ich nicht spiele, was mit Gottes Hilfe und dank euch, Leute, jetzt schon 1223 Abende sind.«

Die Art, in der sie miteinander redeten, hatte einige Besonderheiten. Wie Horoskopleser (und vielleicht waren einige von ihnen das tatsächlich) verfolgten sie nicht nur ihre eigenen wichtigen »Daten« fanatisch, sondern auch die der anderen (»dritter Dezember 65, das war ein schlechter Tag für mich, denn an diesem Abend stellte ich den ersten gefälschten Scheck über die Summe von 343 Dollar aus, aber für Frank L. war es ein wichtiger Tag, denn ein Jahr später hatte Frank L. sich seit genau acht Monaten in seinem Job gehalten, auch wenn er ihn anschließend verlor, was zeigt, dass einige von uns genau an dem Tag kämpfen, an dem andere von uns ins Schlittern kommen, und das ist das Wunder der AS«); sie redeten grundsätzlich wie aus einem subverbalen Sumpf heraus, nach Worten schnappend, die vorbeitrieben. »Jetzt, wo ich das Programm mitmache, bin ich in meiner Familie wieder aufgehoben«, sagte jemand, und: »Das Wichtigste, was ich derzeit aus dem Programm mitnehme, ist meine, äh, mentale Stärke.« »Wie ihr alle wisst, habe ich am Abend des 28. November drüben im Normandie Club meinen absoluten Tiefpunkt erreicht«, sagte ein anderer, »und danach habe ich meinen inneren Frieden gefunden.« »Das ist mein Traum«, fügte jemand hinzu, »inneren Frieden zu finden.«

Nichts daran war ausdrücklich falsch, und doch stimmte etwas nicht, etwas war beunruhigend. Zuerst dachte ich, es würde daran liegen, dass viele der Teilnehmer eine Vorliebe dafür hatten, sich da­rin zu gefallen, wie »machtlos« sie waren, wie sehr sie von Mächten gebeutelt wurden, die sie nicht kontrollieren konnten. Es gab jede Menge Gerede über Wunder und höchste Autoritäten und eine MachtDieGrößerIstAlsWir; das Programm der Anonymen Spieler neigt wie das der Anonymen Alkoholiker dazu, die eher passive Haltung der Abhängigen zur eigenen Situation noch zu verstärken. (Der erste der »Zwölf Schritte« der AS besteht darin, zuzugeben, dass das eigene Leben »nicht mehr« gemeistert werden kann. Fünf Schritte weiter, immer noch wird danach gehandelt, erklärt man, man sei bereit, »diese Charakterfehler beseitigen zu lassen«.) »Mein Nachbar hat mich nach Hollywood Park mitgenommen; einen großen Gefallen hat er mir damit getan«, sagte jemand an diesem Abend. »Sie sollten dieses Gardena zerbomben«, flüsterte ein junger Mann mir inbrünstig zu. »Wer als Jugendlicher einmal diesen Ort betritt, ist abhängig fürs Leben.«

Aber natürlich stellt sich immer heraus, dass mea culpa nicht gänzlich mea ist. Und immer gibt es Kaffee zu trinken und einen Kuchen anzuschneiden: Frank L. hatte »Geburtstag« bei den Anony­men Spielern. Nach sechs Jahren Programm hatte er es endlich geschafft, ein ganzes Jahr lang nicht zu spielen, und wurde mit einer Jahresnadel geehrt (»Frank L., ich möchte, dass du eins nicht vergisst, die Jahresnadel ist nur ein Zeichen, nur ein Lesezeichen im Buch des Lebens«) und mit einem Kuchen, einem weißen Kuchen mit einer Aufschrift aus rosa Zuckerguss: WUNDER GESCHEHEN stand da­rauf. »Es war nicht einfach«, sagte Frank L., im Kreis seiner Frau, seiner Kinder und seiner Schwiegereltern. »Aber in den letzten drei, vier Wochen ist bei uns zu Hause … innerer Frieden eingekehrt.« Da war es also wieder. Ich bin dann schnell gegangen, ehe irgendjemand noch einmal »innerer Frieden« sagen konnte, denn das ist ein Wort, das ich mit dem Tod in Verbindung bringe, und nach diesem Treffen wollte ich mehrere Tage lang nur an Orten sein, wo die Lichter hell waren und niemand die Tage zählte.


1968