»Ich hoffe, Sie halten mich nicht für einen Hippie«, sagte der Mann, mit dem ich mich im Crown Room des Stardust Hotels auf dem Las Vegas Strip in Las Vegas, Nevada, unterhielt. »Ich lasse mir nur irgendwie, also, diesen Bart wachsen.« Auf seinem Namensschild stand Skip Skivington. Er war vermutlich Anfang vierzig, und 1944 war er mit der 101. Luftlandedivision in Bastogne gewesen, er hatte eine leise und zögerliche Art zu sprechen, und ich hatte ihn nicht für einen Hippie gehalten. Es war der erste Abend des 23. Jahrestreffens der 101. Luftlandedivision, das vor Kurzem an einem Wochenende in Las Vegas stattfand. Draußen brannte der spätsommerliche Himmel den ganzen Tag und die ganze Nacht, und drinnen war es fortwährend kalt, es gab Teppichboden und keine erkennbare Tages- oder Nachtzeit, und hier, im Crown Room des Stardust, befanden sich neben sehr vielen Ehefrauen und ein paar Kindern einige Hundert Überlebende aus der Normandie, Bastogne, Ardennenoffensive. Ich war von Los Angeles gekommen, um sie ausfindig zu machen, und ich wusste, dass es mir gelungen war, als ich die Bar des Stardust betrat und ein paar Männer in Sportshirts und Überseemützen sah. »Jetzt warte doch mal«, hatte einer der Männer gesagt, »ich muss erst mein Bierchen austrinken.« Am Nachmittag hatten sie den Pool des Stardust für eine Bierparty requiriert, und stellten sich jetzt an einem Büfett zum Abendessen an (Roastbeef, Schinken, Krautsalat, in Scheiben geschnittene Rote Beete, in Scheiben geschnittene Tomaten, Käsescheibletten und Brötchen), füllten sich die Teller, suchten sich einen freien Tisch und klickten die Spielzeugknackfrösche aus Metall, die der 101. Division am D-Day zur gegenseitigen Erkennung gedient hatten. »General McAuliffe. General«, rief ein verwitterter Mann mit Schiffchen, als er sich seinen Weg zwischen den Tischen hindurchbahnte, an der Hand ein kleines Kind von etwa zwei oder drei Jahren. »Schau dir den Jungen an. Ich wollte dir den Jungen zeigen.«
Fast alle anderen hatten zu diesem Zeitpunkt Freunde und einen Tisch gefunden, aber Skip Skivington stand immer noch neben mir. Er erzählte mir von seinem Sohn. Sein Sohn, sagte er, sei seit dem Muttertag in Vietnam vermisst. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, aber weil Skip Skivington sich in der Luftlandevereinigung engagierte, fragte ich ihn, ob sein Sohn zur 101. Division gehört habe. Der Vater schaute mich an, dann schaute er weg. »Ich habe ihm das ausgeredet«, sagte er schließlich. Er griff in seine Hosentasche und holte einen Zeitungsausschnitt hervor, aufbewahrt in durchsichtiger Klarsichtfolie, eine Geschichte über seinen Sohn: welche Highschool er besucht hatte, die Nachricht, dass er vermisst wurde, das Gefecht, bei dem er zuletzt gesehen worden war. Es gab einen Schnappschuss von seinem Jungen, das Gesicht undeutlich in den gerasterten Pünktchen, ein blonder Achtzehnjähriger, der auf einem Felsen sitzt und lächelt. Ich gab Skip Skivington den Ausschnitt zurück, und ehe er ihn wieder in die Tasche schob, schaute er ihn lange an, glättete eine imaginäre Falte und betrachtete prüfend das Stück Zeitung, als enthielte es eine Antwort.
Das undeutliche Gesicht des Jungen und das deutliche Gesicht des Vaters blieben mir den ganzen Abend über im Gedächtnis, das ganze Wochenende über, und vielleicht waren es ihre Gesichter, die diese wenigen Tage in Las Vegas mit so vielen unausgesprochenen Fragen aufluden, mit Mehrdeutigkeiten, die kaum wahrnehmbar waren. Ansonsten war das Jahrestreffen ein unbeschwertes Ereignis. Die Ehefrauen trugen hübsche Kleider, und allen gefiel Las Vegas, sie waren sich einig, dass es definitiv der richtige Ort für ein solches Jahrestreffen war (»Ich war auf jedem dieser Treffen, und nie habe ich so viele Jungs gesehen wie hier in Vegas, Vegas ist definitiv der Ort dafür«), sie waren sich einig, dass die Lido Revue im Stardust – ja, nackte Brüste sind risqué, aber die Mädchen waren einfach entzückend, und das Ganze war geschmackvoll gemacht, besonders die Eistanz-Sequenz – ein echtes Kunstwerk war. Versammlungen waren abzuhalten, Gold-Star-Müttern wie Mrs C. J. (Mom) Miller war Anerkennung zu zollen. Die Vereinigung hatte einen neuen Präsidenten, der ins Amt eingeführt werden musste. »Danke, Bernie, Kameraden der Screaming Eagles«, sagte der neue Präsident, »Männer der 101., Dank auch unseren Frauen, unseren Freunden, unseren Gold-Star-Müttern …«
In einem Gruppenraum fand ein Lunch der Ehefrauen statt. »Am Nachmittag werde ich mich durchs Hotel treiben lassen. Ich werde diesen Saal nicht vor zwei Uhr betreten«, sagte eine Frau, mit der ich mich unterhielt. Armeefilme wurden gezeigt, und ich saß mit einigen Ehefrauen in der kühlen Dunkelheit und erfuhr etwas über die Zukunft des Waffenkommandos, die Aufgabe des Beschaffungswesens. Die Ehefrauen streiften ihre Schuhe ab und konsultierten Papierschnipsel. »Mal abgesehen von ein paar Vierteldollar am Flughafen«, sagte eine von ihnen, »haben wir gestern siebenundzwanzig Dollar verloren und heute zwölf Dollar gewonnen. Das ist nicht schlecht, das ist nett.« Telegramme mussten an die 101. in Vietnam verschickt werden (»Keep that Eagle Screaming«), und Telegramme mussten gelesen werden, von Hubert Humphrey (»Wir sind als Nation nicht vom Weg abgekommen, sondern suchen einen besseren Weg«). Es gab sogar einen Raum für Jugendliche, wo ein paar Kinder auf Klappstühlen saßen und eine Wurlitzer Jukebox mit mürrischer Langeweile bedachten.
Und natürlich wurden Reden gehalten. Maxwell Taylor kam, um Parallelen zwischen der Ardennenoffensive und der Tet-Offensive aufzuzeigen. »Die Art, wie darüber berichtet wurde, erweckte bei vielen Menschen zu Hause den Eindruck, dass wir die Ardennenoffensive verloren, so, wie es jetzt bei ihnen den Eindruck erweckt, dass …« Ein Oberst kam aus Vietnam eingeflogen, um den Gästen zu versichern, dass die dortigen Operationen sich durch hohen Esprit und robuste Entschlossenheit auszeichneten, dass »die Männer in Vietnam genauso sind, wie ihr und ich es vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren waren«. Gen. Anthony McAuliffe kam, der Mann, der gesagt hatte: »Unsinn!«, als die Deutschen in Bastogne die Kapitulation verlangten, und sagte, dass er nächstes Jahr mit der Gruppe in die Niederlande reisen würde, um den 25. Jahrestag der europäischen Invasion zu begehen. »Wir werden unsere niederländischen Freunde besuchen«, sagte er, »und Erinnerungen an dieses große Abenteuer, das wir dort hatten, wiederaufleben lassen.«
Und natürlich, er hatte recht, das war es. Sie hatten wirklich ein großes Abenteuer erlebt, ein existenzielles Abenteuer, und beinahe jeder im Raum war zum Zeitpunkt des Erlebnisses neunzehn oder zwanzig Jahre alt gewesen, und sie hatten überlebt und waren nach Hause zurückgekehrt, und ihre Ehefrauen hatten Söhne geboren, und jetzt waren diese Söhne neunzehn, zwanzig Jahre alt, und vielleicht war es diesmal kein so großes Abenteuer. Vielleicht war es schwierig, dem Halten einer Stellung in einem oder zwei vietnamesischen Dörfern dieselbe Dringlichkeit zu verleihen, die sie der Befreiung Europas verliehen hatten. An jenem Abend, als die Reden gehalten wurden, saß ich neben Walter Davis und seiner Frau, die ein weiches Gesicht hatte und ein feines schwarzes Kleid trug. Walter Davis war 1944 über den Niederlanden abgesprungen und arbeitet heute für die Versicherungsgesellschaft Metropolitan Life im kalifornischen Lawndale. Er hat drei Kinder, eine achtzehnjährige Tochter, einen vierzehnjährigen Sohn und eine dreijährige Tochter. Am Tisch saß ein Mädchen aus den Niederlanden, und Mrs Davis bat sie, für ihren Sohn eine Nachricht auf Niederländisch zu schreiben. »Eddie ist in einem Alter, in dem er sich für alles interessiert, was sein Vater gemacht hat, als er ein Teenager war, für alles über den Krieg und die Niederlande«, sagte Mrs Davis. Wir unterhielten uns eine Weile, und weil mich diese beiden Gesichter nicht losließen, erwähnte ich, dass ich jemanden kennengelernt hatte, dessen Sohn in Vietnam vermisst war. Walter Davis schwieg einen Augenblick. »Damals habe ich nie ans Sterben gedacht«, sagte er nach einer Weile unvermittelt. »Das sehe ich heute ein bisschen anders. Ich habe es damals nicht mit den Augen der Eltern gesehen. Ich war achtzehn, neunzehn. Ich wollte gehen, ich konnte es nicht ertragen, nicht zu gehen. Ich bekam Paris zu sehen, Berlin, ich bekam Orte zu sehen, von denen ich gehört hatte, aber ich hätte nicht im Traum daran gedacht, dass ich sie sehen würde. Jetzt habe ich einen Jungen, na ja, in vier Jahren wird er vielleicht gehen müssen.« Walter Davis zerbrach ein Brötchen, bestrich es sorgfältig mit Butter und legte es zurück, ohne abzubeißen. »Heute sehe ich das ein bisschen anders«, sagte er.