Ich zeichnete liebend gern.
Es war etwas, das ich in den vielen Nächten allein in meinem Zimmer entdeckt hatte.
Und ich war gut darin. Zumindest dachte ich das. Aber mehr als das war dies meine Zuflucht. In meiner Fantasie konnte ich das Leben leben, das ich mir erträumt hatte, wäre ich anders groß geworden … wäre ich eine andere.
Ein kalter Wind umwehte mich, als ich draußen saß. Ich konnte nicht schlafen, und es juckte mich in den Fingern zu zeichnen. Es war mitten in der Nacht, und die Sterne am dunklen Himmel funkelten wie Diamanten.
Ich schloss die Augen und holte tief Luft. Ich liebte es, die Nachtluft einzuatmen. Ich war so gern draußen. Ich liebte einfach den Frieden.
Ich lehnte mich auf dem Gartenstuhl zurück und griff nach dem Skizzenbuch auf dem Gras, das schon zu drei Vierteln voll war. Ich öffnete das gebundene Buch und blätterte durch die ersten Seiten: Bilder von Blättern, Vögeln und Bäumen. Ich überblätterte die Seiten, die ein junges Mädchen auf einer Wiese zeigten, das zur großen Sonne hinauflächelte. Vier junge Schwestern, Hand in Hand – drei mit dunklem Haar, eine strahlend blond – noch immer unschuldig und unberührt.
Dann blätterte ich die nächste Seite um. Ich hielt inne und meine Hände erstarrten, als mir ein vertrautes Paar schwarzer Augen entgegenblickte, als sei es real, schimmernd im Mondlicht unter meinem Fenster.
Zaghaft fuhr ich diese Augen mit dem Finger nach und wünschte mir, ich könnte ihn im wahren Leben berühren. Ich hob die rechte Hand in die Luft und verschränkte die Finger mit meiner linken Hand, nur um mir vorzustellen, wie es sich wohl anfühlen mochte.
Eine Hand, die meine hielt.
Eine schlichte Berührung.
Eine Berührung, die so viel verriet.
Ich fühlte einen schmerzenden Stich in der Brust und seufzte tieftraurig. Denn seit ich Flame begegnet war, hatten meine Gedanken sich so sehr verändert.
In der Gemeinde hatte ich immer geträumt, ich sei ein Schmetterling. Dass ich meine bunten Flügel ausbreiten und allem Schmerz davonflattern würde. Doch nun, wenn Flame in der Nähe war, hatte ich neue Träume. Ich träumte davon, dass ich eines Tages erfahren würde, wie es sich anfühlte, wenn seine Hände meine hielten.
Mir wurde es schwer ums Herz, weil das unmöglich war. Ich ließ die Hände sinken und löste die Finger wieder voneinander.
Plötzlich erregte ein Rascheln in den Bäumen meine Aufmerksamkeit. Ich richtete mich kerzengerade auf dem Stuhl auf und starrte in den finsteren Wald. Mein Herz hämmerte, als zwischen den dichten Blättern eine Gestalt herauskam.
Mir stockte der Atem, und Furcht packte mich, doch dann traten ein vertrautes Paar Lederstiefel und Hosen in das Mondlicht auf dem Rasen. Messer hingen an seinem Gürtel, und sein Oberkörper unter der schweren Lederkutte war nackt.
Flame.
Mein Herz, das ohnehin schon raste, schien noch schneller zu werden. Und dann hob Flame den Kopf, und mein Herzschlag setzte ganz aus.
Das Stirnrunzeln in seinem Gesicht verschwand augenblicklich. Seine Lippen, die unhörbar etwas vor sich hin murmelten, hörten mittendrin auf.
Ich presste die Decke über meinen Knien an die Brust. Wie erstarrt blieb ich so, genau wie Flame. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er heute Nacht herkam, da seine Freunde ihn doch in sein Zuhause zurückgebracht hatten. Von meinem Fenster hatte ich sehen können, wie erschöpft er war. Und sogar im trüben Mondlicht konnte ich erkennen, wie müde er immer noch war.
Flames Hände spannten sich an. Sein Brustkorb bewegte sich mit viel zu schnellen Atemzügen, doch dann drehte er sich abrupt auf dem Absatz um und marschierte mit stocksteifem Rücken zurück zum Wald.
Mir wurde es schwer ums Herz, als er sich wegdrehte, und ohne bewusst darüber nachzudenken, schlug ich mein Skizzenbuch zu, schob es an den Rand des Stuhls und rief: »Warte! Geh nicht!«
Flame erstarrte auf der Stelle.
So wie ich.
Ich schluckte die Nervosität hinunter, den Schock darüber, was ich gerade getan hatte, und bat: »Bitte, Flame. Geh nicht … ich … ich bin froh, dass du hier bist.«
Flames Hände schlossen und öffneten sich, und dann straffte er die Schultern und drehte sich langsam um. Seine große Gestalt war stocksteif, als er mich erneut ansah. Und er stand einfach nur da. Stand da am Waldrand, seine Aufmerksamkeit auf mich fixiert.
Aber ich wollte ihn näher.
Ich saß immer noch vorn auf der Kante und fragte: »Möchtest du vielleicht näher kommen? Ich … ich sitze schon eine Weile allein hier draußen, weil ich nicht schlafen konnte. Es …« Ich holte tief Luft, kämpfte gegen meinen natürlichen Fluchtinstinkt an und redete weiter: »Es wäre schön, ein wenig Gesellschaft zu haben.«
Flame blieb reglos stehen, und seine starre Haltung überzeugte mich, dass er keinen Schritt näher kommen würde. Aber plötzlich, zu meiner Überraschung, kam er in Bewegung, und seine kräftigen Beine führten ihn näher zu meinem Sitzplatz.
In der Stille der Nacht konnte ich hören, wie er leise seine Schritte zählte, von eins bis elf, und dann wieder von vorn. Ich legte den Kopf schief, als er näher kam, ein Gefühl aus Vorfreude und Angst im Bauch.
Die Haut an seinen Armen zeigte neue Schnitte, und ich konnte nicht anders als Traurigkeit für ihn empfinden. Angesichts dessen, was auch immer passiert war, dass er sich selbst so verletzen musste. Er griff an ein Messer in seinem Gürtel und hielt den Griff fest umklammert. Als brauche er eine Klinge als Trost.
Als mache es ihn nervös, jetzt hier bei mir zu sein.
Ich holte tief Luft und fragte leise: »Möchtest du dich setzen?« Ich zeigte auf den Stuhl mir gegenüber. Flame warf einen Blick durch lange schwarze Wimpern auf den Stuhl, atmete scharf durch die Nase aus und setzte sich zu mir. Ich roch Öl und Leder. Ich roch den schweren Moschus und den würzigen Duft, der allein zu Flame gehörte, und Wärme sickerte bis in meine Knochen.
Er hatte sich neben mich gesetzt.
Flame saß neben mir.
Ich senkte den Blick auf die ausgefransten Ränder der grauen Decke, in die ich mich gehüllt hatte, und spielte mit den Wollfransen, bloß um irgendwas gegen die Nervosität in mir zu tun.
Doch Flame war absolut reglos. Und absolut wortlos.
Ich warf einen Blick zur Seite und sah, dass er mich musterte. Kaum trafen sich unsere Blicke, schaute er zu Boden. Bestimmt war ich knallrot angelaufen, und aus irgendeinem unbekannten Grund spielte der Hauch eines Lächelns um meine Mundwinkel.
Ich hob den Kopf, blickte zum großen Mond hinauf und fand den Mut, etwas zu sagen. »Ich dachte nicht, dass du heute Nacht kommen würdest, um mich zu sehen.«
Nach einigen Sekunden des Schweigens glaubte ich schon, Flame würde nicht antworten. Doch dann bemerkte ich, wie er auf seinem Stuhl rutschte, und er sagte rau: »Ich konnte nicht wegbleiben.«
Mein Puls jagte, als ich seine Antwort hörte, und ich flüsterte: »Wieso?«
Flame zuckte mit den Schultern, konzentrierte sich dann wieder auf das Messer in seiner Hand und antwortete: »Ich konnte nicht aufhören, an dich zu denken. Und ich …« Er verstummte.
»Und was?«, drängte ich.
»Ich musste in deiner Nähe sein. Ich musste wissen, dass du in Sicherheit bist.«
Ich sah zu, wie Flames Finger über den Rand seiner Klinge strichen, doch seine Worte gingen mir durch den Kopf, und mir ging das Herz auf.
»Ich bin froh, dass du gekommen bist«, antwortete ich. Dann atmete ich tief durch und fuhr fort: »Ich … ich habe dich vermisst …« Das Geständnis kam nur flüsternd heraus, denn für eine lautere Stimme war ich viel zu nervös. Auch wenn ich es von ganzem Herzen so meinte. Ich hatte ihn mehr vermisst, als ich es je für möglich gehalten hätte.
Flame atmete scharf aus. »Ich kann einfach nicht ertragen, dass ich so lange weg von dir war. Das bringt mich ganz aus dem Konzept.«
Ich schaute auf die rote Narbe an seinem Hals. Der Verband war weg, und ich fragte: »Hattest du Schmerzen?« Mir drehte sich der Magen um. »Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass du meinetwegen Schmerzen erlitten hast.«
»Nein«, antwortete Flame kalt. »Kein Schmerz. Mit Schmerzen kann ich gut umgehen. Aber ich wurde festgebunden. Gefesselt zu sein konnte ich nicht ertragen. Dann haben sie mir Medikamente verpasst. Damit ich nicht auf sie losgehen konnte. Damit ich die Männer, die mich festgebunden hatten, nicht töten konnte.«
Flame keuchte, und seine Nasenflügel bebten. Ich senkte den Kopf. »Es war meine Schuld«, flüsterte ich. »Es war meine Schuld, dass du das durchmachen musstest.«
»Ich musste dich schützen.« Dann rutschte er ein wenig herum und gestand: »Als ich aufwachte, als AK und Viking mich aufweckten, warst du der erste Mensch, an den ich dachte. Und ich musste dich sehen. Ich … ich musste dich einfach sehen.«
Mein Mundwinkel ging nach oben, denn sein drängendes Verlangen, sich mit mir zu treffen, weckte einen Funken Glück in meinem Herzen. Aber als ich ihm ins Gesicht blickte und die dunklen Ringe unter seinen Augen sah, verschwand das Lächeln wieder.
»Du siehst müde aus«, sagte ich leise, und Flame schloss kurz die Augen.
»Ich schlafe nicht. Ich kann nie schlafen.«
Flames Oberkörper versteifte sich, seine Fingerknöchel wurden weiß, als er sein Messer umklammerte, und ich fragte: »Warum?«
Flame schüttelte den Kopf und knirschte mit den Zähnen. Dann starrte er in die Ferne und antwortete: »Geht einfach nicht.«
Ich begriff, dass er nicht darüber reden wollte, und fragte nicht weiter. »Ich verstehe«, meinte ich beruhigend. »Ich schlafe auch nicht viel.« Das Gesicht von Bruder Moses ging mir durch den Kopf, und ich erklärte: »Zu viele Erinnerungen, die in der Nacht kommen … Erinnerungen, die ich lieber nicht noch einmal durchleben will.«
Flame holte schnell Luft, antwortete aber nicht darauf. Ein weiterer kalter Windhauch wehte über den Rasen, und ich zog mir die Decke ans Kinn. Ich rutschte etwas herum und drehte mich zu Flame um.
Sein Kopf ruhte an der hohen Rückenlehne des Stuhls. Als ich seine große Gestalt betrachtete, das dunkle Haar, den Bart, die vielen Tattoos und zahlreichen Piercings, erkannte ich, dass ich mich entspannter fühlte als in all den Wochen zuvor.
»Ich bin froh, dass du wieder da bist, Flame. Ich fühlte mich verloren ohne dich.«
»Wirklich?«
»Vollkommen verloren. Du … du bist der einzige Mensch, bei dem ich mich je sicher fühle. Als du weg warst …« Ich verstummte, denn ich fand keine Worte, um auszudrücken, wie ich mich bei seiner Abwesenheit fühlte.
Flame stöhnte. »Maddie …«
Mein Herz pochte, als ich die Verzweiflung in seiner Stimme hörte. »Flame«, antwortete ich flüsternd, und seine dunklen Augen fingen mich ein.
Die Luft zwischen uns knisterte, und ein dichter Nebel hüllte uns ein, wo wir saßen. Mein Herz klopfte unstet, und unsichere Atemzüge kamen über meine Lippen. Dann rief eine Stimme vom Haus nach mir und beendete den Moment.
»Maddie?«
Ich blickte hinter mich und sah Lilah auf die Lichtung eilen.
Ich runzelte die Stirn. »Lilah?«, fragte ich und rutschte auf meinem Sitz vorwärts. »Geht es dir gut? Es ist mitten in der Nacht. Wieso bist du hier?«
Lilah kam näher, und als sie Flame an meiner Seite sah, blieb sie stehen. Ich spürte, wie ich vor Furcht rot wurde, denn ich machte mir Gedanken darüber, wie das wohl wahrgenommen würde. Doch da gewann sie ihre Fassung wieder und winkte. »Du wirst gebraucht. Wir alle. Ky hat einen Anruf vom Quartier bekommen. Er fährt den Truck, um uns dorthin zu bringen.«
Ich stand auf und fragte mich, wofür wir möglicherweise gebraucht wurden, doch dann spürte ich Flame hinter mir stehen. Lilah blickte über meine Schulter, und ich seufzte erleichtert auf, als ich hörte: »Ich komme mit.«
Lilah drehte sich auf dem Absatz um, und ich folgte ihr auf dem Fuße, Flame dicht hinter mir. Als wir zur Vorderseite des Hauses kamen, waren Mae, Styx und Ky schon da. Alle Blicke wandten sich uns zu, als wir durchgingen. Ky sah Flame an und meinte: »Fuck, Bruder. Solltest du nicht schlafen oder so?«
Ich hörte Flames tiefe Atemzüge, und er spuckte aus: »Ich komme mit.«
Styx schüttelte den Kopf, und Mae musterte mich mit schmalen Augen. Ky brach das unangenehme Schweigen. »Sehen wir zu, dass wir zum Clubhaus kommen.«
Wir stiegen alle in den Truck, und Flame sprang hinten auf die Ladefläche. Schweigend bogen wir auf die Landstraße.
Als wir ausstiegen, fanden wir uns einer Menge gegenüber, zu der auch Tank, Beauty, Tanner, Bull, Smiler und Letti gehörten. Alle drehten sich um, als sie uns kommen hörten. Ich hielt mich eng an Flames Seite. Hier waren zu viele Männer. Zu viele Leute. Sie machten mich nervös.
»Alle schleunigst aus dem Weg!«, befahl Ky, der zu begreifen schien. Die übrigen Männer und Frauen, die ich nicht kannte, gingen ins Clubhaus.
Beauty trat vor. »Sie ist einfach so aufgetaucht. Wir waren in der Bar am Trinken, als wir ihr Geschrei draußen hörten. Die Kleine ist in echt üblem Zustand, hämmert gegen das Tor, macht einen Mordskrach und ruft die ganze Zeit nur nach den drei Verfluchten Schwestern des Ordens.« Beauty zeigte auf Lilah, Mae und mich. »Und das wärt dann ihr drei wunderhübschen Grazien.«
»Was?«, flüsterte Mae ungläubig. Sie trat nach vorne, Lilah dicht hinter ihr, und drängte sich an Tank und Bull vorbei. Ich hörte, wie sie nach Luft schnappte, und dann sagte sie: »Es ist okay. Wir tun dir nichts.«
Beauty sah, dass ich neben Flame zurückblieb, und winkte mir, dass ich näher kommen solle. Ich zögerte, doch Beauty beharrte. »Komm schon, Darling, sie hat ausdrücklich nach euch allen verlangt.«
Ich ging an Beauty vorbei und blieb schließlich abrupt neben Mae stehen. Es zerriss mir sofort das Herz. Ein junges Mädchen. Vielleicht vierzehn, fünfzehn Jahre alt, schmutzig, aus Schnittwunden blutend, und sie trug ein zerrissenes und schmutziges langes graues Kleid. Das Standardkleid des Ordens. Ihre weiße Haube hing halb vom Kopf, und das dunkelblonde Haar darunter war voller Dreck. Und ihre Augen – tiefblaue Augen, glasig vor Angst. Sie hatte sich in die Ecke des Tors gedrückt und die Hände ausgestreckt, um die Menschen auf Abstand zu halten.
Ich sah ihre Augen auflodern, als Lilah, Mae und ich vor ihr stehen blieben. Mit einem schmerzerfüllten Schluchzen sank sie zu Boden und drückte die Hand auf ihren Mund. Lilah schaute mich an, und ich sah die Panik in ihrem Gesicht.
Aber Mae ging einfach vorsichtig weiter und streckte ebenfalls die Hände aus. »Ganz ruhig«, sagte sie beruhigend. Das Mädchen erstarrte. »Mein Name ist Mae«, erklärte Mae. Sie zeigte hinter sich auf uns. »Das sind Lilah und Maddie.«
Die blutige Lippe des Mädchens zitterte, und sie fragte: »Seid ihr die Verfluchten Schwestern der Eva?« Ich zuckte zusammen, als sie uns so nannte, aber Mae nickte. »Das waren wir. Ich bin Salome. Das ist Delilah. Und das ist Magdalene«, erklärte sie und zeigte wieder auf Lilah und mich.
Die Kleine schluchzte wieder, und ihre schmalen Schultern sanken nach vorn. »Ich habe euch gefunden«, flüsterte sie weinend. »Ich habe euch wirklich gefunden.«
Mae blickte nach hinten, die Frage deutlich in ihren Augen. Lilah kam zu Mae und ging in die Hocke, um dem jungen Mädchen in die Augen zu sehen. »Hast du einen Namen?«
Das Mädchen schien wieder ruhiger zu atmen und sagte dann leise: »Sarai. Ich heiße Sarai.«
Lilah lächelte sanft. »Sarai, kannst du uns sagen, was passiert ist? Woher kommst du?«
Sarai richtete sich auf und zuckte zusammen, als sie die Beine bewegte. Auch ohne dass sie ein Wort sagte, wusste ich, dass ihr Schreckliches passiert war, und ich wollte am liebsten laut aufschreien. Sie war ein Kind. Dieser schreckliche Ort hatte erneut ein Kind verletzt.
»Ich … ich komme aus Neu Zion. Ich konnte fliehen.« Sarai schloss einen kurzen Moment lang die Augen, begegnete dann Lilahs Blick und sagte: »Sie haben uns die ganze Zeit wehgetan. Sie haben die ganze Zeit Dinge mit uns gemacht. Böse Dinge.« Ich kämpfte die Übelkeit nieder bei ihren Worten, denn ich kannte das Gefühl nur allzu gut. »Ein paar Mädchen hatten von den Verfluchten Schwestern erzählt, die geflohen waren. Viele Mädchen sprechen davon, wie ihr entkommen seid … und als … als … als sie mir wehtaten … als sie uns heute Nacht wehtaten, liefen wir auch weg.«
Lilah schluckte und fragte: »Wer ist wir, Sarai?«
Sarais Gesicht verzog sich vor Schmerz, und sie schluchzte wieder. »Meine Freundinnen. Aber … aber sie wurden am Tor gefangen. Sie sagten den Wachen nicht, dass ich mich dort versteckt hatte. Sie halfen mir, freizukommen. Ich bin seit Stunden unterwegs. Jemand hat mir geholfen, hierherzukommen. Ein Fremder, jemand, der mich irgendwo verirrt auf der Straße fand …« Sarai brach ab.
Lilah stand auf und blickte Mae an. »Mae?«
Doch bevor Mae antworten konnte, meinte Ky: »Glaubt ihr denn alle diesen Quatsch?«
Lilah drehte sich mit großen Augen zu ihrem Ehemann um. »Ky! Bitte.« Sarai rollte sich noch weiter zusammen, als sie Kys schroffen Tonfall hörte, und ihre zerkratzten und geschwollenen Knöchel kamen unter dem Kleid zum Vorschein.
»Was? Ein Mädchen aus der Sekte taucht mitten in der Nacht hier auf, und niemand denkt, dass das eine verdammte Falle sein könnte? Die Sekte will uns doch eindeutig tot sehen.« Er wandte sich an Styx. »Sag mir, dass ich nicht der Einzige bin, Bruder?«
Styx signalisierte etwas, und Mae schüttelte den Kopf. »Sie ist völlig verängstigt, Baby. Ich verstehe, was du sagen willst, und ich verstehe, dass du wachsam bist, aber sieh sie dir an. Jeder kann sehen, dass sie starr vor Angst ist.«
Ich folgte Maes Finger, der auf eine auf den Boden gekauerte Sarai zeigte. Ihr hübsches Gesicht war bleich, und sie zitterte vor Angst. Mae stockte der Atem, und sie sah Styx an und sagte: »Das war ich. Ich war dieses Mädchen. Ich war dieses Mädchen, das davonlief, um dieser Hölle zu entkommen.« Mae trat zu Styx und fuhr mit einem Finger über sein Gesicht. »Das Mädchen, das du gerettet hast.« Sie senkte kopfschüttelnd den Blick. »Wir können sie nicht so zurücklassen. Sie braucht unsere Hilfe. Ich kann sie nicht wegschicken.«
Styx legte den Kopf nach hinten, schaute dann seine Frau an und signalisierte etwas als Antwort.
Mae straffte die Schultern und sagte: »Wir müssen sie säubern. Sie braucht etwas zu essen und einen Arzt. Ich denke, sie wurde vergewaltigt.«
»Ach du Scheiße!«, hörte ich Ky schimpfen, aber ich konnte den Blick nicht von dem jungen Mädchen abwenden. Sie hatte blaue Flecken, war geschlagen worden und gebrochen … ich wusste ganz genau, wie sie sich fühlte.
Styx gab Tank irgendwelche Zeichen, und der holte sein Handy heraus. »Wohin soll ich den Doc schicken?«
Lilah hob die Hand. »Zu uns. Sie kann bei uns bleiben.«
»Was?«, stieß Ky zornig hervor.
Lilah sah Ky an. »Maddie wohnt bei Mae. Dort ist kein Platz. Wir haben viel Platz, und …« Lilah verstummte und holte tief Luft. »Ky, du verstehst nicht. Du weißt nicht, wie das Leben als junges Mädchen in dieser Gemeinde ist. Wie tapfer sie ist, wenn sie dieses Leben hinter sich lässt, und das in ihrem Alter. Sie …« Lilah verstummte, als Ky sie an sich zog.
»Fuck, Li. Na gut. Sie kommt zu uns. Nur tu dir das nicht wieder an. Geh bloß nicht zurück zu diesen Gedanken.«
»Danke«, flüsterte Lilah und klammerte sich an Kys Kutte.
Dann löste sie sich von ihm und ging mit Mae auf Sarai zu, um ihr auf die Beine zu helfen. Ich rührte mich nicht. Und als der Schmerz sie aufschreien ließ, war mir, als würden meine Beine nachgeben.
Sie hatten ihr Schmerz zugefügt.
So wie sie uns wehgetan hatten.
Mae und Lilah führten Sarai zu Kys Truck. Ich folgte ihnen, und Flame blieb an meiner Seite. Flame und Styx sprangen auf die Ladefläche, und Minuten später waren wir auf dem Weg zu Lilahs Hütte.
Mae und Lilah brachten Sarai sofort hinein, und Styx und Ky folgten ihnen. Ich stieg aus dem Truck, und sofort stand Flame hinter mir. Ich drehte mich zu ihm um und sagte: »Ich gehe besser hinein zu meinen Schwestern.«
Flame antwortete nicht darauf.
Doch als ich hineingehen wollte, blieb ich noch einmal stehen, sah ihn an und sagte: »Es … es war schön, heute mit dir zu reden.«
Flames Nasenflügel bebten. Ich kämpfte meine Nervosität nieder und fuhr fort: »Vielleicht … wenn du möchtest … könnten wir morgen weiterreden?«
Flames Hand umfasste das Messer fest und er antwortete: »Ja.«
Meine Wangen wurden rot vor Aufregung. Ich senkte den Blick und sagte: »Dann gute Nacht, Flame. Bis morgen.«
Damit ging ich in die Hütte und half Mae und Lilah dabei, sich um das junge misshandelte Mädchen zu kümmern. Doch ich war nicht überrascht, als ich aus dem Fenster blickte und Flame darunter stehen sah.