»Cain, warum bist du denn hier draußen?«
Ich drehte mich um, als ich die Stimme meines Bruders Judah hörte. Er kam auf mich zu, das lange braune Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und ein Stirnrunzeln im Gesicht. Als mein Zwilling sah er genauso aus wie ich.
Ich warf einen Blick über die Gärten unseres Herrenhauses und sah zu, wie unsere Anhänger sich um die riesigen Rasenflächen kümmerten. Judahs Gefährtin Phebe arbeitete im Kräutergarten. Ich war schon seit einigen Stunden hier draußen, und sie hatte den Großteil meiner Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, während sie schweigend den Boden umgrub und Pflanzen setzte. Im Lauf der letzten Wochen war ihr heiteres Wesen düsterer geworden. Sie war noch immer an Judahs Seite und schlief mit ihm, aber etwas an ihrem Verhalten hatte sich verändert.
Judahs Hand legte sich unvermittelt auf meine Schulter. Er ließ sie dort ruhen und setzte sich neben mich auf die Stufen zum Gartenpfad.
Sofort wandte er sich mir zu. »Bruder? Geht es dir gut?«
Ich tätschelte sein Knie. »Es geht mir gut. Ich brauchte etwas Freiraum. Die täglichen Predigten, die Treffen mit dem Klan und die Probleme mit den Hangmen, das alles ist ermüdend.«
Judah nickte verstehend. Dann nahm er den Arm um meine Schulter wieder weg und ließ ihn in seinem Schoß ruhen. »Jetzt wo du es sagst: Du scheinst immer distanzierter geworden zu sein.«
Ich fuhr mir übers Gesicht, und die Angst, dass ich Judah im Stich ließ, drehte mir den Magen um. Dass ich unsere Anhänger im Stich ließ. »Ich weiß. Es ist nur so viel zu tun. Unsere Anhänger sind zahlreich; und dass ihr Glaube und ihre Erwartungen auf unsere Erlösung allein in meinen Händen liegen, ist eine große Bürde.«
Judah schaute hinaus über den Garten, wo unsere Anhänger arbeiteten. Ich folgte seinem Blick. Ein junger Mann, der unsere Aufmerksamkeit offenbar spürte, sah auf. Kaum begegnete sein Blick meinem, senkte er den Kopf und verneigte sich. Mir wurde es schwer ums Herz, als er sich wieder ganz seiner Aufgabe widmete.
Ich musterte den Jungen und rechnete mir aus, dass er etwa fünfzehn Jahre alt sein musste. Schlaksige Gliedmaßen und ungeschickte Bewegungen. Ich dachte daran zurück, was ich in seinem Alter gemacht hatte. Erinnerungen an Judah und mich, jeden Tag in einem Zimmer eingeschlossen, während wir die Heilige Schrift lernten. Unser Lehrmeister sorgte dafür, dass wir sie auswendig konnten. Das Bild unseres Onkels – Prophet David – an der Wand war die einzige Dekoration. Wir bekamen keine Zeit zum Spielen, keine Entspannung. Unser Glaube hatte uns gelehrt, dass wir beständig hart arbeiten mussten. Immer schuften, damit wir bereit waren, wenn der Tag meines Aufstiegs kam.
Keine menschlichen Kontakte, ausgenommen zwischen uns und unserem Lehrmeister.
Keine Liebe außer der füreinander. Und niemand, dem man sich anvertrauen, dem man Fragen stellen konnte – bloß wir beide.
Dieses Leben war alles, was ich gekannt hatte, bis ich von unserem Propheten auf die Mission geschickt worden war, die Hangmen zu infiltrieren. Eine Mission, die unsere Finanzen sichern würde, indem wir ihnen ihre Kontakte im Waffenhandel direkt vor der Nase wegschnappten – um unseren Anhängern Obdach und Sicherheit zu geben, bis der Tag des Jüngsten Gerichts über uns kam.
Plötzlich beugte sich Judah zu mir und fragte leise: »Siehst du, wie unsere Jünger dich verehren, Bruder? Du magst Zweifel daran haben, wer du für uns bist, aber wir haben keine. War es nicht dasselbe bei Jesus? Auch er hatte Zweifel, doch seine Jünger verliehen ihm Kraft. Genau wie ich dir.«
Judahs Hand ruhte auf meiner. »Sieh mich an, Cain.« Ich gehorchte. »Du bist für das hier bestimmt. Und ich werde alles tun, was du von mir erbittest. Alles.«
Ich fühlte, wie der aufgestaute Aufruhr in mir sich löste, drückte Judahs Hand und seufzte erleichtert. »Ich weiß, Judah. Ich bin sicher, dass du, und nur du, derjenige bist, der diese Berufung erträglich macht.«
Judah lächelte auf meine Worte, und wir blickten wieder über den Garten. Er lehnte sich zurück, stützte sich auf die Hände und sagte: »Ich habe gerade Nachricht vom Klan erhalten. Sie setzen unseren Plan heute in die Tat um. Sie haben von einer Geldübergabe mit einem von deren größten Käufern erfahren, nördlich von Georgetown. Das perfekte erste Ziel. Der Klan wird klarmachen, dass jeder, der mit den Hangmen Geschäfte macht, ein potenzielles Ziel ist. Und dann können wir das Geschäft, das sie verloren haben, zwischen uns und den Großmeistern des Klans aufteilen.«
Judah lächelte und fuhr fort: »Stell dir bloß vor, was wir für unsere Anhänger bewirken können, Cain. Mit diesem Geld können wir Neu Zion wahrhaft zu einem Himmel auf Erden machen. Wir können die Prophezeiung Wirklichkeit werden lassen. Ich bin auf ewig dankbar, dass Gouverneur Ayers’ Sohn vom Klan zu den Hangmen übergelaufen ist. Das hat noch Öl in den schon schwelenden Zorn der Weißen Ritter gegossen. Ich bin überzeugt, dass seine persönliche Vendetta gegen seinen Sohn und die Hangmen, weil sie ihn aufgenommen haben, dafür sorgt, dass der Klan nicht scheitern wird.«
Ich lauschte Judahs Worten, antwortete aber: »Die Hangmen sind stark, Judah. Ich habe fünf Jahre damit verbracht, so zu tun, als wäre ich einer von ihnen. Ihr Arm reicht weiter, als wir oder der Klan im Moment bewältigen können. Um über den MC zu siegen, müssen wir abwarten. Alles wird seine Zeit brauchen, so wie Gouverneur Ayers gesagt hat. Wir müssen unsere Karten klug ausspielen. Nichts tun, um das Feuer noch anzufachen. Wenn sie sich jetzt zu einem Angriff entscheiden, würden wir uns einem weiteren Massaker gegenübersehen, wie dem in der alten Gemeinde. Noch so einen Angriff würden wir nicht überstehen.«
Judah runzelte die Stirn, doch dann beteuerte er: »Der Angriff des Klans bei der Geldübergabe ist ein Anfang. Der Krieg kommt für uns alle, ob es uns gefällt oder nicht. Und dafür brauchen wir ihren Waffenhandel. Der Klan wird mit seinen stufenweisen Angriffen durchkommen, da bin ich sicher. Und dann beginnt unsere Vision für die Unseren.«
Ich konnte mir diesen Traum ganz deutlich vorstellen, aber als ich daran dachte, dass der Klan die Hangmen bei einer Geldübergabe angriff – Geldübergaben, die ich früher organisiert hatte –, widersprach ich: »Unschuldige Menschen werden bei der Attacke umkommen. Die Hangmen ziehen ihre Geschäfte immer in der Öffentlichkeit durch. Verdeckte Planung und Organisation, aber öffentliche Ausführung der Pläne, um sicherzustellen, dass niemand sie unbemerkt angreifen kann.«
Judahs frohe Miene verschwand. »Dies ist ein Heiliger Krieg, Cain. Er wird unschuldige Leben fordern, doch der Herr wird ihre Seelen retten. Ihr Tod soll dein Gewissen nicht belasten. Denn so muss es sein.«
Zuerst antwortete ich nicht. Aber das Ganze gefiel mir gar nicht, also warnte ich ihn: »Du musst Landry sagen, er soll seine Männer anweisen, die unschuldigen Opfer auf ein Minimum zu beschränken. Falls der Angriff in die Nachrichten kommt, darf er nicht zu uns zurückverfolgt werden. Unsere Anonymität ist der einzige Schutz. Die Sünder in der Außenwelt werden unser Vorgehen nicht verstehen. Dann werden wir zur Zielscheibe, und alles, was wir aufgebaut haben, wird vernichtet.«
Judah atmete aus. »Abgemacht, Bruder. Ich rufe persönlich an.«
Schweigend saßen wir da. Ich konnte sehen, wie Judah seine Gefährtin beobachtete. Sie blickte kurz auf und verneigte sich vor uns beiden, wandte sich aber eilig wieder ihren Pflichten zu. Ich runzelte die Stirn.
»Deine Gefährtin ist sehr still in letzter Zeit, Judah.«
Judah beugte sich etwas vor, sodass er in mein Blickfeld kam. Er war über diese Entwicklung nicht allzu besorgt, was mir seine Miene verriet.
»Sie war meine erste Gefährtin. Eine Weile hatte sie mich ganz für sich allein, doch jetzt habe ich mir noch eine Gefährtin genommen. Deshalb schmollt sie.« Er sah mich an und zuckte mit den Schultern. »Sie weiß, es ist Gottes Wille, dass wir viele Frauen unter unsere Führung nehmen, sie darin unterweisen, dem Mann gehorsam zu sein, und dass wir viele von ihnen schwängern sollen, um die Botschaft unseres Glaubens zu verbreiten. Sie kann ihre Eifersucht nicht überwinden. Wenn sie weiter aufsässig ist, werde ich sie dazu zwingen.«
Ich warf einen Blick auf Phebe, die die Kräuter zuschnitt. »Du hast dir noch eine Gefährtin genommen? Das wusste ich gar nicht.«
Judah seufzte. »Ich habe sie mir genommen, ohne es dir zu sagen. Du als der Prophet nimmst dir keine Gefährtinnen. Ich wollte nicht, dass du mich beneidest, weil ich die Freiheit habe, mir so viele zu nehmen, wie ich möchte, ohne heiraten zu müssen.«
Meine Eingeweide verkrampften sich, als ich seine Worte hörte. »Judah, bitte hab keine Geheimnisse vor mir. Nicht du.«
Er legte mir die Hand an den Hinterkopf und zog mich zu sich herab, um mir einen Kuss auf den Scheitel zu drücken. »Nicht mehr. Ich schwöre es.«
Ich lehnte mich wieder zurück und fragte: »Wie ist sie? Diese neue Gefährtin?«
Sofort erschien ein Lächeln auf Judahs Lippen. »Sie ist unglaublich. Ich gebe zu, sie hat meine Gunst gewonnen. Sie ist gehorsam und bereit, alles für die Sache des Herrn zu tun. Bruder Luke hat sie mir vorgestellt. Er sorgt dafür, dass unsere Brüder hier in Neu Zion ihren Teil zu der spirituellen Entfaltung unserer Frauen beitragen.«
Judah setzte sich auf und sah mich an. »Tatsächlich gibt es einige, die du treffen solltest. Sie könnten dir gefallen. Bruder Luke hat Videos, die du dir ansehen solltest, von den Frauen, die etwas Besseres sind als die übrigen. Frauen, die deine Ehefrauen werden können. Diejenigen, die nur des Propheten würdig sind.«
Ich runzelte die Stirn. »Ich bin für die prophezeite Verfluchte Ehefrau bestimmt, Judah.«
»Unser Onkel hatte viele Ehefrauen. Sicher ist das alles, was zählt, solange du am Ende die Hand der Verfluchten gewinnst. Die Heilige Schrift bestimmt nicht, dass du sie und nur sie haben darfst. Du bist immer allein. Das ist ein unglückliches Leben, und doch könntest du dir so viele Frauen nehmen, die an deiner Seite stehen könnten.«
»Bruder Judah?«, rief da eine Stimme hinter uns. Als wir uns umdrehten, stand Bruder Luke in der Tür. Er neigte den Kopf vor mir und sprach dann Judah an: »Bruder, ich habe den Anruf erhalten, auf den wir gewartet haben.«
Judah hob die Hand als Zeichen, dass er gleich käme. Während er Anstalten machte aufzustehen, sagte er: »Ich weiß, dass du diese Rolle als einengend empfindest, aber ich arbeite an Möglichkeiten, dir zu helfen. Neue Entwicklungen, die uns unglaublich stark machen werden. Ich bin die Hand des Propheten, und es ist meine Pflicht, dir zu dienen und dich zu beraten. Aber noch mehr als das bin ich dein Zwillingsbruder. Und ich will alle Prophezeiungen des Ordens wahr werden sehen. Ich schwöre, Cain, nichts wird mich davon abhalten, dieses Ziel für dich zu erreichen. Nichts.«
Ich atmete aus und senkte den Kopf. Seine Worte erleichterten mich. »Danke, Judah. Das bedeutet mir sehr viel. Nur … nur tu nichts Törichtes. Vergiss nicht, unsere Erlösung wird kommen, doch es wird Zeit brauchen.«
Judah klopfte mir auf den Rücken und verschwand im Haus.
Allein mit meinen Gedanken beugte ich mich vor, fuhr mir durchs Haar und stützte die Ellbogen auf die Knie. Der Klang der Sirene rief zum Gebet. Ich sah zu, wie sich die Arbeiter auf den Weg machten.
Aber Judahs Gefährtin blieb zurück. Es war, als wollte sie nicht gehen. Ich beobachtete sie, während sie sich weiter um die Kräuter kümmerte. Dann blickte sie auf und sah mich. Eine tiefe Röte stieg ihr ins Gesicht. Hastig stand sie auf und machte sich eilig auf den Weg zum Gebet. Als ich sah, wie sie auf den Gartenpfad trat, drängte etwas in mir, ihr nachzurufen.
»Schwester Phebe!« Sie blieb auf der Stelle stehen und drehte sich mit gesenktem Kopf zu mir um. Ihr leuchtend rotes Haar war nach hinten gebunden. Sogar aus der Ferne konnte ich sehen, wie sie auf ihrer Unterlippe kaute.
»Komm zu mir«, befahl ich und registrierte, dass wir inzwischen allein waren. Schwester Phebe hob ihr langes Kleid etwas an und kam zu mir. Am Fuß der Treppe blieb sie stehen, den Kopf weiter gesenkt, wie es in Gegenwart des Propheten Gottes verlangt war.
»Ganz ruhig, Schwester«, befahl ich. Ihre Schultern entspannten sich, doch ihr Blick blieb gesenkt. »Sieh mich an.«
Ich sah, dass sie ein langes Seufzen ausstieß, und dann hob sie den Kopf, und ihre blauen Augen begegneten meinen. Ich betrachtete ihre Züge. Sie war hübsch. Ihre Haut war blass, aber rein und glatt, ihr Haar war eindrucksvoll, und ihre Augen zeigten Wärme. Ich konnte verstehen, warum mein Bruder sie zu einer seiner Frauen genommen hatte. Schwester Phebe wandte unter meiner Musterung den Blick zur Seite, und einen Moment lang konnte ich ihre Schwester in ihrem Gesicht erkennen. Ich konnte die Verfluchte Delilah sehen.
Judahs Gefährtin wiegte sich nervös auf den Füßen, also beugte ich mich vor und fragte: »Wie geht es dir, Schwester Phebe?«
Ihr Blick huschte zu mir, und sie schluckte. »Es geht mir gut, mein Herr.«
Ihre Lippen begannen zu zittern. »Das glaube ich nicht, Schwester. Du verhältst dich schon seit Wochen nicht wie sonst.« Ich hielt inne und sah, dass sie wieder den Kopf senkte, bevor ich fortfuhr: »Liegt es daran, dass Judah sich eine zweite Frau genommen hat?«
Phebe hob erstaunt den Kopf und schüttelte dann hastig den Kopf. »Nein, mein Herr.«
»Bist du sicher? Dein Stimmungswandel hat nichts mit Eifersucht zu tun? Denn Eifersucht hat weder einen Platz in dieser Gemeinde noch in deinem Herzen. Du weißt, dass unsere Heilige Schrift Neid und Gier verdammt.«
Entschlossenheit trat in Phebes Gesicht, und sie antwortete: »Ich bin absolut nicht eifersüchtig, mein Herr. Ich weiß, dass die Schrift empfiehlt, mehrere Gefährtinnen zu nehmen.«
Ich stützte die Ellbogen auf die Knie und fragte: »Woran liegt es dann?« Sie wollte den Mund öffnen, doch ich befahl schroff: »Und belüge deinen Propheten nicht.«
Phebes Mund klappte wieder zu. Eine plötzliche Leere machte sich in mir breit. Und dann kam mir ein Gedanke. »Judah hat dir doch nicht wehgetan, oder?«
Phebes Lippen öffneten sich, aber sie schüttelte den Kopf. Sie wollte etwas sagen, etwas hielt sie allerdings zurück.
»Sprich«, verlangte ich.
Phebe schüttelte verneinend den Kopf. »Was mich beschäftigt, ist etwas Sündhaftes, mein Herr. Es ist falsch, aber ich kann dennoch nicht aufhören, daran zu denken.«
Ich versuchte mir vorzustellen, was sündhaft für sie sein mochte, und dann dachte ich daran, wie sie den Ruf zum Gebet hatte meiden wollen. »Sind diese Gedanken der Grund, warum du das Gebet versäumst?«
Phebe zögerte erst und nickte dann widerstrebend. »Ich bin unrein. Ich bin des Gebets nicht würdig.« Tränen traten ihr in die Augen, und ich ertappte mich dabei, dass ich aufstand und die Stufen hinunterstieg, bis ich direkt vor ihr stand. So nahe sah ich, dass Phebe zitterte. Ich hob die Hand, legte den Finger an ihr Kinn und hob ihren Kopf, bis ihr Blick meinem begegnete.
Eine Träne lief ihr über die Wange.
»Sag mir, was du als sündhaft fürchtest.« Phebe wollte sich mir entziehen. »Nein!«, befahl ich, und sie erstarrte. »Sag es mir auf der Stelle!«
Phebes Lippe zitterte, doch dann zwang sie sich zu einem Flüstern: »Es ist … es ist meine Schwester. Es ist meine Rebek…« Sie korrigierte sich: »Es ist meine Delilah.«
Augenblicklich ließ ich die Hand sinken. Phebe senkte den Kopf wieder. »Ich sagte ja, dass es sündhaft ist, mein Herr. Es ist falsch von mir, an sie zu denken und daran, was vor all den Wochen mit ihr getan wurde.«
Ich wich zurück. Ich dachte an Delilahs Gesicht, als ich ihr sagte, sie solle mir ihre Sünden beichten, nachdem man sie beim Quartier der Hangmen wieder eingefangen hatte. Sie hatte sich geweigert, und ich hatte meine Hände in Unschuld gewaschen. Sie war Maes Schwester. Ich konnte nicht umgehen mit jemandem, den Mae liebte. Sie war immer noch mein wunder Punkt.
Judah übernahm ihre Unterweisung, während ich mich in Abgeschiedenheit begab, um für meine Schwäche für diese Frau zu büßen. Salome. Die mir bestimmte Ehefrau.
Ich hatte Judah nie gefragt, was mit Delilah geschehen war. Ich konnte es nicht. Ich konnte es nicht über mich bringen, mir anzuhören, welche Bestrafung sie für ihren Ungehorsam empfangen hatte.
Phebe unterbrach meine Gedanken. Sie hob den Kopf und rief: »Mein Herr, ich kann nicht vergessen, was man mit ihr gemacht hat. Wie sie aussah, als ich sie auf dem Hügel der Verdammnis fand, während sie auf einem Scheiterhaufen stand und von den Brüdern rituell gereinigt wurde.« Sie schluchzte und fuhr fort: »Und dann, als ich die Männer des Teufels kommen sah, die sie zurückholten. Was sie den Brüdern in ihrer Wut antaten.«
Ich schluckte, als sie von den gefallenen Brüdern sprach, von deren Bestrafung, von Delilah, von den Hangmen, die sich unbemerkt in meine Gemeinde geschlichen und meine einzige noch übrige Verbindung zu Mae durchtrennt hatten.
Ich legte die Hand auf ihre Schulter und beteuerte: »Das mit anzusehen war wahrlich zu viel für dich, Schwester. Die erschlagenen Körper der Brüder.«
Phebe weinte noch mehr und schüttelte den Kopf. »Nein …«, flüsterte sie. Ich zog die Hand zurück.
»Nein? Was dann?«
Phebe schniefte, wischte sich über die Augen und gestand dann: »Ich sündige, weil ich froh bin über das, was die Männer des Teufels taten. Ich bin froh darüber, dass sie unsere Brüder getötet haben.« Ihre blauen Augen starrten geradeaus ins Leere. »Nach dem, was sie Delilah angetan hatten, war ich froh. Sie gingen viel weiter, als Judah befohlen hatte, obwohl das, was er befohlen hatte, ganz und gar nicht auf unserer Heiligen Schrift basierte. Aber … aber ich konnte nichts sagen. Ich wagte es nicht, einen Befehl von der Hand des Propheten infrage zu stellen.«
Sie sah mir in die Augen und sagte kalt: »Sie haben sie vergewaltigt. Sie haben sie genommen, haben ihr wehgetan, immer wieder. Doch das sollte nicht ihre Strafe sein. Judah … Judah befahl ihnen, Delilah leiden zu lassen. Natürlich war es mir nicht bestimmt, seinen Befehl zu hören. Aber … aber ich habe ihn gehört.«
Sie räusperte sich, straffte die Schultern und fuhr fort: »Als die Männer des Teufels Delilah holten, als der Mann mit dem langen blonden Haar sie rettete und sie schützend in seinen Armen hielt … war ich froh.«
Phebe strich sich sichtlich gepeinigt über die Stirn.
Ihre Worte rasten durch meinen Verstand. Judah hatte eine Bestrafung angeordnet, die nicht der Heiligen Schrift entsprach? Delilah war auf einen Scheiterhaufen gebunden worden? Sie hatten sie … genommen, und das mehrfach?
Phebe starrte mich an, als ich den Blick senkte. »Mein Herr, ich glaube, wenn du die Bestrafung angeordnet hättest, wäre sie nicht so ausgefallen.« Sie holte Luft und fragte wagemutig: »Habe ich recht?«
Ich rang um Atem bei dem Gedanken an das, was Phebe so anschaulich beschrieben hatte. Aber sie irrte sich. Sie musste sich doch sicher irren?
Ich sammelte mich und fragte dann: »Du warst an einen Baum gebunden, nicht wahr? Judah berichtete, seine Gefährtin sei an einen Baum gefesselt gefunden worden, dehydriert und verzweifelt.«
Etwas, das wie Hoffnung aussah, verschwand unvermittelt aus Phebes Augen. »Ja, mein Herr.«
Ich verschränkte die Arme und bohrte weiter: »Also hast du vielleicht nicht das gesehen, was du glaubst, gesehen zu haben?«
»Ich …« Sie öffnete den Mund und schloss ihn schnell wieder.
»Die Männer des Teufels haben dich gefesselt, Schwester. Du warst körperlich verletzt, als man dich fand, nicht wahr?«
Sie nickte. »Wegen der vielen Stunden, die ich dort war, nicht weil diese Männer mir wehtaten.« Sie blinzelte. Dann noch einmal. »Tatsächlich war der Mann mit dem langen braunen Haar, der mich fesselte, sanft. Und er … und er starrte mich die ganze Zeit an. Da war etwas in seinen Augen. Er …« Sie verstummte und errötete leicht.
Ich knirschte so fest mit den Zähnen, dass mein Kiefer schmerzte. Ich glaubte an Judah. Ich glaubte nicht, dass mein Bruder solche Taten gegen die Verfluchte Delilah gutgeheißen hätte. Wieder sah ich Phebe an. Ihre großen Augen blickten fast zu eindringlich zu mir auf.
Mir drehte sich der Magen um, als mir klar wurde, dass das eine List sein konnte. Ich unterdrückte meinen Zorn und fragte: »Bist du sicher, dass du nicht einfach verbittert bist, weil Judah sich eine zweite Frau genommen hat? Eine, die, wie er selbst zugibt, eine perfekte Gefährtin ist? Und dies alles, diese Einbildungen, sind nur dazu da, seine Aufmerksamkeit zurückzuerlangen?«
Phebes Gesicht wurde totenbleich. »Nein, mein Herr.«
»Aber kannst du verstehen, dass du dir das alles eingebildet haben könntest, durch die Dehydration und die vielen Stunden gefesselt, ohne sich bewegen zu können?«
Phebe zögerte, und schließlich ließ sie die Schultern hängen. »Ja, mein Herr.«
Erleichterung erfüllte mich, und ich trat einen Schritt zurück. »Hast du heute Abend Pflichten zu erfüllen, Schwester?«
»Ja«, antwortete sie. »Ich bin die leitende Geheiligte Schwester. Wir sollen heute Abend die Gemeinde verlassen, um die Liebe des Herrn zu verbreiten.«
»Nein«, rief ich barsch, und Phebe zuckte zusammen. »Du begibst dich in Abgeschiedenheit, bis du deiner sündigen Gedanken ledig bist. Ich werde Judah informieren.«
Phebes Augen wurden unheimlich groß. »Aber, mein Herr. Judah, er wird …«
»Stell mich nicht infrage, Schwester«, befahl ich kalt. Phebe sank augenblicklich zu Boden, mit dem Gesicht zu meinen Füßen.
»Es tut mir leid, mein Herr.«
Ich drehte mich um und ließ Phebe auf dem Boden zurück. Zügig stieg ich die Stufen hinauf und eilte in die Abgeschiedenheit meines Hauses. Mit jedem Schritt dachte ich an das, was Phebe gesagt hatte, über Judah, Delilah, die gefallenen Brüder.
Und mit jedem Schritt redete ich mir ein, dass das, was sie mir gerade offenbart hatte, auf gar keinen Fall wahr sein konnte. Dass Judah zu solcher Grausamkeit, solcher Verdorbenheit, schlicht nicht fähig war. Und er würde nie die Anweisungen der Heiligen Schrift brechen, um dem, was wir als wahr erachteten, zu trotzen.
Er war mein Bruder.
Er würde mich doch nie derart hintergehen.