Kapitel 9

Maddie

Ich konnte seinen Anblick nicht fassen. Flame. Mein Flame. Gebrochen, Hände und Füße an das schmale Bett in der Mitte des Zimmers gefesselt. Sein Oberkörper war nackt und voller Blut. Schnitte überall auf der Haut. Überall. Überall Schnitte und Kratzwunden.

Seine Beine steckten in seiner schwarzen Lederhose, aber die war auch zerschnitten, und rote blutige Haut blitzte darunter hervor.

Doch es waren seine Augen … seine wunderschönen dunklen Augen, die meine Seele schmerzten. Seine Pupillen waren geweitet, sodass sie ganz schwarz aussahen. Das Weiße in seinen Augen war leuchtend rot, durch viele geplatzte Äderchen. Warum, war deutlich zu sehen. Herzzerreißende Schreie drangen aus seiner Kehle, sein Rücken bog sich durch und seine Gliedmaßen waren starr, als würde er von innen verbrennen.

Meine Beine hatten vor Schock nachgegeben, als ich ihn in diesem gequälten Zustand sah. Und ich war auf dem Boden gelandet. Das Ausmaß dessen, was Viking und AK beschrieben hatten, starrte mir nun finster ins Gesicht. Flame war so im Schmerz gefangen. Mehr als ich je mit angesehen hatte.

Dann drehte er den Kopf zu mir. Und sein verzweifeltes Zerren hörte auf. Ich hielt den Atem an, denn ich hatte Angst, irgendeine plötzliche Bewegung zu machen. Ich wartete darauf, dass er mich sah und erkannte, dass wirklich ich, Maddie, es war. Die junge Frau, über die er unablässig wachte – doch seine Augen schienen durch mich hindurch zu starren. Meine Gefühle stiegen mir die Kehle hoch. Ich rührte mich keinen Zentimeter, und eine Träne lief mir über die Wange.

Da sah ich etwas in Flames gequältem Blick aufflackern, und mein Herz machte vor Hoffnung einen Satz. Langsam kroch ich vorwärts, als seine trockenen, lädierten Lippen sich öffneten – und dann zerschmetterte meine Hoffnung in unzählige Stücke.

»Töte mich …« Seine Stimme klang heiser, als hätte er winzige Glassplitter geschluckt. Aber seine Bitte drang so laut wie ein Schrei an meine Ohren. Seine Finger wurden stocksteif, und sein Rücken bog sich durch.

»Töte mich«, knurrte er wieder, diesmal grimmiger. Ich konnte sehen, dass was auch immer ihn in seinem Griff hielt, wieder stärker wurde. Doch es gab keinen Zweifel daran, was Flame wollte. Worum er mich anflehte.

Die Adern an seinen blutverschmierten Armen traten hervor, so wie die harten Muskeln am Oberkörper, als er die Hände zu Fäusten ballte, und er fing an am ganzen Körper zu zittern.

Flames Kopf begann zu zucken und seine Augen wurden glasig, als seine Beine an den Fesseln zerrten. Ein schmerzerfüllter Schrei drang über seine Lippen, und ich sprang auf – ich konnte seinen Schmerz nicht ertragen. Es brach mir das Herz, mit jeder Sekunde mehr. Das war keine Art zu leben. Aber ich konnte ihn doch nicht töten. Das konnte ich nicht …

Als sein Blick auf mich fiel, sah ich sein wortloses Flehen darin. Er wollte nicht länger so leben. Er wollte frei sein von seinem Schmerz. Wie ich so viele Jahre lang, wollte auch er frei sein.

Ich unterdrückte ein Schluchzen und kam näher. Flame bog den Rücken durch, sank wieder auf die schweißdurchtränkte Matratze, und dann noch einmal. Ich wollte ihn berühren. Mehr als alles andere wollte ich ihm die Hand auf den Arm legen und ihm sagen, dass alles gut würde. Ich wollte seine Fesseln lösen und ihn in meinen Armen halten.

Aber ich konnte es nicht. Die Ängste und Hemmnisse, mit denen wir beide zu kämpfen hatten, hielten mich davon ab. Es war zu viel für mich, um jetzt damit fertig zu werden. Ich verlor mich im Augenblick. Doch niemand sollte so existieren, in so viel Schmerz und Leid.

Nur noch Zentimeter vom Bett entfernt zitterten meine Hände so sehr, dass ich Angst hatte, sie würden sich nie wieder beruhigen.

Mein prüfender Blick glitt über die Striemen an seinen Armen … und das Blut … und wanderte dann nach oben, wo ich das Zucken seiner Muskeln, seiner Haut sah. Und endlich erreichte mein Blick diese Augen. Augen, die mir den Atem raubten. Sie musterten mich. Plötzlich streckte Flame die Hand aus, so weit die Fessel es zuließ, und flüsterte: »Die Flammen. Die Flammen sind zu heiß. Ich kann nicht … kann sie nicht aufhalten … gefesselt … zu viel … töte mich … bitte …«

»Flame«, rief ich schluchzend und schüttelte den Kopf, »ich … ich kann nicht … ich …«

»Bitte …« Der verzweifelte Tonfall in seiner rauen Stimme schnitt in meine Seele und brannte sich in mein Herz.

Flames Kopf drehte sich zur Seite, als eine weitere Welle aus Schmerz seinen Leib packte. Er hatte Gewicht verloren. Seine Haut war bleich wie der Tod, und seine Augen waren wund vor Schmerz.

Ich schloss die Augen und holte tief Luft. Dann öffnete ich sie wieder und hob den Blick. An der Wand befand sich ein Streifen aus magnetischem Metall, an dem reihenweise Messer hingen. Ein Brüllen drang aus Flames Kehle, und ich wusste, dass jede Ruhe, die er aufgebracht hatte, nun wieder verschwunden war.

Die Flammen sind zu heiß … Töte mich … Ich grübelte über seine Worte und sein Flehen. Und dann bemerkte ich, dass meine Füße sich langsam vorwärtsbewegten.

Mit jedem Schritt wurde das Loch aus Kummer in meinem Bauch größer. Aber meine Beine trugen mich weiter vorwärts. Unter der Messerreihe blieb ich stehen und nahm das eine, das ich in seinen Händen gesehen hatte, als er unter meinem Fenster hin und her gelaufen war. Es hatte einen braunen Holzgriff. Die Klinge war scharf und der Stahl so poliert, dass das trübe Licht von der Decke darin schimmerte und einen Schatten auf den Boden warf.

Das schmale Bett knarrte, und Flame gab ein lautes Brüllen von sich. Ich schloss die Augen und zuckte zusammen. Dann holte ich tief Luft und öffnete sie wieder.

Ich stählte meine Nerven und drehte mich um, im selben Moment, als Flame den Rücken durchbog und den Kopf hin und her drehte. Ich vergewisserte mich, dass ich das Messer fest in der Hand hielt, schluckte die Angst hinunter, die mich im Griff hatte, und ging weiter. Als Flame mich hörte, knurrte er in meine Richtung, doch als sein Blick auf das Messer in meiner Hand fiel, erstarrte er am ganzen Körper. Und dann sah ich es: den Ausdruck von Erleichterung in seinen Augen, als er das Messer sah. Das Messer, das ich locker in der Hand hielt.

Mit bebenden Nasenflügeln verfolgte Flame meine Schritte, bis ich neben ihm stehen blieb – näher, als ich ihm viele Monate gewesen war. So nahe konnte ich jedes Detail an seinem Körper sehen. Ich sah alles an ihm, jede Narbe, jeden Schnitt, jeden blauen Fleck.

Aber ich konnte den Blick nicht von seinem Gesicht abwenden. Ich hatte nie einen Mann näher betrachtet. Nach dem, was ich in den Händen von Männern erlitten hatte, konnte ich nichts an ihnen attraktiv finden. Ich hatte überhaupt nicht darüber nachgedacht. So dachte ich einfach nicht. Ich hatte weder Schmetterlinge im Bauch noch Herzklopfen gehabt oder gespürt, wie mir der Atem stockte. Immer wenn Lilah und Mae von Ky und Styx sprachen und schon rot wurden, wenn sie nur das Gesicht, die Augen, die Lippen ihres Geliebten beschrieben – verstand ich das nicht.

Doch als ich hier über Flame stand, in diesem Moment, und ihm ins gequälte Gesicht blickte – seine scharf geschnittenen Züge: leicht krumme Nase, volle Lippen, kurzer dunkler Bart und diese seelenvollen Augen, diese unglaublich langen schwarzen Wimpern –, da erwachte in meinem Herzen ein noch nie gekanntes Gefühl und füllte mich mit Licht und unglaublicher Wärme. So nahe fühlte ich Spannung zwischen uns knistern. Ich fühlte etwas Magnetisches in der Luft.

Ich … ich wollte ihn für mich. In diesem Moment, als ich den Mann, der zum Mittelpunkt meiner Welt geworden war, zerbrechen sah, wollte ich nichts mehr als ihn retten. Um ihm den Frieden zu schenken, den er so sehr verdiente, auch wenn das bedeutete, dabei mein neu erwachtes Herz zu opfern.

Flame versteifte sich mit einem lauten Stöhnen. Ich packte das Messer fester. Es fühlte sich wie ein tonnenschweres Gewicht in meiner Hand an, doch ich wusste, was ich zu tun hatte. Für Flame, sagte ich mir, du musst das für Flame tun.

Ich stärkte meinen zitternden Griff und hob das Messer. Ich holte tief Luft und blickte dann auf Flame hinab. Seine wunderschönen Augen verfolgten mich. Tränen traten mir in die Augen, als ich flüsterte: »Flame … ich weiß, dass du im Augenblick verwirrt bist. Aber ich will dich retten. Ich will dich retten, wie du mich so oft gerettet hast.« Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und fuhr fort: »Ich weiß, dass du ewigen Frieden willst, aber … aber … ich kann nicht … ich kann dir nicht das Leben nehmen.«

Tränen liefen mir über die Wangen, doch ich führte den Mund dicht an sein Ohr. »Ich weiß, dass die Flammen dich sehr quälen. Und ich weiß, dass du in Schmerz lebst. Ich weiß, dass du nicht mehr leben willst. Ich …« Ich drängte meine Emotionen zurück, als Flame ganz unheimlich still wurde. »So weit war ich auch. Ich habe den Drang verspürt, dahinzuschwinden und nie wieder aufzuwachen. Aber dann ist etwas mit mir passiert. Jemand ist mir passiert … Du.«

Flames unregelmäßiger Atem blies über das Haar, das mir ins Gesicht fiel, doch er rührte sich nicht. Sein Körper war vollkommen reglos.

Ich wich ein wenig zurück, blickte ihm forschend in die glasigen Augen und betete zum Allmächtigen, dass er mich sehen konnte. Dass er meine Worte hören konnte. Ich wollte so gern mit den Fingern durch sein Haar streichen, wie ich es Mae bei Styx hatte tun sehen, hielt mich allerdings zurück.

»Ich habe dich beobachtet, Flame. So wie du mich. Und ich habe gesehen, wie du die Flammen befreist. Ich habe von meinem Fenster aus mit dir gezählt, als du dir in die Haut geschnitten und freigelassen hast, was du in dir glaubst.« Meine Beine fingen zu zittern an, als ich das Messer hob und die Klinge über seinen Arm hielt. »Ich werde dir nicht das Leben nehmen, aber ich helfe dir, die Flammen freizulassen. Ich werde bei dir bleiben, hier im Zimmer, bis du zu mir zurückkommst. Bis mein Flame wiederkommt.«

Ich senkte die Messerspitze an eine Stelle unverletzter Haut an Flames Unterarm. Bevor sich mir die Kehle zuschnürte wegen dem, was ich gleich tun würde, flüsterte ich: »Ich werde dein Leben nicht beenden, Flame, denn es ist viel zu kostbar, um es zu verlieren.«

Ich stützte die Hand auf, drückte die scharfe Klinge in Flames Haut und zog sie darüber. Als der Schnitt offenbar wurde und Blut zu fließen begann, war es Balsam für Flames Qual. »Eins«, flüsterte ich laut, unfähig, den Blick von seinem Gesicht abzuwenden. Flames weit aufgerissene erschöpfte Augen blieben auf meine fixiert. Doch dann wurden sie bleischwer vor Erleichterung.

Ich schnitt weiter. »Zwei«, zählte ich mit, »drei, vier, fünf.« Flames Körper entspannte sich langsam, seine angestrengten Arme und Beine in den Fesseln beruhigten sich. Ich betrachtete seinen Arm, jetzt bedeckt von frischem Blut, und zwang mich weiterzumachen. Alles in mir schrie, ihn nicht weiter zu verletzen, doch ich wusste, dass ich weitermachen musste. Ich musste bis elf kommen.

Dann legte ich die Klinge an seinen Oberarm und schnitt weiter. »Sechs, sieben, acht, neun.« Übelkeit stieg mir in die Kehle, weil ich ihn verletzen musste. Ich wusste nicht, ob ich noch weitermachen konnte, doch da zuckte Flames Arm, und dann hörte ich ihn leise flüstern: »Zehn.«

Seine dunklen Augen beobachteten mich, jetzt wachsam. Tränen kullerten mir übers Gesicht. Flame holte mühsam Luft und flüsterte wieder heiser: »Zehn.«

Ohne den Blick von ihm abzuwenden, schnitt ich in seine Haut. Flames Lider flatterten erleichtert, als ich sagte: »Zehn.«

Als ich die Klinge erneut ansetzte, hob sich Flames Brustkorb erwartungsvoll. Ich schnitt tief und würgte hervor: »Elf.«

Flame sank zurück aufs Bett, als hätte ein kalter Wasserguss die Flammen in seinem Blut ausgelöscht, und sein stockender Atem wurde regelmäßig.

Ich ließ augenblicklich das Messer zu Boden fallen und starrte auf meine Hand, nun bespritzt mit Flames Blut. Mir war übel, als ich auf die rote Flüssigkeit starrte. Ich schaute weg, und mein Blick landete auf Flames ausgestrecktem Körper. Er sah erschöpft aus, Hände und Füße nun reglos in den straffen Fesseln. Aber sein Gesicht war das, was mich ermutigte, einen Funken Frieden mit dem zu finden, was ich gerade getan hatte. Sein wunderschönes Gesicht, dessen Züge jetzt glatt und entspannt waren. Und seine Augen. Seine halb geschlossenen Augen, die mir wortlos dankten. Ich hatte erfolgreich die Finsternis bekämpft, die seine Seele verschlang.

Vorerst.

Vorsichtig kam ich näher und flüsterte: »Schlaf, Flame. Ruhe dich aus. Ich werde hier sein, wenn du aufwachst.«

Es dauerte nicht lange, bis seine Augen zufielen und der Schlaf seinen erschöpften Geist überwältigte. Ich kämpfte den plötzlichen Drang nieder, ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken.

Flames breiter Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig. Aber während er vorerst Frieden gefunden hatte, fand ich mich plötzlich geplagt von Schuld.

Was habe ich getan?, dachte ich und starrte auf das Blut an meinen Händen.

Meine Füße trugen mich rückwärts, bis ich über etwas stolperte. Unvermittelt kam mir die kleine, schrecklich unordentliche Hütte zu Bewusstsein. Es gab kaum Möbel hier, außer diesem schmalen Bett und einem einzelnen Stuhl. Kein Licht. Nichts, was dieses Haus zu einem Ort der Bequemlichkeit machte. Flames Sachen lagen überall, Staub und Spinnweben bedeckten die Wände. Der Boden war übersät mit Kleidungsstücken und schmutzigem Geschirr, und dazu etwas, das aussah wie blutgetränkte Lumpen. Bis auf eine kleine Stelle hinten im Haus. Sie sah wie eine Falltür im Boden aus. Doch diese hölzerne Falltür war voller Kratzer, Messerspuren und etwas, das wie getrocknetes Blut aussah. Und daneben stand ein Eimer.

Das war alles zu viel; viel zu viel. Tränen blendeten mich und schnürten mir die Kehle zu. Ich brauchte Luft. Ich brauchte frische Luft, nur solange er schlief.

Ich fand die Tür, zog lautlos den Stuhl unter dem Türknauf weg und schlüpfte hinaus. Als ich in die frische Luft kam, sank ich zu Boden und ließ meinen Tränen freien Lauf – direkt in meine blutbefleckten Hände.