»Maddie!« Maes panische Stimme riss mich aus meinem Kummer. Ich blinzelte, um die Tränen zu verscheuchen. Mae ging vor mir in die Hocke.
Als mein Blick wieder klar wurde, sah ich, dass Mae nach meinen Händen griff. Doch überrascht zog sie sie zurück. »Gott … Maddie«, flüsterte sie, und das Blut wich ihr aus den Wangen. »Was ist passiert?«
Vier große Silhouetten standen plötzlich im Licht, als sie sich hinter Mae stellten, um mich zu sehen. »Was zum Teufel …?«, rief eine tiefe Stimme. Ich öffnete flatternd die Augen, um den Fragesteller anzusehen.
Viking blickte mich merkwürdig an. Seine Miene war noch so traurig wie vor meinem Lauf in die Hütte, doch jetzt waren seine blauen Augen auf eine Stelle fixiert.
Ich senkte den Blick auf meine Hände und hob sie. Sie zitterten wie Espenlaub. Maes Hand strich über mein angezogenes Knie, als sie fragte: »Maddie? Was ist passiert? Wir hörten Flame schreien, und dann wurde alles still.«
Ich spürte die nervenaufreibende Schwere von fünf Blicken auf mir, als ich tief Luft holte und leise antwortete: »Ich habe ihm in die Haut geschnitten. Er wollte, dass ich ihn töte … aber … ich konnte es nicht. Ich muss ihn retten, so wie er mich gerettet hat.«
»Er hat dich gebeten, ihn zu töten?«, fragte jemand mit kehliger Stimme. Niedergeschlagenheit klang in jedem Wort. Ich blickte auf. AK war näher gekommen. Ich nickte, und er trat mit offenem Mund wieder zurück.
»Was?«, rief Ky und fixierte den Bruder.
AK schüttelte den Kopf. »Er hat mit ihr gesprochen. Zwei Tage lang haben wir absolut nichts aus ihm herausbekommen. Kein verdammtes Wort, außer dass er schreit und auf dem Bett total durchdreht.«
Mein Herzschlag raste los, als ich die Männer hörte. Maes Aufmerksamkeit richtete sich von AK wieder auf mich. »Maddie, hast du das gehört? Du bist zu ihm durchgedrungen.«
Ich nickte mit großen Augen. Ich spürte, dass Mae meine Hand nahm, obwohl sie voll Blut war. »Ich musste die Flammen freilassen.«
Mae runzelte verwirrt die Stirn.
»Du hast ihm Schnitte verpasst?« Viking kam um Mae herum und ging neben ihr in die Hocke. »Du hast ihm Schnitte mit einem Messer verpasst«, er zeigte auf meine Hände, »und deshalb hast du Blut an den Händen?«
»Ja. Ich … ich habe ihn geschnitten.«
Fassungsloses Schweigen folgte auf mein Geständnis. Meine Schuldgefühle drehten mir den Magen um, doch ich fuhr fort: »Ich wollte ihn nicht verletzen. Aber er wollte, dass ich ihn töte. Er sagte, dass er die Flammen nicht mehr ertragen kann. Dass sie zu heiß wurden. Er hatte Schmerzen, und seine Augen haben mich angefleht …« Ich verstummte, und mir drang ein Schluchzen über die Lippen.
»Sch …«, machte Mae tröstend und setzte sich neben mich auf den Boden. Sie legte den Arm um meine Schultern, und ich sank in ihre warme Umarmung.
»Ich habe ihn monatelang beobachtet, Mae. Ich habe gesehen, wie er gegen den Schmerz in sich ankämpft. Ich habe gesehen, dass er sich in die Haut schneidet. Und ich habe gesehen, wie er es tut. Also habe ich getan, was er sonst selbst tut. Ich habe ihn geschnitten … ich … ich habe das Messer genommen und ihn geschnitten … ich musste die Flammen freilassen.«
Ich weinte bitterlich, und Selbstekel machte sich in mir breit. Doch als ich schon dachte, ich würde die Leere in mir nie füllen können, fragte Viking: »So nahe bist du ihm gekommen?«
Seine Frage traf mich unvorbereitet und trocknete auf der Stelle meine Tränen. Langsam hob ich den Kopf von Maes Schulter, blickte Viking ins geschockte Gesicht und nickte.
Viking drehte ruckartig den Kopf zu AK, und der runzelte die Stirn. »Und wieso ist er jetzt still?«
Ich räusperte mich und antwortete: »Er schläft. Die Schnitte haben die Flammen vertrieben. Er ruht sich aus.«
AKs Augen wurden groß, und er drehte sich um, ging zu den Bäumen und fuhr sich dabei durch das lange Haar.
Ich beugte mich vor und sagte zu Viking: »Er brauchte Ruhe. Aber ich habe ihm gesagt, dass ich bei ihm bleibe. Dass ich in der Nähe bleibe, bis er frei von seinen Qualen ist.« Ky duckte sich weg und lief AK nach. Mir pochte das Herz bis zum Hals, als er Flames besten Freund einholte. Er legte AK den Arm um die Schultern, die darauf herabsanken.
»Wir dachten, er sei verloren. Zwei Tage lang haben wir alles versucht. Aber wir in seinem Zimmer? Das machte alles nur noch zehnmal schlimmer. Ich habe keine Ahnung, für wen er uns gehalten hat, doch er hat todsicher nicht seine Brüder in uns gesehen. Wir waren so weit, ihn in den Hades zu schicken, und dann kommst du und schaffst es in ein paar Minuten, ihn so zur Ruhe zu bringen, dass er sogar schlafen kann«, offenbarte Viking.
Er ließ den Kopf hängen. Er sah so traurig aus. Genau genommen sahen AK und Viking beide völlig erschöpft aus. Mir wurde es schwer ums Herz, als mir klar wurde, wie sehr sie Flame liebten. Sie mussten sich total hilflos gefühlt haben.
Meine Finger spannten sich an, und dann holte ich Luft, um mich zu stärken, und streckte scheu die Hand aus, zog sie jedoch im letzten Moment wieder zurück. Viking hob ruckartig den Kopf. Er starrte mich an, und dann hob sich sein Mundwinkel und er schenkte mir ein winziges Lächeln.
»Ich bleibe bei Flame.«
Viking stieß den lange angehaltenen Atem aus.
»Maddie«, schlug Mae vorsichtig vor, »niemand erwartet, dass du bleibst. Du hast für Flame schon mehr als genug getan, das hätte niemand von dir erwartet.«
Darauf straffte ich den Rücken und stand auf. Ich warf einen Blick zu Styx, der mich schweigend beobachtete und jede meiner Bewegungen verfolgte. Aber ich blieb fest entschlossen.
»Ich bleibe«, beharrte ich.
Mae stand auf. »Warum, Maddie?«
Ich wandte mich meiner Schwester zu und antwortete: »Weil das da drin mein Flame ist. Und er braucht mich. Niemand anderen. Mich.«
»Dein Flame?«, flüsterte sie und legte den Kopf schief.
Ich spürte, wie Röte meine Wangen überzog, und zuckte mit den Schultern. »So sehe ich Flame. Als meinen Flame. Von dem Augenblick an, als ich ihn berühren konnte und er mich anfasste, war ich sein. Und bin es seitdem.«
Ich klopfte meinen langen Rock ab, um meinen nervösen Händen etwas zu tun zu geben, und fragte Mae: »Kannst du uns bitte etwas zu essen bringen? Zutaten für Suppe? Und Sachen, um seine Hütte zu säubern?«
Mae nickte wie betäubt. Styx legte den Arm um ihren Oberkörper und drückte sie an sich. Seine Lippen bewegten sich an ihr Ohr, und er flüsterte etwas, das nur sie beide hören konnten. Mae schloss die Augen, doch dann seufzte sie und nickte.
»Ich bringe dir gleich alles vorbei, Maddie«, verkündete sie.
»Danke.« Mae warf Ky, AK und Viking einen Blick zu und sah dann wieder mich an. »Ist es in Ordnung für dich, hierzubleiben, während ich alles hole?«
Ich nickte.
Mae und Styx verschwanden zügig im Wald und ließen mich mit den drei Männern allein. Ich stand mit gesenktem Kopf da und spielte mit meinen Händen, als Viking sich räusperte und mich ansprach.
»Du musst direkt sein, wenn du mit ihm redest.« Der Rat machte mich neugierig, und ich hob den Kopf und sah, wie Ky und AK sich zu Viking stellten.
AK warf Viking einen Blick zu und konzentrierte sich dann auf mich. »Durch die Blume versteht er nicht. Wenn du etwas von ihm willst, dann frag ihn direkt. Deute nichts an, denn das wird er nicht verstehen. Wenn du wissen willst, was er denkt, frag ihn. Vielleicht erzählt er es dir nicht – der Bruder redet nicht viel –, aber vielleicht antwortet er auch einfach. Und er ist scheu, also so richtig. Es wird ihm schwerfallen, in deiner Gegenwart zu wissen, wie er sich verhalten soll. Aber wenn du mit ihm redest oder beschäftigt aussiehst, dann beruhigt ihn das. Und, Scheiße noch mal, wenn er aus dem Shitstorm rauskommt, in dem er gerade ist, und sich selbst schneidet, dann starr ihn nicht an. Das macht ihn total verlegen.«
»Er zeigt auch nicht wirklich Emotionen. Egal ob er glücklich ist, was er, wie ich ehrlich denke, noch nie war, oder ob er traurig ist, sein Gesicht bleibt immer gleich. Aber man merkt, wenn er wütend ist. Das kann er anscheinend nicht unterdrücken. Wenn er wütend ist, dann frisst ihn das auf. Die Flammen … sie brennen stärker, wenn er sauer ist«, fuhr Viking fort.
Ich atmete aus, ohne zu bemerken, dass ich die ganze Zeit, als sie mit mir redeten, den Atem angehalten hatte. Ich drückte die Hand an die Stirn.
Viking ging aus seiner beeindruckenden Körpergröße in die Hocke, um mir in die Augen zu sehen. »Verstehst du das, Madds?«
Ich nickte und versuchte mich verzweifelt an alles zu erinnern, was sie mir erzählt hatten, als ich zaghaft fragte: »Warum … warum ist er so?«
AKs Züge spannten sich an, und ein Ausdruck von Beschützerinstinkt trat in sein Gesicht. »So ist er einfach, Maddie. Flame ist anders. Aber es macht ihn kein verdammtes bisschen weniger wichtig.«
»Sieh mal, Madds. Flame denkt einfach anders als du und ich. Wahrscheinlich irgendeine angeborene Störung. Aber er weiß nicht, was es ist, und ganz ehrlich, selbst wenn ich denke, ich wüsste, was es sein könnte, dann geht es mich einen Scheiß an. Er ist Flame. Er ist mein verdammter Bruder, Störung hin oder her.«
Wäre die Situation eine andere gewesen, hätte ich gelächelt, weil Flame den beiden so sehr am Herzen lag.
Dann fiel Schweigen über uns drei, und Viking und AK ließen sich auf Stühlen vor einer anderen Hütte nieder. Und dann rutschte mir das Herz in die Hose, als ich einen dritten, leeren, Stuhl sah. Vor meinem inneren Auge sah ich die drei besten Freunde nachts hier draußen sitzen, bevor Flame anfing, vor meinem Fenster Wache zu stehen.
Mein Blick richtete sich auf die Holztür zu Flames Hütte. Ich fragte mich, ob Flame wusste, wie sehr er geliebt wurde. Ich vermutete ganz stark, dass es nicht der Fall war. Und ich konnte mir vorstellen, dass welche finsteren Gedanken auch immer ihn gefangen hielten, es ihm unmöglich machten, es zu sehen.
»Kommst du klar, Madds?«
Ich drehte ruckartig den Kopf zur Seite und sah Ky an der Hütte lehnen, einen Fuß an die Wand gestützt, eine Zigarette in der Hand. Ich nickte, fixierte den Blick auf die Bäume und wünschte mir, dass Mae sich beeilte und bald wiederkam.
»Bist du sicher?«, beharrte Ky.
»Ja«, flüsterte ich und sah, dass seine Augen schmal wurden. Er zog an seiner Zigarette und stieß dann eine große Rauchwolke aus. Und während ich ihm dabei zusah, musste ich an Lilah denken. An den Weg, den sie hinter sich hatten. Lilah war so verletzt. Ich war verletzt. So sehr, dass ich wusste, ich würde für den Rest meines Lebens allein bleiben. Und ich war zufrieden damit. Lilah war das auch gewesen. Doch Ky hatte ihr Herz gewonnen. So verletzt sie war, sogar nachdem sie sich selbst verletzt und ihr Gesicht zerschnitten hatte, wollte er sie mehr als jede andere. Und er hatte vor Gott ihre Hand erhalten.
Ky rührte sich nicht und hatte den Blick weiter geradeaus gerichtet, aber er sagte: »Frag einfach, Madds. Egal, was dir gerade durch den Kopf geht.«
Ich spürte Hitze in mein Gesicht steigen, weil er mich ertappt hatte, doch dann nahm ich meinen ganzen Mut zusammen. »Du liebst Lilah«, sagte ich leise.
Ky warf seine Zigarette auf den Boden, drehte sich dann zu mir und schenkte mir sein hübsches Lächeln. »Ist das eine Frage oder eine Feststellung, Liebes?«
»Eine Frage«, antwortete ich.
Kys Lächeln verschwand, und er nickte. »Sie ist mein Leben, Madds. Ich liebe sie bis in den Tod.«
»Obwohl sie verletzt ist? Selbst nach dem, was mit uns geschehen ist – mit ihr, im Orden? Ist das nicht zu viel für dich, um damit klarzukommen?«
Ky biss die Zähne zusammen, als ich den Orden erwähnte. Einen Moment lang dachte ich, er würde nicht antworten. Doch dann holte er tief Luft und sagte: »Ganz und gar nicht, Madds. Glaube ich an den ganzen Jesusscheiß, an den Lilah glaubt? Kein verdammtes Stück. Aber sie hatte mein Herz, als ich euch alle aus dieser Zelle krabbeln sah. Und ja, sie war verletzt und dachte, sie wäre einen Dreck wert. Aber mir war sie immer wertvoll. So wie Mae für Styx. Die Scheißkerle in dieser Sekte haben euch Frauen fast kaputt gemacht. Aber das heißt nicht, dass ihr nicht heilen könnt. Schau dir Li jetzt an, die beste Frau auf dem ganzen verdammten Planeten. Und ich habe sie bekommen. Sie gehört mir, verletzt oder nicht. Und ich bin der glücklichste Scheißkerl von allen hier.«
Mir schnürte sich vor Rührung die Kehle zu, als ich die Überzeugung in seinen Worten hörte. Zum ersten Mal überhaupt spürte ich den Wunsch zu erfahren, wie das war. Wie es wäre, bis zum Äußersten begehrt zu werden? Wie es wäre, so bedingungslos geliebt zu werden?
Der kühle Wind wehte durch mein Haar und blies es mir ums Gesicht, als Ky plötzlich vor mir stand. Er vergewisserte sich, dass ich ihm in die blauen Augen sah, als er mir sagte: »Es wird ihm egal sein.«
Darauf blinzelte ich und runzelte die Stirn, unsicher, was er wohl meinte. Dann zeigte er zu Flames Hütte. »Flame, ihm wird egal sein, dass du Schlimmes durchgemacht hast. Ich kenne seinen Hintergrund nicht, fuck, nicht einmal AK und Viking wissen recht viel darüber. Aber er hat sein Herz schon an dich verloren, Madds. Ich will nicht lügen, ich habe keine Ahnung, was das in seinem total kranken Kopf bedeutet, aber dieser Bruder da drin hat eine Scheißkugel für dich abgefangen. Mehr Hingabe als das kann man gar nicht kriegen. Verstehst du?«
Mein Herz flatterte bei Kys freundlichen Worten, doch gerade als ich ihm dafür danken wollte, kamen Mae und Styx aus dem Wald zurück, und Styx hatte drei Taschen dabei.
Als sie herankamen, streckte ich die Hände aus und nahm die Taschen.
»Nahrung und Putzmittel. Ich habe auch ein paar Kleider für dich zusammengepackt und andere saubere Sachen. Und dein Skizzenbuch und Stifte, dann kannst du weiterzeichnen. Ich weiß ja, wie gern du zeichnest.« Mae schenkte mir ein unterstützendes Lächeln. Dann drückte sie mir einen Kuss auf die Wange und warnte mich: »Sei vorsichtig.«
Mir ging das Herz auf. »Danke, Schwester.«
Ich schenkte Mae ein leises Lächeln und drehte mich anschließend zur Tür um. Ich schloss die Augen. Danach öffnete ich sie wieder, drehte leise den Türknauf und trat ein. Ich stellte die Taschen auf den Boden, und mein Blick fiel auf Flame, der immer noch auf dem Bett lag und schlief.
Leise ging ich vorwärts, still wie die Nacht, und blieb dann neben ihm stehen. Sein Anblick, blutbesudelt und verletzt, als er mich gebeten hatte, sein elendes Leben zu beenden, schnitt mir nach wie vor tief in die Seele. Doch nun im Schlaf war Flame … er war … perfekt.
Er war immer eine gequälte Seele. Er ging immer unruhig hin und her, murmelte vor sich hin oder schnitt sich in die Haut. Und ihn jetzt so zu sehen, so still und reglos, brach mir das Herz.
Ich hob die Hand und ließ sie über Flames Gesicht in der Luft schweben. Und ohne ihn zu berühren, fuhr ich über seine Stirn, die leicht gekrümmte Nase, über die vollen Lippen und seinen Bart. Ein Lächeln spielte um meine Lippen, als ich mit der Hand in der Luft über seinen Arm strich, bis ich seine Hand erreichte. Seine Handfläche lag oben.
Ich stellte mir die Skizze aus meinem Buch vor und ließ meine Hand genau über seiner liegen. Seine Hand war so viel größer als meine. So viel rauer, voll mit Tattoos von Flammen, silbernen Piercings und Narben. Meine Hand war klein und blass, aber noch nie im Leben hatte ich etwas gesehen, das so perfekt aussah wie dieser Anblick.
Ein Stöhnen drang über Flames Lippen, und ich wich zurück und fühlte augenblicklich den Verlust der Vorstellung unserer aneinandergelegten Hände, des Gefühls, dem Mann so nahe zu sein, den zu retten ich entschieden hatte – nein, den ich retten musste.
Flame wollte sich umdrehen, doch die Fesseln an Händen und Füßen hinderten ihn daran. Noch im Schlaf hatte er frustriert die Stirn gerunzelt.
Ich rang mit mir, was ich tun sollte. Er wollte frei sein, hatte mich angefleht, ihn zu befreien. Und tief in meinem Herzen wusste ich, dass er mich nicht verletzen würde, nicht verletzen konnte.
Entschlossen trat ich an sein Bett, machte mich an die Aufgabe, seine Fesseln zu lösen, und achtete dabei darauf, seine Haut nicht zu berühren. Als das letzte zerrissene Stück Leinen zu Boden fiel, rollte er sich augenblicklich zu einem Ball mitten auf dem Bett zusammen.
Ich trat zurück und musste unwillkürlich denken, dass er so, wie er nun dalag, wie ein kleines Kind wirkte. Genauso zerbrochen und verängstigt.
Ich stand mehrere Minuten lang da und fragte mich, was in seinem Leben wohl geschehen sein mochte, das ihn so hatte werden lassen. Dann glitt mein Blick durch den Rest der kleinen Hütte, und ich machte mich ans Saubermachen. Ich musste ihm irgendwie helfen. Und sauber machen konnte ich. Ich konnte nicht viel, aber das schon.
Alles war in Unordnung. Die größte Quelle: blutige Lappen, voll mit getrocknetem Blut, überall auf dem Boden.
Zügig sammelte ich all den Müll ein – und blieb dann abrupt stehen, als ich den einzigen sauberen Bereich im Zimmer erreichte, den einzigen Ort, auf dem nichts herumlag. Dort war eine Falltür in den Boden eingebaut. Ich bückte mich und betrachtete die Kratzer und das getrocknete Blut auf dem Holz. Ich konnte den Eimer schon riechen, noch bevor ich ihn erreichte, und da ich den Gestank nicht ertrug, beschloss ich, dass er das Erste war, das ich säuberte.
Einige Stunden später war die Hütte sauber und aufgeräumt, und ich bereitete die Zutaten für Suppe vor. Ich hatte gerade angefangen, das Gemüse zu schneiden, als ein qualvoller Aufschrei durch die Hütte drang.
Ich ließ das Messer fallen und rannte aus der Küche in das offene Schlafzimmer. Flame wand sich auf dem Bett und kratzte sich mit den Fingernägeln den Arm auf. Sein Rücken war durchgebogen, er lag auf der Seite und seine Hüften bewegten sich vor und zurück, als sei jemand hinter ihm … als ob …
Mir wurde es schwer ums Herz und in mir machte sich Leere breit, als ich die Position sah, die sein Körper abbildete – Flame niedergedrückt, jemand hinter ihm, jemand, der …
Nein …
Und er schrie vor Schmerz. Ich konnte nicht ertragen, was nach meiner Vermutung gerade in seinem Kopf passierte, und lief herum zur anderen Bettseite. Sein Gesicht war qualvoll verzerrt. Er hatte die Augen fest zugekniffen und atmete keuchend durch den Mund. Dann blickte ich nach unten. Er war erregt. Sein Geschlecht war aufgerichtet und presste sich gegen seine Hose. Doch so erregt er auch aussah – der Schmerz in seinem Gesicht und die furchtbaren Schreie aus seinem Mund verrieten mir, dass er alles andere als das war.
Er war gefangen.
Gefangen in seinem Kopf.
Ich trat ans Kopfende des Bettes, blieb mit etwas Abstand stehen und rief: »Flame!« Sein Körper warf sich weiter hin und her, also trat ich ein wenig näher. »Flame!«, versuchte ich es wieder, aber die Schreie aus seinem Mund wurden stärker und übertönten meine Rufe.
Ich eilte an den Bettrand, senkte den Kopf und rief zum dritten Mal: »Flame!«
Diesmal beugte sich sein Körper, seine Augen gingen ruckartig auf und mit einem lauten Aufbrüllen sprang er vom Bett. Seine großen Hände landeten an meinen Armen. Seine Kraft drängte mich rückwärts, bis mein Rücken an die Wand prallte und mir die Luft aus den Lungen trieb.
Seine Finger gruben sich in meine Arme und trieben mir die Tränen in die Augen. Ich schaute auf und sah, dass sein Blick sich in meine Augen bohrte. Das war nicht der Flame, den ich kannte. Das hier war ein Killer. Der Hangman mit den Messern.
Mit zusammengebissenen Zähnen und einem tiefen wütenden Knurren bewegte er die Hände aufwärts. Meine Eingeweide verknoteten sich, als mir klar wurde, dass er sich meiner Kehle näherte. Er würde mich erwürgen.
Er wollte töten.
Ich schloss die Augen und versuchte nachzudenken, was ihn wohl beruhigen würde. Seine Hände hatten schon meine Schultern erreicht. Fieberhaft dachte ich nach und suchte nach einer Antwort, doch alles, was mir einfiel, war das, was mich immer beruhigte.
Ich zitterte am ganzen Körper vor Angst, es gelang mir allerdings, tief genug Luft zu holen, um verzweifelt zu singen: »This little … light of mine, I’m … gonna let it shine. This little light … of mine, I’m gonna … let it shine. This little light of … mine, I’m gonna … let it shine. Let it … shine, let it shine … let it shine …«
Flames Hände an meinem Hals erstarrten, als die Worte verstummten. Sein Atem ging angestrengt, und die warmen Luftstöße wehten über mein Gesicht. Ich stand auf der Stelle erstarrt. Aber dann fingen seine Hände heftig zu zittern an, und als ich mich zwang, die Augen zu öffnen, fand ich mich zwei verlorenen tintenschwarzen Seen gegenüber, die mich verwirrt anstarrten. Ich hielt den Atem an, als Flames Augen hastig von einer Seite zur anderen zuckten. Und dann sah ich es: ein Aufflackern von Wiedererkennen, das ihn aus der Finsternis holte, die seinen Verstand gefangen hielt.
Mit einem geschockten Aufkeuchen stolperte Flame rückwärts, bis er an die Wand gegenüber prallte, und sackte zu Boden. Er hob die Hände vors Gesicht und starrte sie an, als könne er nicht glauben, was er gerade getan hatte.
Er senkte die Hände.
Seine Lippen bebten.
Und als seine müden, dunklen Augen sich wieder mit Leben füllten, stockte ihm der Atem und er flüsterte: »Maddie …?«