Kapitel 14

Gemeinde Neu Zion
Prophet Cain

»Dann war der Überfall bei der Übergabe der Hangmen also ein Erfolg?«

Ich blickte Judah über den Tisch hinweg an, und seine Miene erhellte sich. Er beugte sich vor, die Hände auf der Tischplatte, und antwortete: »Mehr als ein Erfolg. Die Tschetschenen haben sich zurückgezogen, als sie ihren Mann verloren. Und dann wandten sie sich schnurstracks an den Klan, um ein neues Geschäft zu machen, wie wir gehofft hatten. Was bedeutet, wir haben noch einen Käufer. Und das ist erst der Anfang.«

»Und Opfer?«, fragte ich.

Judah lehnte sich zurück und zuckte mit den Schultern. »Minimum. Die Tschetschenen sind tot. Eine Frau wurde getroffen. Aber sie hat überlebt.«

Bruder Luke rührte sich auf seinem Stuhl. »Die Männer, die der Klan angeheuert hat, wurden getötet.« Er wurde blass und schüttelte den Kopf. »Ermordet und gefoltert, etwa zwanzig Meilen nördlich von Georgetown. Ein Hangman hat sie erwischt und mit einem Messer in Stücke geschnitten.«

Mir wurde es schwer ums Herz, als ein vertrautes Gesicht in meinem Kopf aufblitzte. »Flame«, murmelte ich. »Der Bruder ist tödlich mit einem Messer.«

»Er ist ein Mann des Teufels. Das sind sie alle«, spie Judah gehässig. Ich hörte seinen giftigen Tonfall. »Am Ende werden sie alle bezahlen. Es ist nur eine Frage der Zeit.«

Ich nickte und schaute dann meinen Bruder und meinen Ratgeber an. »Gibt es sonst noch etwas?«

Beide nickten, doch Bruder Luke warf Judah einen Blick zu, stand dann verlegen auf und ging hinaus. Unvermittelt fand ich mich allein mit Judah im Büro. Judah stand seufzend auf. »Was ist, Cain? Du warst in letzter Zeit sehr still.«

Ich blickte aus den raumhohen Fenstern hinaus und sank tiefer in meinen Sessel. »Ich weiß nicht. Ich fühle mich ganz neben mir. Ich habe das Gefühl, dass ich keine Predigt richtig halten kann. Dass unsere Anhänger den Glauben in mich verlieren. Und ich habe das Gefühl, dass die Schlacht, die gegen die Hangmen geschlagen werden muss, unmöglich ist. Ein Vertrag mit den Tschetschenen scheint irgendwie nicht genug.« Ich starrte Judah an und sagte: »Ich habe fünf Jahre bei den Hangmen gelebt. Ich weiß, wie weit ihr Arm reicht, und ich weiß, wie viele Verträge sie haben. Ein Deal mit den Tschetschenen ist, als würde man mit einem Plastikpfeil auf einen Löwen schießen – es macht ihn wütend, aber es bringt ihn nicht um. Tatsächlich ist es wahrscheinlicher, dass der Mensch, der den Pfeil abschießt, zerrissen wird.«

Judah blieb neben mir stehen und legte mir die Hand auf die Schulter. »Wir haben allerdings den Herrn auf unserer Seite. Und die Botschaft des Herrn lebt in dir.«

»Ich warte immer noch auf eine Botschaft des Herrn. Onkel David erhielt sie direkt. Gott sprach zu ihm, wie du jetzt mit mir, ich selbst hingegen hatte bisher keinen Kontakt, nicht ein Wort.«

»Das kommt noch«, tröstete mich Judah. »Du bist noch neu, und die Gemeinde entwickelt sich erst gerade. Der Herr wird zu dir sprechen, wenn wir bereit sind, eine Anweisung zu erhalten.«

Ich strich mir übers Gesicht und zwang mich zu einem Lächeln. »Du hast recht.«

Judahs Lächeln war ansteckend. Dann trat er etwas zurück. »Komm, ich habe etwas, das dich froh machen wird.«

Ich stand auf und folgte Judah ins Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch vor dem Sofa lag ein Stapel mit DVDs. Judah bedeutete mir, dass ich mich setzen solle. Ich gehorchte.

Judah ging in den Flur und kam mit einem Fernseher auf einem Rollwagen zurück. Ich runzelte die Stirn. »Judah, was ist das? Du weißt doch, dass wir Technologie ablehnen.«

Er blieb stehen und sagte: »Aber wie soll ich dir die hier denn sonst zeigen! Und der Herr würde es nicht missbilligen; es ist richtig, wenn du diese Videos siehst. Du musst dich entspannen und darfst nicht zu sehr über deine Pflichten nachgrübeln. Jesus hatte Maria Magdalena, um ihn zu trösten, wenn seine Botschaft, sein Wirken zu anstrengend wurden. Du brauchst jemanden, der dasselbe für dich tut.«

Sofort ging mir ein Bild von Mae durch den Kopf, und ich schloss ausnahmsweise die Augen und gestattete mir, mich an ihr schwarzes Haar, ihre helle Haut und die eisblauen Augen zu erinnern, die mit einem Lächeln auf mir ruhen würden.

Ich erinnerte mich, wie wir in meinem Zimmer auf dem Sofa saßen und sie den Kopf an meine Schulter gelegt hatte und schlief. Ich hatte nie zuvor so etwas gefühlt. Oder seitdem. Ich war überzeugt, dass keine andere da je herankam.

Als ich das Sofa neben mir nachgeben spürte, holte mich das aus meinen Gedanken. Judah saß neben mir, die Fernbedienung in der Hand. Der Bildschirm war verschwommen und wartete darauf, mir zu zeigen, was Judah gebracht hatte.

»Was ist das, Bruder?«, fragte ich. Ein frohes Lächeln breitete sich wieder in seinem Gesicht aus.

»Deine Wahlmöglichkeiten«, antwortete Judah kryptisch und drückte Play auf der Fernbedienung. Zuerst war mir nicht klar, was ich mir da ansah. Es war draußen, irgendwo in der Gemeinde. Dann wechselte der Film, der wie ein Amateurvideo aussah, zu einer cremefarbenen Wand – eins der Mitgliederquartiere vielleicht?

Mit einer Handbewegung wollte ich Judah bitten, mir zu erklären, was das hier war, als plötzlich ein kleines Mädchen zu sehen war. Sie konnte nicht mehr als acht Jahre alt sein. Aber das war es nicht, was mich veranlasste, gegen die Übelkeit zu kämpfen. Nein, es lag daran, dass die Kleine bis auf Blumengirlanden im Haar nackt war. Und sie tanzte. Sie tanzte zu irgendeiner blechern klingenden Musik, die im Hintergrund spielte. Und sie zitterte. Ihr winziger Körper bebte, als eine Stimme – die ich als die von Bruder Luke erkannte – ihr befahl, für ihren Propheten zu tanzen. Das Mädchen versuchte, sich im Takt zu bewegen, doch seine Bewegungen waren ruckartig und aus dem Takt vor lauter Angst.

Meine Kehle war so zugeschnürt, dass ich nichts sagen konnte. Dann knuffte mich Judah mit dem Ellbogen in die Seite. Ich warf einen Blick nach links und sah, dass mein Bruder auf den Bildschirm starrte und mit den Zähnen an seiner Unterlippe kaute.

In diesem Moment war er ein Fremder für mich.

»Was denkst du, Bruder? Du könntest sie als deine Frau oder als eine Gefährtin nehmen. Sie steht kurz davor, das Alter ihrer Erweckung zu erreichen.«

»Ihrer Erweckung?«, fragte ich.

Judah nickte und hielt das Video an. Das eingefrorene Bild zeigte das Gesicht der Kleinen: ihr angstvolles, blasses Gesicht, die weit aufgerissenen Augen. »Bruder Luke hat mich alles über Onkel Davids Wege gelehrt. Und einer davon ist die Erweckung einer Frau. Der Tag, an dem sie in den Augen unseres Glaubens zur Frau wird, ein Gefäß für die himmlischen Andachten unserer Männer.«

Dieses Mal erreichte die Übelkeit meine Kehle, doch ich kämpfte sie wieder nieder und antwortete heiser: »Davon steht nichts in unseren Schriften.«

»Unser Onkel sprach in seinen Predigten von neuen Offenbarungen des Herrn. Nicht alles wurde offiziell aufgezeichnet, sondern stand nur in seinen privaten Briefen, daher hatte es uns in Utah nicht erreicht.« Judah beugte sich vor. Er strahlte Aufregung aus. »Es gibt so vieles, das wir nicht wissen. So vieles, das ich von Bruder Luke und den anderen Jüngern lerne. Gott hat uns mit vielem gesegnet, Cain. Mehr als ich je erwartet hatte.«

Judah ließ das Video weiterlaufen, und diese grässliche Musik spielte wieder, aber ich konnte nicht hinsehen.

»Falls dir die Letzte nicht zugesagt hat, gibt es noch viele mehr. Wie wäre es mit dieser?« Ich blickte auf und sah ein älteres Mädchen, weiter entwickelt, das verführerisch tanzte. Und anders als bei dem kleinen Kind war ihr Blick selbstsicher, während ihr nackter Körper sich langsam im Takt bewegte. Sie konnte nicht älter als vierzehn sein.

Vierzehn Jahre.

Ein Kind.

Judah fing an, durch die DVD zu zappen, auf der Dutzende nackte Kinder für die Kamera tanzten. Und je mehr Bilder über den Bildschirm huschten, umso erregter wurde Judah. Ich sah, wie er auf seinem Sitzplatz rutschte, den Blick auf den Bildschirm fixiert.

Ich schloss die Augen und versuchte mein Herz zu beruhigen, als mir plötzlich eine Unterhaltung mit Mae wieder einfiel. Als ich versucht hatte, sie dazu zu bringen, dass sie bei mir in der Gemeinde blieb.

Die Angst in ihrem Gesicht hätte mich mahnen müssen, ihr zu glauben, doch ich hatte geglaubt, dass sie log, weil sie zurück zu Styx wollte … doch was, wenn …

»Hast du je an einer Göttlichen Teilhabe teilgenommen? Hast du je zugesehen, wie ein achtjähriges Mädchen vergewaltigt wird, die Beine gespreizt von einer Bärenfalle, weil sie zu verängstigt war, um zu begreifen, was mit ihr passiert? Hast du dich je einem Kind aufgezwungen, Cain, weil du glaubst, es würde dir helfen, näher zu Gott zu kommen und weil der Prophet es so wollte? Und, hast du?«

Ich erstarrte.

»Und?«, drängte Mae.

»Ist das mit dir geschehen? Hier?«, fragte ich. Bei dem Gedanken, dass Mae als Kind so genommen worden war, sah ich rot. »Mae, antworte mir! Wurdest du … als Kind genommen … auf … diese Weise?«

Maes Augen füllten sich mit Tränen, und sie nickte. »Willst du damit sagen, dass du noch nie an einem Austausch zwischen Bruder und Schwester teilgenommen hast?«, fragte sie wieder, diesmal ungläubig.

Ich ließ den Kopf hängen, denn ich konnte ihr nicht in die Augen sehen. »Ich bin der Erbe. Ich bleibe rein«, erklärte ich. Ich hatte mein ganzes Leben in Isolation verbracht. Ich hatte keine echte Ahnung, was in der Gemeinde geschah, unter der Herrschaft meines Onkels …

Zorn sickerte in meine Muskeln, und als Judah mich wieder mit dem Ellbogen knuffte, damit ich auf den verdammten Bildschirm schaute, sprang ich auf und brüllte: »Fuck!«

Ich fuhr mir durch das lange Haar, und Judah stand auf. Ich sah seine Bewegung und starrte ihn an, bis er den Blick abwandte. »Was in aller Welt ist das hier, Judah? Das sind Kinder! Kleine Kinder und Teenager, die tanzen, damit ich mir eins aussuche? Du denkst, ich will ein Kind? Denkst du, ich will ein Kind vögeln?«

Judahs Miene wurde ausdruckslos bei meinem Ausbruch, während ich mich wieder zur Ruhe zwang. Ich atmete tief durch, ging zum Fernseher und machte ihn aus. Die darauf folgende Stille war ohrenbetäubend. Ich hörte meine eigenen Atemzüge. Endlich gewann ich die Fassung einigermaßen wieder und drehte mich zu Judah.

»Du findest das in Ordnung? Achtjährige Kinder zu vergewaltigen?«

Judah runzelte verständnislos die Stirn. »Es ist Gottes Wille.«

Ich schüttelte den Kopf. »Es ist bestimmt nicht im Sinne des Herrn, dass Kinder auf diese Art genommen werden, Bruder. Das ist barbarisch!«

Doch dann sickerte mir der Schock in jede Körperzelle, als Judah die Zähne zusammenbiss und seine Züge hart wurden. »In der Bibel haben ältere Männer junge Frauen geheiratet. Das ist nichts Neues für dich, Bruder.«

Ich straffte die Schultern, trat einen Schritt vor und fragte: »Hast du schon mal ein Kind bei der Göttlichen Teilhabe genommen? Ich weiß, dass du sie immer wieder besuchst, aber hast du … das getan?«

Judah tippte sich ans Kinn. Er strahlte eine Aura von Stolz aus. »Ich habe schon vier in ihrer Erweckung unterwiesen.«

Mir war, als hätte ich einen Schlag in die Magengrube bekommen, als ich flüsterte: »Nein …«

»Tatsächlich«, fuhr Judah kühn fort, »habe ich bereits ein Kind dazu erwählt, meine nächste Gefährtin zu sein, wenn sie ins Alter kommt. Sie ist schön, so schön, dass ich eine Zeit lang fürchtete, sie sei eine weitere Verfluchte. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie keine ist.«

Ich starrte meinen Bruder an, und zum ersten Mal in meinem Leben verabscheute ich ihn. Ich wusste, dass Judah zunehmend hingerissen von diesem Lebensstil war, und ich wusste, dass er Bruder Luke immer näherstand. Doch mir war nicht klar gewesen, wie nahe. Ich hatte nicht gewusst, dass die Bereiche meiner Führung, die unter Judahs Kontrolle standen, der Vergewaltigung von Kindern frönten.

»Und deine neueste Gefährtin«, fragte ich, und meine Stimme wurde brüchig vor Zorn und Ekel. »Wie alt ist sie?«

Judah sah mich finster an, und seine braunen Augen loderten. »Sie ist nach den Standards unseres Volkes volljährig, Cain. Belaste dich nicht damit.«

»Ich wünsche sie zu sehen«, wies ich an, und Judahs hitzige Augen loderten auf.

»Zu gegebener Zeit, Bruder«, verkündete er.

Unsere Blicke blieben aufeinander fixiert, ein Ringen der Willenskraft. Schließlich schlug ich die Augen nieder und winkte ab. »Nimm die Videos und den Fernseher und geh. Ich wünsche allein zu sein.«

Judah versteifte sich, gehorchte aber. Ich ging zum offenen Feuer und starrte in die Flammen, während ich hörte, wie er alles einpackte. Als ich hörte, wie er den Fernseher hinausrollte, fragte ich unvermittelt: »Als du die Verfluchte Delilah geprüft hast, hast du dich da an unsere Schrift gehalten? War ihre Bestrafung im Einklang mit dem, was wir predigen?«

Judahs darauf folgendes Schweigen veranlasste mich, den Kopf zu heben und ihn anzusehen. Er starrte mich mit teilnahmsloser Miene an. Dann, als er sah, dass ich ihn musterte, lächelte er und antwortete: »Natürlich, Bruder. Alles nach Vorschrift.«

Als Judah hinausging, atmete ich aus, erleichtert, dass das, was Phebe über seine Behandlung von Delilah erzählt hatte, nicht stimmte. Doch dann dachte ich an diese Videos, und die Übelkeit kam zurück wie ein Schlag in die Magengrube.

Ich prallte rücklings an die Wand und sank zu Boden. Diese Praktik ekelte mich, war absolut abstoßend, aber nach Judahs Worten war es die Lebensart meines Volkes. Es war eine offenbarte Botschaft des Herrn an meinen Onkel. Ich schloss die Augen und betete, dass Gott mir eine Botschaft senden, mir raten möge, was ich tun sollte. Dann fielen mir Mae und ihre Worte wieder ein. Und jetzt wusste ich, dass sie nicht gelogen hatte. Nein. Sie war als Kind vergewaltigt worden, ihre Unschuld geraubt von einem Bruder des Ordens.

Sie hatte mich ganz und gar nicht belogen.