Kapitel 19

Maddie

Ich fühlte Flames Blick auf mir ruhen, als ich mein Haar kämmte und zu einem Knoten band.

Dann strich ich mein Kleid glatt und schlüpfte in meine Schuhe. Ich schaute auf die Uhr und sah, dass Mae, Lilah und Sarai jede Minute hier sein würden. Als ich mich umdrehte, sah ich Flame an der Wand sitzen. Er folgte mir mit seinen dunklen Augen.

Mein Herz flatterte, und Röte kroch in meine Wangen, als ich daran dachte, wie ich diesen Morgen aufgewacht war: Mein Kopf lag auf seiner Brust und sein Arm um meine Schultern.

Und die Albträume waren ausgeblieben. Keine ungewollten Erinnerungen an meine Zeit in der Gemeinde. Und zum ersten Mal wachte ich nicht mit der unglaublichen Angst auf, dass meine neue Freiheit nur ein Traum war, sondern mit der berauschenden Gewissheit, dass ich in Flames Hütte war, in Sicherheit. Und seine starken Arme hielten mich fest.

So lagen wir die meiste Zeit des Morgens da, schweigend, einander in den Armen haltend. Bis ich den Kopf gehoben und Flames ausdrucksloses Gesicht angelächelt hatte. Und meine Fröhlichkeit verschwand augenblicklich.

»Was ist los?«, hatte ich gefragt.

Flames Kinnmuskeln spannten sich an, und er sagte: »Gestern Nacht lag ich in diesem Bett, hielt dich in den Armen und hörte dir beim Schlafen zu. Aber ich habe kaum geschlafen. Ich konnte nicht schlafen, weil ich daran dachte, dass du weggehst, in diese Kirche. Ich konnte nicht schlafen, weil ich mir Sorgen gemacht habe, dass ich das hier mit dir finde, dass ich in der Lage bin, dich zu berühren und zu küssen … und dich dann verliere.« Flame hatte die vernarbten Arme umgedreht, um mir sein Handgelenk zu zeigen, und während er mit dem Arm über seine Haut strich, hatte er gesagt: »Du kühlst die Flammen. Aber ohne dich kommen sie wieder. Wenn ich wütend bin, sind sie wieder da. Und wenn ich daran denke, dass du in diese verdammte Kirche gehst, kann ich fühlen, wie sie aufwachen. Ich kann fühlen, wie sie anfangen, durch meine Adern zu brennen.«

Ich setzte mich auf, umfasste Flames Wangen, sodass sein Bart in meinen Handflächen kitzelte, und sagte: »Mir wird nichts passieren. Und die Flammen sind nicht da. Denk an mich, wenn sie zurückkommen. Denk daran, dass du mich in den Armen hältst und deine Berührung mich nicht verletzt.«

Flame hatte genickt, doch seine Augen blieben auf seine Handgelenke gerichtet. Seither hatte er nicht viel gesagt.

Als ich mich auf dem Boden niederließ, blickte Flame auf. »Sie werden bald hier sein«, sagte ich und streckte die Hand aus. Flame nahm sie, und seine Nasenflügel bebten. »Ich bleibe nicht lange weg. So lange solltest du schlafen, denke ich.« Ich hob die Hand und strich mit dem Finger um die dunklen Ringe unter seinen Augen. »Du bist müde.«

Flame starrte ins Leere, und ich wusste, der Gedanke, dass ich in die Kirche ging, machte ihm Angst. Und als ich daran dachte, was ihm als Kind an seinem Ort der Gottesverehrung angetan worden war, musste ich meinen Zorn darüber niederkämpfen, was er erlitten hatte.

Es klopfte an die Tür. Flame versteifte sich. Als ich aufstand, stand auch er auf, und seine große Gestalt ragte über mir auf. Die Stille war erstickend, als er mich anstarrte. Dann legte er seine Hände an meine Wange, beugte sich vor und drückte sanft seine Lippen auf meine.

Sie waren so weich und sanft. Mir traten Tränen in die Augen, denn ich wusste, dass dieser Kuss seine Gefühle für mich ausdrückte. Dieser Kuss verriet mir, dass ich ihm wirklich wichtig war. Ihm kostbar war. Und er nicht wollte, dass ich ging.

Flame löste sich wieder von mir, legte seine Stirn an meine und atmete hörbar aus. Ich fuhr mit der Hand über seinen Arm und flüsterte: »Ich werde dich auch vermissen.«

Flames Ausatmen verriet mir, dass ich seinen Kuss richtig gedeutet hatte.

Es klopfte wieder, und Maes Stimme rief: »Maddie?«

Ich schloss die Augen, atmete durch die Nase und erklärte: »Ich muss gehen.«

Flame sagte nichts, sondern nahm nur die Hände von meinem Gesicht und folgte mir zur Tür. Ich öffnete und sah Mae, Lilah, Sarai und Ky. Sofort musterte Mae mich prüfend, und Ky blickte mit strenger Miene an mir vorbei zu Flame.

Seine Augen wurden schmal. »Alles gut, Bruder?«

»Du kümmerst dich um Maddie. Lass nicht zu, dass ihr irgendwer wehtut. Denn ich bringe jeden um, der es tut, VP. Ich bringe alle um.«

Sarai wich zurück, als sie Flames drohenden Tonfall hörte. Ky verschränkte die Arme. »Krieg dich wieder ein, Flame«, stieß er hervor.

»Versprich es mir«, fauchte Flame.

Ky biss die Zähne zusammen und sagte: »Denkst du, ich lasse zu, dass meiner Frau irgendwas passiert?«

Ich spürte die knisternde Anspannung in der Luft, drehte mich zu Flame um und nahm seine Hand. Hinter uns hörte ich die anderen geschockt nach Luft schnappen, aber ich ignorierte meine Schwestern und Sarai und sagte: »Ky passt auf mich auf, Flame. Er beschützt Lilah, so wie du mich.«

Flames dunkle Augen waren auf mich fixiert, und seine weiten Pupillen verrieten, wie nervös er war, weil ich ging. Ich drückte seine Hand und beteuerte: »Ich bin bloß ein paar Stunden weg. Und danach komme ich direkt zurück zu dir.«

Flame ließ den Kopf hängen, und ich ließ seine Hand los, um mich meinen Schwestern anzuschließen. Ich konnte ihre fragenden Blicke sehen, aber ich hielt den Kopf gesenkt und marschierte schnurstracks zu Kys Truck. Die Tür war nicht verschlossen, und ich stieg ein und wartete, dass die anderen auch kamen.

Als Mae und Sarai sich neben mich setzten und Lilah und Ky vorn einstiegen, blickte ich aus dem Fenster und sah, dass Flame immer noch in der Tür stand und mir nachschaute.

Wieder flatterte mein Herz, und ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen, weil ich wusste, dass er mir gehörte. Seine Augen waren schwarz wie die tiefste Nacht. Er hatte sowohl Piercings als auch Tattoos. Er war stark. Und erfüllt von reiner Wut. Aber er gehörte mir. Und wenn er mir gehörte, war er sanft, liebevoll und ebenso labil wie ich. Und ich war voller Verehrung, dass ich, nur ich allein, diejenige war, die diese Seite von ihm zu sehen bekam.

Er war etwas Besonderes für mich, so wie ich etwas Besonderes für ihn war.

»Sind wir so weit?«, fragte Ky. Mae und Lilah antworteten einstimmig mit Ja. Als wir losfuhren, winkte ich Flame zu und sah, dass er zur Tür hinausging und uns nachblickte. Als ich sein ausdrucksloses Gesicht sah, wollte ich Ky beinahe zurufen, mich wieder rauszulassen, doch dann dachte ich an Sarai neben mir und zwang mich zu bleiben.

Im Truck herrschte Schweigen, bis Mae fragte: »Geht es dir gut, Maddie?«

Ich sah Mae in die Augen und nickte. »Ja.«

Maes Blick war forschend, aber ich wollte nicht reden. Ich wusste, wie sie zu Flame standen. Und was mir noch mehr das Herz brach, war, dass er wusste, was die Menschen von ihm dachten. Deshalb redete er auch kaum in Gesellschaft. Niemand verstand den wahren Flame.

Niemand außer mir.

»Bist du nervös, Sarai?«, fragte Mae. Ich warf dem kleinen blonden Teenager einen Blick zu. Sarais Hände lagen fest verschränkt in ihrem Schoß, und sie blickte zu Mae auf.

»Ja«, antwortete sie leise.

Lilah drehte sich auf ihrem Sitz um, ohne Kys Hand loszulassen. »Das musst du nicht, Sarai. Pastorin James ist freundlich. Sie hat die Kirche geschlossen, damit niemand da ist, der dich nervös macht.« Lilah seufzte lächelnd. »Und du wirst sehen, dass man den Herrn immer noch ehren kann. Nur in Reinheit, ohne Befleckung durch brutale Männer und falsche Wahrheiten.«

Sarai seufzte und schüttelte den Kopf. »So einen Ort kann ich mir gar nicht vorstellen, aber ich bin gespannt, ihn zu sehen.«

Mir wurde es schwer ums Herz, als ich das junge Mädchen betrachtete. Ich war mehr als dankbar dafür, dass sie den Mut gefunden hatte, wegzulaufen. Ich wusste, ich wäre nie gegangen, wäre Mae nicht zurückgekehrt. Ich hätte mein ganzes Leben gefangen in dieser Hölle verbracht. Bis zu dem Tag, an dem Bruder Moses mich umgebracht hätte. Denn das hätte er getan. Mir war nun klar, dass Bruder Moses mich am Ende gebrochen hätte, so wie Gabriel es mit Bella getan hatte. Und ich wäre Flame nie begegnet.

Und dass er mir nicht begegnet wäre, hätte auch ihn zu einem Leben allein verdammt. Ich zwang das Gefühl zurück, das mir in die Kehle kroch, und konzentrierte mich stattdessen auf seine Lippen auf meinen.

Unbewusst hatten sich meine Finger an meine Lippen gehoben, und ein Lächeln stand in meinem Gesicht.

Mein Herz machte einen Satz vor Hoffnung. Hoffnung, dass wir gemeinsam vielleicht nicht ganz so verletzt waren. Dass wir einander irgendwie heilen konnten.

Die Reise war schneller zu Ende als die meisten, da ich in Gedanken ganz bei Flame war. Dann hielt Ky den Truck an.

Mae nahm Sarais Hand und stieg aus. Als ich auch aussteigen wollte, sah ich, wie Ky sich zu Lilah lehnte und sie küsste. Lilah schmolz in seine Umarmung, bis sie sich mit schweren Augen voneinander lösten.

»Liebe dich, Baby«, hauchte Ky.

Lilah beugte sich noch einmal vor, um ihrem Ehemann einen flüchtigen Kuss auf die Lippen zu drücken. »Ich liebe dich auch. Sehr«, antwortete sie, was mich ein wenig neidisch machte.

»Ruf mich an, wenn ihr abgeholt werden wollt. Ich bin so lange in der Innenstadt und kümmere mich um Geschäfte.«

»Okay«, entgegnete Lilah und sprang aus dem Truck. Auch ich stieg zügig aus und stellte mich zu Mae und Sarai auf den Gehweg. Sarai starrte die Kirche an, bei deren Anblick ihr der Mund offen stehen blieb.

»Wunderschön, nicht wahr?«, meinte Lilah, während Kys Truck wieder auf die Straße fuhr.

»Wirklich«, antwortete Sarai offensichtlich ehrfürchtig. Gemeinsam stiegen wir die Stufen hinauf. Lilah trat als Erste durch die großen Holztore, und wir drei folgten. In der Kirche war es vollkommen still. Am Ende stand Pastorin James und erwartete offenbar schon unsere Ankunft.

Als die Geistliche uns hereinkommen sah, kam sie vom Altar auf uns zu, und wir begegneten einander auf halbem Weg. Sie lächelte und umarmte Lilah und Mae. Als sie bei mir ankam, nickte sie mir zu. Dann fiel ihr Blick auf Sarai.

»Du musst Sarai sein«, sagte sie. Sarai drückte sich enger an Mae, offensichtlich voll Scheu, die Pastorin zum ersten Mal zu treffen.

Mae legte den Arm um Sarai und nickte. »Das ist Sarai. Sie ist ein wenig schüchtern, allerdings gespannt, selbst zu sehen, wie man hier in der Erlöserkirche Gott ehrt.«

Pastorin James lächelte Sarai zu und zeigte auf die Kirchenbänke. »Hier halten wir unseren Gottesdienst. Die Gemeinde kommt im Allgemeinen sonntags zur Predigt, aber die Kirche ist jederzeit offen, damit Menschen hereinkommen und Gott privat ehren oder einen stillen Ort zur inneren Einkehr haben können.«

Ich beobachtete Sarai, die Pastorin James anstarrte, und mir wurde es schwer ums Herz, als ich sah, wie sie jedes Wort in sich einsaugte. Ich verstand, wie fremd das alles für sie sein musste. Und mit ihren vierzehn Jahren musste sie sich ganz verirrt und allein vorkommen.

Meine Finger versteiften sich bei dem, was ich vorhatte, also holte ich tief Luft und nahm Sarais Hand in meine. Ihre blauen Augen huschten zu mir. Ich schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Sarais Blick fiel auf unsere Hände, und ich spürte, wie Mae meine Schulter drückte.

»Danke«, formte sie lautlos. Ich folgte Pastorin James, Hand in Hand mit dem verirrten Mädchen an meiner Seite. Wir erreichten den Altar und drehten uns zum Kirchensaal um. Pastorin James trat vor uns und zeigte auf die Galerie. »Dort singt unser Chor am Sonntag.« Sie drehte sich wieder um und zeigte zum Altar. »Dort halte ich meine Predigt und führe das Abendmahl durch.«

Sarais Hand in meiner begann zu zittern. Ich blickte auf ihre Hände herab und sah, dass sie die Augen niedergeschlagen hatte, als sie plötzlich meine Hand losließ und in die lange Tasche ihres Kleides griff. Was dann folgte, schien in Zeitlupe abzulaufen.

Sarai zog eine Waffe heraus. In Sekundenschnelle hob sie sie an Pastorin James’ Kopf und drückte ab. Der Schuss hallte wie Donner durch die Kirche. Mae, Lilah und ich sprangen zurück, als die Kugel durch den Kopf der Geistlichen schlug und Blut auf unsere Kleider spritzte, während deren lebloser Körper zu Boden fiel.

Lilah stieß einen Schrei aus. Mein Herz hämmerte.

Dann drehte Sarai sich zu uns und richtete die Waffe in Brusthöhe auf uns.

»Sarai …«, flüsterte Mae, die Hand vor dem Mund. »Was hast du getan? Was geschieht hier?«

Daraufhin wurde Sarais immer schüchterne Miene so hart, dass mir das Herz wie ein Stein sank. »Halt den Mund!«, fauchte sie und richtete die Waffe nacheinander auf uns. »Huren des Teufels!«, spie sie aus und schüttelte den Kopf. »Ihr seid Sünderinnen, die Verfluchten Schwestern der Eva. Ihr seid vom Teufel befleckt und müsst bezahlen.«

Meine Hände fingen zu zittern an. Mae griff nach Lilah und mir. Als ich Maes Hand nahm, wies Sarai mit dem Kopf in den hinteren Bereich der Kirche. »Los, da rüber.« Wir blieben stehen. Mae flehte: »Bitte, Sarai …«

»Ich sagte, da rüber!«, brüllte Sarai. Mae führte Lilah und mich nach hinten in die Kirche. Sarai wiegte sich auf den Füßen vor und zurück und schaute immer wieder zur Tür.

»Warum tust du das, Sarai?«, nahm Lilah all ihren Mut zusammen, um zu fragen.

Sarai sah uns mit schmalen Augen an und sagte: »Ihr seid eine Plage für euer Volk und müsst nach Neu Zion gebracht werden. Ich wurde geschickt, um euch zurückzuholen. Um euch zum Propheten zurückzubringen.« Ihre Augen leuchteten auf, und sie sagte: »Um Buße zu tun für euren Verrat.«

Mir wich das Blut aus dem Gesicht.

Man würde uns zurückbringen.

Mae holte scharf Luft. »Prophet Cain hat das befohlen? Er hat dir befohlen, einer Unschuldigen das Leben zu nehmen und uns zurückzubringen? Du bist ein Kind!«

Sarai erstarrte und antwortete finster: »Ich bin alt genug, um Gott und meinem Propheten zu dienen. Wir befinden uns in einem Heiligen Krieg. Unschuldiges Blut wird vergossen werden. Aber die Rechtschaffenen werden obsiegen.«

Plötzlich flog die Tür krachend auf und zwei Männer kamen herein. Sie waren ganz in Schwarz gekleidet und hatten Skimasken übergezogen. Durch die Augenschlitze in den Wollmasken sahen sie Sarai an, die immer noch die Waffe ub der Hand hielt.

»Bist du Sarai?«, fragte einer.

Sie nickte, und dann wandten sich die Männer uns zu. »Und das sind die Huren?«

»Ja«, antwortete Sarai. Maes Griff wurde fester.

»Wir haben den Van hinten in der Gasse geparkt. Wir müssen zum Treffpunkt.«

Die Männer traten vor, und mir drang ein Schrei über die Lippen. Einer packte mich am Arm, und der andere griff sich Mae und Lilah. Sekunden später zerrten sie uns aus der Kirche. Wir wehrten uns alle drei gegen ihren Griff, aber vergeblich. Sie waren zu stark. Ich warf einen Blick nach hinten und sah, dass Sarai uns folgte, und hinter Sarai sah ich die Leiche von Pastorin James auf dem Boden liegen, eine Blutlache auf dem Holzboden unter ihr.

Mir war übel, und ich kämpfte gegen das Erbrechen an, das mir die Kehle hochstieg. Dann fing ich Sarais Blick auf, und mir gefror das Blut in den Adern. Der Ausdruck in ihren Augen war derselbe wie der, den Bruder Moses immer hatte, wenn er mich als Kind genommen hatte. Der Blick, der sagte, dass er zu einhundert Prozent an das glaubte, was er tat. Dass die Macht des Propheten ihn antrieb. Dass Gott selbst ihn antrieb.

»Sarai«, flüsterte ich mit klopfendem Herzen bei dem Gedanken, was sie getan hatte. Sie war so jung, und doch hatte sie gerade einen unschuldigen Menschen getötet, ohne Reue. »Denk noch einmal darüber nach! Bitte!«

Ihre blauen Augen wurden schmal, und sie schüttelte den Kopf. »Du wurdest fehlgeleitet, Hure. Ihr alle. Und ihr alle liegt bei dem Feind. Jede Einzelne von euch liegt bei einem Mann des Teufels.« Sarai hielt die Waffe fester und sagte: »Er hat mir gesagt, dass ihr verdorben wurdet, aber es zu hören und es dann mit eigenen Augen zu sehen, das sind zwei ganz verschiedene Dinge. Er wird allerdings dafür sorgen, dass ihr bestraft werdet. Er wird dafür sorgen, dass ihr alle bezahlt für das, was ihr getan habt.«

Der Mann, der meinen Arm gepackt hielt, schleuderte mich nach vorn, und ich landete hinten in einem Van. Lilah und Mae saßen mir gegenüber. Dann umfing uns Dunkelheit, und nur ein kleiner Lichtspalt drang durch die Türen des Vans. Der Motor ging an. Mein Herz klopfte viel zu schnell, und ich bekam keine Luft, als die Dunkelheit mich umfasste.

»Oh Herr …«, hörte ich Lilah flüstern, und ihre Stimme zitterte vor Angst. »Was wird jetzt aus uns? Wie ist das hier passiert?«

»Sarai«, flüsterte ich zurück. »Sie hat die ganze Zeit gelogen. Ihr Auftauchen im Quartier war eine Falle. Für den Propheten. Ky und Styx hatten am Ende doch guten Grund, ihre Absichten anzuzweifeln.«

Stille folgte darauf, und dann sagte Mae am Boden zerstört: »Und ich habe Styx überredet, sie bleiben zu lassen. Lilah hat sie aufgenommen und sich um sie gekümmert.« Mae ließ den Kopf in ihre Hände sinken und sagte: »Ich habe immer geglaubt, dass Cain unter alldem wahrhaft der Mann sei, den ich als Rider kennengelernt habe. Dass er nur ebenso verirrt war wie wir drei. Gehirngewaschen, aufgezogen, um falsche und verletzende Dinge zu glauben. Aber Sarai sagte, wir würden zu ihm gebracht. Ich … ich …« Mae verstummte. Sogar in dieser Dunkelheit konnte ich die Traurigkeit fühlen, die sie erfasste.

Stille herrschte, als der Van losfuhr, und dann sagte Lilah: »Keine von euch hat Neu Zion gesehen. Es ist ganz anders als unsere alte Gemeinde. Und die Ältesten und Jünger unter Prophet Cain … sie sind noch schlimmer, falls das überhaupt geht.« Lilah verstummte und unterdrückte ihre Gefühle mit einem Schniefen. »Ich fürchte, wir werden Ky oder Styx nie wiedersehen.«

Mein Herz setzte einen Schlag lang aus, als ich den Schmerz in ihrer Stimme hörte, und ich fuhr fort: »Oder meinen Flame.«

Mae und Lilah antworteten nicht darauf, und als ich Tränen über meine Wangen laufen spürte, gestand ich: »Er hat mich geküsst. Gestern haben wir uns geküsst …« Ein Schluchzen stieg mir in die Kehle, aber ich schaffte es, fortzufahren: »Und er hat meine Hand gehalten. Er hat mich berührt, und ich habe es genossen. Er hat mich geküsst. Gegen jede Wahrscheinlichkeit haben wir uns geküsst … und es war genau so, wie ihr beide es beschrieben habt … es war alles, und nun habe ich ihn verloren …«

»Maddie«, flüsterte Mae.

Dann dachte ich an das, was vielleicht vor uns lag, und meine Angst stieg ins Unermessliche. Ich fühlte, wie mein ganzer Körper erstarrte, als mein Kopf mich wieder in meine Erinnerungen zurückführte. Zurück zur Gemeinde. Zurück in die Zeit, als Mae verschwunden gewesen war und die Leute in Panik waren. Zurück zu dem Tag, als alle vier Ältesten zu mir kamen, um mich von der Erbsünde meiner Familie zu befreien …

Ich drückte mich hastig in die Ecke, als ich Schritte auf unser Quartier zukommen hörte. Aber es waren nicht die Schritte eines Einzelnen. Ich hörte viele. Viele Schritte, die sich unserer Tür näherten.

»Maddie?«, rief Lilah von der anderen Seite des Zimmers. Doch ich schaute nicht zu ihr. Ich konnte nicht. Mein Blick hing wie gebannt an der Tür. Fixiert auf die vielen Schatten, die sich im Flur bewegten.

Ich schlang die Arme um die Beine und hielt die Knie fest umfasst. Einen flüchtigen Moment lang kam mir der alberne Gedanke, wenn ich mich nur klein genug machte und mich so dicht wie möglich an die Wand presste, würden mich die Ältesten vielleicht in Ruhe lassen.

Aber als ich tiefe Stimmen hinter der Tür hörte, wusste ich, dass ich nichts tun konnte, um mich vor ihnen zu verstecken. Seit Mae verschwunden war, sahen sie mich – ihre blutsverwandte Schwester – mit immer mehr Zorn und Argwohn an. Ich hatte ihr Flüstern gehört, als sie über die angeborene Sünde in unserem Familienzweig sprachen. Und ich hatte gehört, wie sie entschieden hatten, dass das ein Problem sei, das durch die Schwester, die noch übrig war, behoben werden müsse.

Ich wusste, dass sie kommen würden, um mich zu holen, damit ich an Maes Stelle bestraft würde.

Unvermittelt drehte sich der Türknauf, und während ich meine flachen Atemzüge brüllend laut in meinen Ohren hörte, ging die Tür auf und Bruder Moses’ breite Gestalt erschien.

Seine Augen fanden mich sofort.

Als er mich sah, eng zusammengerollt ganz hinten an der Wand, winkte er mit der Hand – sein wortloser Befehl an mich, aufzustehen. Mir war, als würden meine Beine nachgeben, also nahm ich die Hände an der Wand zu Hilfe, um auf die Beine zu kommen.

Bruder Moses drehte sich wortlos um und ging hinaus. Ich folgte ihm und konnte Lilah im Vorbeigehen nicht einmal einen Blick zuwerfen. Ich fürchtete, dass ich der Angst und dem Mitgefühl nicht standhalten konnte, das ich in ihren schönen blauen Augen sehen würde.

Bruder Moses bog in den Flur ein, zu dem Raum, in den wir immer gingen, wenn er mich in einem Austausch zwischen Bruder und Schwester nahm. Doch als ich kurz hinsah, um den übrigen Flur zu überblicken, fragte ich mich, wohin die anderen Ältesten wohl gegangen waren.

Als wir in Moses’ Raum kamen, war meine Frage beantwortet.

Die Brüder Jacob, Noah und Gabriel standen mitten im Zimmer, neben dem Tisch mit den Fesseln. Dem Tisch, auf dem ich jede Nacht genommen wurde, ausgepeitscht und angekettet, während Moses meine sündige Seele exorzierte. An dem Tisch, auf dem er mich schon als Kind genommen hatte.

Alle Ältesten hatten Hemden und Hosen ausgezogen und musterten mich nun, während ihre Hände sich über ihre aufgerichteten Penisse bewegten. Und mich packte eine Angst, wie ich sie noch nie erfahren hatte.

Meine Füße schienen sich von allein zu bewegen, als ich rückwärtsstolperte und alles in mir rief, dass ich fliehen müsse. Doch als ich mich umdrehte vor Entsetzen darüber, was sie mit mir tun wollten, packte mich eine Hand am Arm – Bruder Moses. Ich schrie vor Schmerz auf, als er mich zurück zerrte und die Tür zuschlug, wodurch ich hier drin gefangen war.

Bruder Moses drehte mich grob herum, sodass ich vor ihm zum Stehen kam, und mein Genick knackte bei der Gewalt. Er packte meinen Arm fester, hob die andere Hand und strich mit seinem harten Finger über mein Gesicht und meinen Hals. Ich bekam Gänsehaut bei seiner gewohnt groben Berührung und zuckte zusammen.

Am hohen Halsausschnitt meines Kleides hielt sein Finger an. Ich keuchte und wollte meine Angst mit meinen Atemzügen vertreiben, als er sagte: »Ihr seht, Brüder, ihre befleckte Seele schreckt zurück vor der Berührung des Herrn.«

Und mir wurde es schwer ums Herz wie ein Stein, als ich die Entschlossenheit in den Blicken aller Brüder sah. Die Entschlossenheit, meine Sündhaftigkeit auszutreiben.

Ich unterdrückte ein Wimmern, als Bruder Moses immer näher kam und mir sein Tabakgeruch in die Nase stieg. Sein Atem wehte über mein Gesicht, als er um meine Taille herumgriff und langsam den Reißverschluss meines Kleides aufzog.

Sekunden später war mein Kleid zu Boden gefallen, und mit ihm meine Schamhaftigkeit. Und ich stand entblößt vor den Ältesten. Entblößt und zitternd. Moses gestattete mir nie, Unterwäsche zu tragen, eine Vorschrift, die ich verabscheute. Er mochte es nicht, wenn er sich abmühen musste, um mich zu nehmen.

Bruder Gabriel trat vor, und Bruder Moses ging beiseite. Ich wollte meinen Leib bedecken. Ich wollte mich umdrehen und fliehen, wollte in Ruhe gelassen werden, doch ich kämpfte gegen den Drang an und blieb völlig reglos stehen.

Diese Männer hatten die Kontrolle über mich. Ich hatte immer jedem ihrer Befehle gehorcht.

Gabriel hob die Hand und leckte sich über die Unterlippe, während seine Finger über meine Brustwarze strichen. Tränen traten mir in die Augen, als der Stellvertreter des Propheten mich so berührte, doch ich blinzelte sie weg und zwang mich, seine Erforschung zu ertragen.

Aber dann bewegte sein Finger sich langsam abwärts, nach unten an meine intimste Körperregion. Als Gabriel seinen Finger zwischen meine Schamlippen zwängte, drang ein Schmerzschrei über meine Lippen. Ich konnte das Gefühl seiner Berührung nicht ertragen. Ich wollte seine Hand wegschlagen, wollte ihm sagen, dass er aufhören solle. Allerdings wusste ich, dazu fehlte mir die Macht.

Und man würde mich weiter bestrafen. Ich konnte es nicht ertragen, weiter bestraft zu werden.

Gabriels Augen loderten auf, als sein Finger sich zwischen meinen Beinen bewegte, und sein Gesicht näherte sich meinem. Kurz bevor sein Mund mein Ohr erreichte, stieß er den Finger tief in mich, und ich schrie vor Schmerz auf.

»Ich sehe Jezebel und Salome in deinem Gesicht, Magdalene. Ich sehe, dass Satans Unreinheit deine Seele im Besitz hat, so offensichtlich wie auch deren Seelen.«

Er legte den Kopf nach hinten, ließ den Blick über mein Gesicht schweifen und stöhnte. »Diese Augen, diese Lippen, dieses Haar. Es ist der Fluch deiner Familie. Evas Fluch.«

Ich schloss die Augen und atmete durch die Nase, als er den Kopf wieder bewegte. Dann, mit der Hand an meinem Arm, drehte Gabriel mich herum und drückte mich mit dem Oberkörper über den Tisch daneben, sodass meine Brüste auf das Holz prallten. Meine Wange knallte auf den Tisch, ich spürte ihn hinter mir und zugleich jagte mir ein blendender Schmerz durchs Gesicht. Meine Beine wurden auseinandergedrückt, und ehe ich Zeit hatte, mich auf sein Eindringen gefasst zu machen, rammte er sich in mich. Ein Schrei drang über meine Lippen, denn es fühlte sich an, als würde er mich auseinanderreißen, doch Gabriels Griff in meinem Nacken wurde bloß noch fester und zwang mich, ihn zu ertragen.

»Schrei nur, Hure des Satans. Schrei, während wir das Böse aus deiner Seele austreiben«, knurrte Gabriel, während er immer schneller zustieß und dabei die Fingernägel in meinen Nacken grub.

Ich versuchte, alles auszublenden, versuchte an etwas anderes zu denken, aber eine Bewegung neben mir fiel mir ins Auge. Die übrigen Ältesten kamen näher. Und in diesem Augenblick verlor ich jede Hoffnung. Denn ich wusste, sie hatten vor, mich alle zu nehmen. Alle vier waren hier, um mich zu nehmen. Einer nach dem anderen.

Tränen liefen mir über die Wangen, als Gabriel mit einem Brüllen zum Höhepunkt kam. Bevor ich noch eine Chance hatte, mich auf das gefasst zu machen, was als Nächstes kommen würde, wurde ich an meinem schon von Blutergüssen bedeckten Arm an die Wand gezerrt und mit den Handgelenken an kurze Ketten gefesselt, die dort von der freiliegenden Ziegelmauer hingen.

Und dieses Mal kam Moses zu mir. Denn das war es, was Moses immer tat. Er nahm mich, während ich in diesen Fesseln hing, die er so sehr schätzte, und bereitete mir endlose Stunden voll Schmerz.

Meine Arme schmerzten, als ich gegen die Kraft der Ketten ankämpfte, doch Moses hob nur mein Bein und ignorierte mein Zappeln. Er vergewisserte sich, dass ich ihm in die Augen blickte, als er sich in mich stieß, und die rot glühende Qual ließ mich dunkle Punkte sehen.

Und er hörte nicht auf. Unbarmherzig drang er in mich, grub dabei die Zähne in meine Haut, bis ich schrie, er solle aufhören. Bis ich bettelte. Er wollte immer, dass ich ihn anbettelte.

Als er fertig war, zog er sich zurück. Mein Leib war schwach und müde, als ich in den Ketten hing und meine Zehenspitzen über den Boden schrammten. Mein Kopf hing auf die Brust herab, und ich war so wund zwischen den Beinen, dass es unerträglich war. Doch dann wurden meine pochenden Beine erneut hochgehoben und weit gespreizt. Ich rollte den Kopf nach oben und sah das Gesicht von Bruder Jacob, als er sich in mich zwang.

Doch dieses Mal schrie ich nicht.

Ich schrie nicht, als sie mich immer wieder an der Wand nahmen, einer nach dem anderen. Als sie mich alle auf den Tisch ketteten und sich mir wieder aufzwangen.

Und es hörte nicht auf. Jede Nacht kamen die vier Männer wieder zu mir, um mich zu nehmen, immer und immer wieder, bis ich die Berührung eines anderen Menschen nicht mehr ertragen konnte.

Bis ich meinen eigenen Anblick nicht mehr ertrug.

Sie ließen mich bluten. Sie folterten meine Seele. Sie zerrissen meine Sünde, immer und immer wieder …

»Maddie! Nein! Tu es nicht. Tu dir das nicht an. Maddie!« Ich blinzelte in die Dunkelheit, mein Kopf tauchte aus meinem Albtraum auf, und ich sah Mae vor mir.

Sie strich mit der Hand über mein Gesicht, meinen Kopf und meine Arme. »Maddie, rede mit mir. Du schwitzt, und du zitterst. Bitte, lass diese Männer nicht gewinnen. Lass nicht zu, dass die Erinnerungen dich wieder gefangen halten. Du bist schon so weit gekommen. Sei stark. Wehr dich dagegen.«

Ich öffnete den Mund, um zu antworten, doch es kamen keine Worte heraus. Ich zitterte am ganzen Körper, und Mae hielt mein Gesicht die ganze Zeit umfasst. Sie blickte mich forsch an und sagte: »Bitte, Maddie. Sprich mit mir. Ich brauche deine Stärke.«

Als ich dieses Mal den Mund aufmachte, kamen meine Worte aus tiefstem Herzen. Denn ich wusste, dass nur ein Mensch mich aus meinem Albtraum holen konnte. Nur ein Mensch konnte verstehen, wie sich das anfühlte. Und als ich es schaffte zu sprechen, schaffte ich es auch auszudrücken, was ich am dringendsten brauchte.

»Flame …«, flüsterte ich. »Ich … ich brauche meinen Flame.«