Maddies Hand lag an meinem Gesicht, als sie die Worte aussprach. Daraufhin schluckte ich und schüttelte den Kopf.
»Nein«, wehrte ich ab und erstarrte vor Angst.
Maddie runzelte die Stirn und flüsterte: »Es ist wahr, Flame. Ich liebe dich. Ich bin dein, von ganzem Herzen. Alles, was ich bin, gehört dir.«
Ich schluckte noch einmal, doch ich konnte ihr nicht glauben. Ich wollte, aber da war seine Stimme in meinem Kopf. Niemand wird dich je lieben, Junge. Du bist ein Scheißidiot. Niemand wird dich je wollen.
Ich kniff fest die Augen zu, rollte von Maddie herunter und stöhnte, als ich aus ihr glitt. Ich fiel auf den Rücken und starrte an die Holzdecke.
Flame … ich liebe dich …
»Nein«, zischte ich noch einmal und hörte dabei wieder Maddies Stimme in meinem Kopf, die mir diese Worte sagte. Ich hob den Arm über die Augen, um die Welt auszusperren, und dann spürte ich, wie sich Maddie rührte. Ich fühlte, wie ihr Oberkörper sich an meinen presste, und spürte ihre festen Brüste an meine Haut gedrückt. Dann strich ihr Finger über meinen Arm, und ich seufzte, weil ihre Berührung mir ein so verdammt gutes Gefühl gab.
Als ich den Arm senkte, sah ich Maddies Gesicht auf mich konzentriert. Ihre grünen Augen funkelten, und sie flüsterte: »Ich lüge nicht.« Sie beugte sich vor und drückte ihre Lippen auf meine. Kaum spürte ich sie, kühlte sich die Hitze in meinem Blut ab, und ich wand die Finger in ihr langes Haar.
Als Maddie den Kuss löste, streichelte sie mit dem Finger über mein Gesicht und sagte: »Ich weiß nicht, warum du glaubst, du wärst es nicht wert, geliebt zu werden, aber ich liebe dich wirklich, so rein und aufrichtig, dass ich es selbst kaum glauben kann.« Sie senkte den Blick, als ihre Fingerspitze die Flammentattoos auf meiner Brust erreichte. »Du hast mich ins Leben zurückgeholt.« Sie lachte erstickt auf und sagte: »Du hast mein Leben lebenswert gemacht.«
Mein Herz hämmerte, mein Puls jagte, und ich hob die Hände, entblößte die Handflächen und sagte: »Aber ich tue Menschen nur weh. Ich vertreibe sie. Niemand kann mich lieben. Es geht einfach nicht.«
Maddie beugte sich vor, bis ihr Gesicht genau über meinem schwebte, und sie fragte: »Flame, du musst es mir sagen. Was ist in deiner Vergangenheit geschehen, das dich das glauben lässt?«
Ihr Finger streichelte über meinen Bart, und sie sagte: »Was lässt dich denken, dass deine Berührung anderen Schaden zufügt? Was bringt dich dazu, dein Leben in Elferschritten zu messen? Ich will dich kennen. Ich will alles über dich wissen.«
Ich versteifte mich, als sie das fragte, und ich spürte, wie mir der Schweiß auf der Stirn ausbrach. »Maddie«, flüsterte ich, öffnete die Augen und schloss sie wieder. Ich versuchte, nicht dorthin zurückzugehen. Maddies kleine Hand legte sich in meine. Ich machte die Augen erneut auf und starrte auf unsere verschränkten Hände.
Maddie schluckte und gestand: »Ich war acht Jahre alt, als Bruder Moses mich zum ersten Mal holte.« Ihr stockte der Atem, und ihre Stimme wurde leiser. »Ich saß allein in meinem Quartier. Bella, Mae und Lilah waren schon von ihren zugewiesenen Ältesten geholt worden, weil sie älter waren.« Ihr Blick ging ins Leere, und sie fuhr fort: »Ich weiß noch, dass ich beim Fenster gesessen und den normalen Leuten in der Gemeinde bei ihren täglichen Pflichten zugesehen hatte. Ich weiß noch, ich hatte über einen Schmetterling gelächelt, der draußen im Hof herumflog.« Maddies Mund hatte sich zu einem sanften Lächeln verzogen, doch dann verschwand es. »Ich erinnere mich, dass ich jemanden an der Tür hörte. Und als ich hinschaute, stand dort ein älterer großer Mann und starrte mich mit verschränkten Armen an. Er war ganz schwarz angezogen, und ich erinnere mich an seine schwarzen Stiefel.« Maddie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, warum ich mich an diese Stiefel erinnere. Vielleicht war es das Geräusch, das sie auf dem Boden machten, oder weil sie ihn so groß und Furcht einflößend wirken ließen? Aber ich weiß noch, dass ich vor Angst wie gelähmt war. Jahrelang hatte ich gesehen, wie die Ältesten meine Schwestern holten, und jedes Mal, wenn sie zurückkehrten, konnten sie kaum laufen. Und sie waren still. Zu still.«
Maddie schniefte, doch in ihren Augen standen keine Tränen. Dann drückte sie meine Hand. »Er sagte mir, dass ich mit ihm gehen müsse. Aber ich konnte mich nicht rühren. Also kam er zu mir, und seine schweren Stiefel klangen wie Donnerschläge auf dem Boden. Er streckte seine große Hand aus und packte ganz fest meinen Arm. Ich weiß noch, dass ich bei dem plötzlichen Schmerz aufschrie, und er lächelte, sodass seine Zähne unter dem langen dunklen Bart glänzten. Wenn ich die Augen schließe und daran zurückdenke, sehe ich immer dieses Lächeln. Weil es ihm gefiel, dass ich Schmerzen hatte. Er genoss es, mir wehzutun.«
»Maddie«, hauchte ich, doch sie starrte in die Ferne, und ich konnte sie nicht aufhalten. Ich wusste, sie war verloren in der Erinnerung, so wie ich mich in meiner verlor.
»Er führte mich durch einen langen Korridor, bis wir ein Zimmer am Ende erreichten. Ich sah zu, wie er die Tür öffnete, und ich weiß noch, als sie aufging, konnte ich nicht begreifen, was ich sah. Seile und Ketten, die von der Decke hingen. Handschellen und schwere Ketten, die an der Wand angebracht waren, und in der Mitte des Zimmers stand ein Tisch. Ein Tisch mit Handschellen und Fußfesseln in allen Größen.«
Ich machte die Augen zu und kriegte diese beschissene Szene nicht aus meinem Kopf. Maddies Hände wurden kalt. »Er führte mich hinein, Flame. Er führte mich an der Hand hinein und sperrte die Tür hinter uns ab.
Ich erinnere mich, dass ich zusammenzuckte, als ich das Schloss zugehen hörte, und dann stand er vor mir. Ich weiß noch, dass er die Hand hob und damit über meine Wangen strich. Er nannte mich sein kleines wunderschönes böses Mädchen. Dann beugte er sich vor und nahm mir die Haube ab. Ich erinnere mich, dass ich verängstigt war, weil es eine Sünde für ihn war, mein Haar zu entblößen.« Maddie holte hörbar Luft und fuhr mit brüchiger Stimme fort: »Aber das war das Allerletzte, wovor ich mich hätte fürchten sollen. Denn was als Nächstes kam, bestimmte den Lauf meines Lebens, bis vor einigen Monaten, als ich befreit wurde.«
Maddies Blick wirkte verloren. Ich wollte etwas zu ihr sagen, doch die Flammen in meinem Blut waren wieder da, bei dem Gedanken, dass jemand ihr wehtat. Sie loderten in meinem Blut, verbrannten mein Fleisch bei dem Gedanken daran, dass dieser Wichser sie in diese Folterkammer brachte und ihr wehtat.
Maddies Hand hielt meine noch fester, und es brach aus ihr heraus: »Er riss mir das Kleid vom Rücken, Flame. Er schnitt mir das Untergewand vom Leib. Dann hob er mich nackt hoch und legte mich auf den Tisch. In Sekunden hatte er mich mit den kleinsten Fesseln festgemacht. Ich weiß noch, dass ich in Panik geriet, weil ich mich nicht rühren konnte. Ich weiß noch, dass ich versuchte, mich zu befreien. Dann erinnere ich mich, dass Moses plötzlich nackt vor mir stand und seine Männlichkeit in den Händen hielt. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, muss er damals etwa Mitte dreißig gewesen sein. Und ich war acht Jahre alt. Er war so viel älter als ich, aber er wollte mich auf fleischliche Weise.«
Maddie stockte der Atem. Ich hob den Oberkörper und versuchte sie so zu beruhigen. Dann wurden ihre Wangen blass, und sie fuhr fort: »Er fing an, mir zu erzählen, dass ich böse sei. Dass mein Aussehen zu verführerisch für Männer sei, um zu widerstehen, und dass er die Aufgabe erhalten habe, meine Seele zu reinigen. Ich erinnere mich, dass er langsam auf den Tisch stieg, sein großer Körper über mir schwebte, und ich erinnere mich, dass er die Hand hob und über meinen nackten Oberkörper strich, und seine Finger drückten meine kleinen Brustwarzen zusammen. Ich war so durcheinander. Ich verstand nicht, warum er meine intimen Körperstellen berührte.
Und dann lag er auf mir, zwischen meinen kleinen gespreizten Beinen. Aber ich konnte mich nicht befreien. Ich versuchte es, wollte mit allen Mitteln von ihm loskommen. Aber es half alles nichts. Ich war gefangen, und Bruder Moses genoss es.« Maddies ganzer Körper versteifte sich, und ihre Augen zuckten. »Und dann stieß er sich in mich. So hart und grob, und ich weiß noch, dass ich so laut schrie, dass meine Ohren klingelten. Aber mein Schrei brachte ihn bloß dazu, mir ins Gesicht zu schlagen und zu sagen, ich solle den Mund halten. Er hörte nicht auf. Ich war gefangen auf diesem Tisch, und er nahm mich immer wieder. So oft, dass ich schließlich ohnmächtig wurde. Als ich wieder aufwachte, war ich zurück in meinem Quartier, und Bella, Mae und Lilah standen alle um mein Bett herum. Ich wachte auf und spürte den quälenden Schmerz zwischen meinen Beinen. Und als ich nach unten blickte, sah ich Blut. So viel Blut.« Inzwischen strömten die Tränen ungehindert über ihre Wangen, aber sie wischte sie weg und erzählte weiter: »Und es hörte nie auf. Wenn überhaupt, dann wurden seine Unterweisungen nur noch schlimmer. Ich lernte sehr schnell, diesen Raum zu fürchten. Und dann, nach einer Weile, wurde das mein Leben. Und das war der Punkt, an dem ich innerlich starb.«
Maddie blinzelte schnell und schaute zu mir herab. Ihre Lippe zuckte, und ein trauriges Lächeln spielte um ihre vollen Lippen. »Bis du gekommen bist, der unwahrscheinlichste Erlöser von allen. Flame, du hast mich vor ihm gerettet. Vor diesem Leben … davor, dass ich nie wissen würde, wie es ist, jemandes Hand zu halten. Zu küssen und einander so sanft zu lieben, dass es sich nach wie vor so anfühlt, als sei es ein Traum. Du hast keine Ahnung, wie besonders du für mich bist.« Maddie hob unsere verschränkten Hände und sagte: »Selbst jetzt noch, wenn ich diese Hände ansehe, habe ich Angst, dass das alles bloß in meinem Kopf passiert, dass ich hier bin mit dir, und es ist nur ein weiterer Traum, der nie wahr werden wird. Dass ich an meinem Fenster sitze und eine Zukunft zeichne, von der ich so sehr hoffe, dass sie wahr wird, und dann blinzle ich und stelle fest, dass das alles bloß in meinem Kopf passiert und ich damit zufrieden sein muss, dich lediglich aus der Ferne zu beobachten.«
Maddie beugte sich nieder und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. Als sie wieder zurückwich, streichelten ihre Hände über mein Haar. »Aber dann habe ich dieses neue, seltsame, überwältigende Gefühl in meinem Herzen und weiß, dass das hier alles real ist. Dass ich wirklich gerettet wurde, erneut. Denn ich fühle, wie sowohl Angst als auch Hoffnung in mir pulsieren. Ich bin aufgeregt und nervös zugleich. Und ich kann nicht atmen, wenn ich daran denke, ohne dich zu sein, und sei es nur eine Sekunde lang.« Maddies Hand legte sich an meine Wangen, und sie sagte: »Also, vielleicht denkst du, dass man dich nicht lieben kann. Aber in meinem Herzen, in meiner heilenden Seele, treibt mich die Frage: Wie kann man das nicht? Denn für mich bist du Wahrheit. Meine Wahrheit. Mein Herz, ganz du.«
Maddie lächelte, und dieser schöne Anblick war wie ein Treffer mitten ins Herz. »Ich liebe dich, Flame. Und ich werde den Rest meines Lebens mit dem Versuch verbringen, dich zu überzeugen, dass du es wert bist, geliebt zu werden.«
Ich stöhnte, als ich die Worte hörte. Ich schlang die Arme um Maddies Nacken und zog sie an mich. Ich hielt sie fest und antwortete heiser: »Ich kann den Gedanken nicht ertragen, was der Scheißkerl dir angetan hat.«
Maddie legte die Arme um meine Taille, hielt die Wange auf meine Brust und gestand: »Und ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass jemand dir wehgetan hat. Selbst jetzt noch kann ich nicht begreifen, was wirklich mit dir passiert ist. Ich weiß, dass man dir in deiner Kirche wehgetan hat. Ich weiß, es liegt daran, dass du die Welt nicht so siehst wie alle anderen. Aber … wer ist er? Wer ist der Mann, von dem du sprichst? Der, der sich immer in deinen Kopf drängt? Der, der dich zu der Falltür treibt und dir wehtut? Ich glaube, er tut, was Bruder Moses mir angetan hat.«
Ich hielt sie fester, als ich an sein Gesicht dachte. Seine harten Züge und diese Augen, die mich mit solchem Hass anstarrten. Ich dachte an die Finsternis, an den Erdboden … und das Schreien … das gottverdammte Schreien …
»Flame?«, rief Maddie und holte mich mit einem schlichten Kuss auf meine Brust aus der Finsternis.
Ich hielt sie fest und gestand: »Ich habe … ich habe das noch nie jemandem erzählt …« Mir blieb die Luft weg, und ich konnte hören, wie sich seine Stimme in meinen Kopf drängte: Du bösartiger kleiner Scheißer. Du hast sie uns genommen, und jetzt brüllt er nur noch. Hier, sieh zu, dass du dich darum kümmerst …
»Sch, Flame. Es ist alles gut«, tröstete Maddie mich.
Ich konzentrierte mich auf ihre Hände um meine Taille und ihre sanften Atemzüge auf meiner Brust, und dann sagte ich heiser: »Das mit den Schlangen hat nicht funktioniert.«
Maddie versteifte sich, und ihre Arme drückten mich fester. Ich starrte an die Decke und sagte: »Die Kirche, das Gift; nichts davon hat geholfen. Monatelang hat er mich immer wieder in die Kirche gebracht, zu Pastor Hughes. Aber nichts, was sie getan haben, hat geholfen. Er sagte, die Flammen würden nie vergehen. Dass ich böse wäre und alles, was ich anfasse, auch verdorben wird. Ich wurde nie besser darin, Dinge zu verstehen und so zu sein wie normale Menschen. Und am Ende gaben sie es auf, mich in die Kirche zu schleppen. Aber seine Bestrafungen wurden schlimmer.«
»Wer ist er, Flame?«, fragte Maddie, und sein Gesicht tauchte wieder in meinem Kopf auf.
»Mein Paps«, flüsterte ich. Ich hatte Bauchschmerzen, als ich seinen Namen laut aussprach. »Er sagte, dass ich böse bin. Dass Flammen in meinem Blut brennen. Er hat versucht, sie durch Gott auszutreiben. Stattdessen hat er mir erzählt, dass ich des Teufels bin. Dass ich ein Fluch für die ganze Familie bin, weil der Teufel mich langsam und dumm gemacht hat.«
»Flame«, flüsterte Maddie und hob den Kopf, um mir in die Augen zu sehen.
»Ich habe es versucht, Maddie. Ich habe mir echt Mühe gegeben, mit anderen Kindern zu reden, aber ich habe nie etwas richtig gesagt. Ich … ich habe nicht begriffen, was ich gesagt habe, dass sie mich auslachten oder zu weinen anfingen oder wegrannten. Ich habe es nie verstanden. Und jedes Mal, wenn es passierte, wurde mein Paps noch wütender. Und dann hat er mich verprügelt und in mein Zimmer geschickt, weil er sagte, er kann es nicht ertragen, in meiner Nähe zu sein.« Ich atmete tief durch und fuhr fort: »Er sah mich nur auf dem Boden sitzen und spielen und brüllte mich an, dass ich böse bin und ein Idiot. Und meine Mama … sie hat er auch immer wieder angebrüllt. Sie wollte ihn immer dazu bringen, dass er aufhört. Sie hat es immer wieder versucht. Wenn sie das allerdings tat, dann tat er ihr ebenfalls weh. Als mein kleiner Bruder geboren wurde, hat er ihn auch immer angebrüllt, dass er aufhören soll zu weinen. Aber er war ein Baby, und Babys schreien nun mal die ganze Zeit.«
Maddie hob den Kopf und fragte: »Du hast einen Bruder? Eine Mutter?«
Mir wurde es schwer ums Herz, und ich schüttelte den Kopf. Ich konnte spüren, dass mein Kopf zuckte. Ich zitterte am ganzen Körper. Ich musste aufstehen, doch Maddie rührte sich, um auf mir zu liegen, und ihre Hände streichelten mein Gesicht.
»Sie sind nicht hier?« Als ich nach unten blickte, war mein Arm ausgestreckt, und meine harten Nägel kratzten über meine Adern.
Ich würgte mit zugeschnürter Kehle und flüsterte: »Maddie … ich habe sie umgebracht. Ich habe ihnen wehgetan … ich habe sie getötet …«
Maddie schluckte und fragte dann: »Was meinst du damit? Sprich mit mir, Flame. Friss es nicht in dich hinein, wo es dir Schmerzen bereitet. Teile es mit mir. Lass das doch zu.«
Ich schloss die Augen und hörte Paps in meinem Kopf schreien. »Flame … sprich mit mir, bitte …«, flehte Maddie und brachte mich damit direkt zurück an jenen Tag. Genau zurück in die Hölle …
Paps war gegangen. Ich hörte die Tür zuschlagen. Ich entspannte mich und legte mich auf den Erdboden. Ich war müde und hungrig. Aber ich hatte mich nicht getraut, mich zu rühren, als ich seine Schritte über mir hörte. Wenn er mich beim Schlafen erwischte, würde er mich bestrafen. Und mir tat alles weh. Der Gürtel tat weh, und ich wollte nicht noch mehr Schmerzen.
Gerade als ich die Wange auf die Erde legte, hörte ich Schritte über mir, die dann stockten. Sofort setzte ich mich auf und rutschte nach hinten in die Ecke des Lochs.
Mein Herz schlug viel zu schnell, denn ich dachte, es wäre mein Paps, und ich kratzte an meinen Handgelenken, um die Flammen zu vertreiben, bevor er es selbst tun konnte. Ich wollte nicht wieder seine Klingen auf meinem Arm spüren. Sie taten zu sehr weh.
Dann, gerade als ich meinen Arm mit den Fingernägeln aufgekratzt hatte, legte sich jemand oben auf die Falltür. Ich erstarrte und versuchte durch die Ritzen zu schauen. Aber ich konnte nichts sehen.
Dann drang eine Stimme zu mir nach unten in den Keller: »Sohn, kannst du mich hören?«
Ich entspannte mich, als ich die Stimme meiner Mama hörte. »Mama?«, flüsterte ich und hörte sie schluchzen.
»Ja, ich bin es. Geht es dir gut?«
»Es tut weh«, flüsterte ich und hielt den Arm an die Ritzen im Boden, nur für den Fall, dass sie es sehen konnte. Ich konnte das Blut auf meiner Haut sehen.
»Ich versuche es, Mama. Ich versuche, die Flammen zu vertreiben, damit Paps mich nicht wieder in die Kirche bringt. Ich mag die Schlangen nicht. Der Pastor fesselt mich, und dann beißen sie mich.«
Mama schniefte. »Ich weiß, Baby. Ich weiß, dass du sie nicht magst. Ich mag sie auch nicht.«
Ich senkte den Arm und sagte: »Paps sagt, ich bin ein Idiot. Ich glaube … ich glaube, das ist etwas Schlimmes. Weil er mir wehtut, wenn er mich so nennt. Aber ich verstehe nicht, was ein Idiot ist.«
Meine Mama schluchzte wieder. »Hör mir zu, Baby. Du bist kein Idiot. Egal, was irgendwer dir erzählt, du bist kein Idiot. Okay?«
Ich nickte und senkte den Arm. Dann stemmte ich mich hoch und versuchte an die Bodendielen über mir zu kommen. Doch ich schaffte es nicht. »Mama«, fragte ich, »kannst du mich rauslassen? Es ist dunkel und kalt, und ich habe Angst allein hier unten.« Mama schluchzte weiter, aber jetzt lauter. Ich runzelte die Stirn. »Mama? Wieso weinst du?«
Mama sagte eine Weile nichts, dann sah ich allerdings, wie sich ihre Finger durch einen breiten Spalt im Boden schoben. »Kannst du meine Finger sehen, Baby?«
»Ja«, antwortete ich.
»Nimm meine Finger, Baby … lass mich deine Hand berühren.«
Ich schaute mich um und sah einen Brocken Erde, der aus der Wand ragte. Ich ging hin, stellte den Fuß darauf und schwang mich hoch, um ihre Finger zu berühren. Als unsere Finger sich berührten, holte ich tief Luft. Ich liebte meine Mama. Sie war freundlich und gab mir nie Schimpfnamen.
Mama weinte lauter und legte die Finger um meine.
»Mama, kannst du mich jetzt rausholen?«
»Ich kann nicht«, weinte sie. »Paps hat dich hier eingesperrt, und ich habe keinen Schlüssel.«
Mir wurde es schwer ums Herz. »Okay«, flüsterte ich.
»Baby«, rief meine Mama. Ich hob den Kopf und versuchte sie zu sehen, doch ich konnte nicht. Ihre Stimme war anders geworden. Das konnte ich erkennen.
»Ja, Mama?«
»Du musst … du musst wissen, dass ich dich liebe. Ich liebe dich so sehr, Baby … aber ich bin müde. Ich bin so müde.«
Mamas Finger um meine wurden fester, und sie zitterten. »Mama, wieso zittern deine Hände?«, fragte ich.
Mama weinte. Sie weinte und weinte und hörte ganz lange nicht damit auf. Dann flüsterte sie: »Ich liebe dich, Baby, so sehr. Du bist etwas ganz Besonderes für mich. Auch wenn du anders bist, bist du mein kleiner Junge. Aber …« Sie holte Luft. »Aber ich kann nicht bleiben. Ich kann nicht bleiben …«
Mir rutschte vor Angst das Herz in die Hose, und ich hielt ihre Finger fester. »Nein, Mama. Verlass mich nicht. Ich will nicht, dass du weggehst.« Doch ihre Finger zogen sich langsam weg. »Nein!«, rief ich und versuchte sie festzuhalten. Aber ich konnte nicht.
»Pass auf deinen Bruder auf, Baby. Beschütze ihn und sorge dafür, dass er in Sicherheit ist«, hauchte sie, und dann waren ihre Finger weg.
»Mama!«, rief ich ihr nach, mein Fuß rutschte allerdings auf dem Erdvorsprung aus, und ich fiel auf den harten Boden. Mamas Schritte entfernten sich von der Falltür, und ich hörte sie sagen: »Ich liebe dich, Baby. Es tut mir leid … es tut mir so leid …«
Ich zog die Knie an den Oberkörper und fing an, mich vor und zurück zu wiegen. Dann wurde es still im Haus. Und ich weinte. Ich weinte, weil sie mich verlassen hatte. Sie hatte mich berührt, und anschließend war sie weggegangen.
Und hatte mich hier mit ihm zurückgelassen …
Ich öffnete die Augen, legte die Hand an Maddies Gesicht und platzte heraus: »Sie lag auf dem Bett. Sie hat das Haus nie verlassen, wie ich geglaubt hatte. Ich hörte meinen Paps aus dem Schlafzimmer brüllen, als er nach Hause kam. Dann kam er zur Falltür und zerrte mich raus. Er sagte nichts und zerrte mich nur ins Schlafzimmer. Und da lag sie, ganz voll Blut und reglos auf dem Bett.« Ich zeigte auf meine Handgelenke. »Blut kam aus ihren Handgelenken. Und auf dem Bett lag ein Messer, neben ihr. Ein langes scharfes Messer.«
»Oh nein, Flame …«
»Und mein kleiner Bruder lag neben ihr in seiner Krippe und schrie sich die Seele aus dem Leib. Mein Paps lief hin und her, die Hände an den Kopf gedrückt. Aber ich konnte nicht aufhören, meine Mama auf dem Bett anzusehen. Ich konnte nicht aufhören, auf das Blut zu starren … und dann sah ich ihre Augen. Sie sahen merkwürdig aus. Sie starrten mich direkt an, waren allerdings leblos. Es machte mich so traurig. Ich erinnere mich, dass mir eng in der Brust wurde und meine Hände zu zittern anfingen, wegen all dem Blut, weil sie sich nicht rührte und wegen ihrer Augen.«
Als ich immer länger auf ihr blasses Gesicht starrte, kam ein Geräusch aus meiner Kehle, woraufhin sich mein Paps umdrehte. Er lief knallrot an und deutete auf mein Gesicht. »Das ist deine Schuld, du bösartiger kleiner Idiot. Du hast sie dazu gebracht. Das Böse in deinem Blut hat sie dazu gebracht. Du bist ein Fluch, ein Fluch auf dieser beschissenen Familie!«
»Ich wusste nicht, wie ich das gemacht hatte, aber dann fiel mir ein, dass ich sie berührt hatte. Mein Paps hatte mir verboten, irgendwen anzufassen. Ich hatte zu viel Angst, jemanden zu berühren, für den Fall, dass ich jemandem wehtat, doch ich hatte die Finger meiner Mama gehalten. Und da wusste ich, dass meine Berührung sie getötet hatte.
Dann kam er auf mich zu und packte mich am Kragen. Er schleifte mich durchs Wohnzimmer, sodass mir der Nacken wehtat, bis wir zur Falltür kamen. Er hob die Tür auf, und als ich runterschaute, sah ich nur Finsternis. Ich schüttelte den Kopf, denn ich wollte da nicht wieder rein. Ich hatte Angst vor der Dunkelheit, und ich wollte in dem anderen Zimmer bei Mama und meinem kleinen Bruder sein. Ich wollte nicht, dass Mama weg war. Ich wollte sie zurückhaben. Weil sie der einzige Mensch war, der mich je anlächelte. Und ich wollte nicht, dass ich sie nicht mehr lächeln sah. Ich wollte nicht allein bei Paps bleiben. Weil er mich hasste.«
Maddie beugte sich vor und drückte mir einen Kuss aufs Kinn. Doch ich konnte nicht aufhören. Ich musste ihr den Rest erzählen. Sie musste alles erfahren.
»Er hat mich wieder da reingeworfen, Maddie. Er hat mich in den Keller gestoßen und die Falltür zugeworfen. Ich schrie, dass er mich rauslassen soll, er kam allerdings nicht zurück. Er ließ mich allein da drin. Es war so kalt, aber er hat mich da alleingelassen, schon wieder.«
»Wie lange?« Maddies Stimme zitterte. Ich schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht. Aber ich war hungrig, müde und mir war kalt. Ich konnte meinen kleinen Bruder die ganze Zeit schreien hören. Und ich hörte, wie Paps ihn anschrie, dass er still sein soll. Ich wiegte mich vor und zurück und versuchte das Schreien auszublenden und warm zu werden. Dann ging die Tür auf. Ich kroch hastig auf die Seite in dem kleinen Keller, denn das grelle Licht tat meinen Augen weh. Mein Paps sprang herunter. Ich roch Alkohol in seinem Atem, und in der Hand hielt er das Messer, das ich auf Mamas Bett gesehen hatte. Das, mit dem sie sich die Arme aufgeschnitten hatte.«
»Flame, du musst nicht weitermachen«, sagte Maddie leise. Als ich ihr ins Gesicht schaute, liefen ihr Tränen über die Wangen.
»Ich muss«, antwortete ich heiser und hob Maddies Hand an meine Wange. »Ich will, dass du mich verstehst. Alles von mir.« Ich tippte mir an den Kopf. »Hier drin.«
»Flame«, rief sie, aber ich redete weiter. Ich musste.
Sogar jetzt noch, wenn ich die Augen schloss, konnte ich den Alkohol in Paps’ Atem riechen. Meine Muskeln spannten sich an, doch ich musste weitererzählen. »Ich wollte mich in die Ecke drücken, aber er streckte die Hand aus und zerrte mich auf die Füße. Er drängte mich an die Wand und schnitt mir mit dem Messer die Klamotten vom Leib. Ich wollte schreien, konnte allerdings das Geräusch von Schreien nicht ertragen. Also hielt ich den Mund. Und dann spürte ich es. Die Messerklinge, die über meinen Rücken schnitt, der Schmerz, der meine Beine zittern ließ. Und mein Paps fing an zu zählen: Eins … Er zählte jeden Schnitt mit. Und ich spürte den Schmerz, doch ich schrie nicht. Ich konnte Schreien nicht ertragen. Aber mein Paps wurde noch wütender, und er schnitt weiter. Und er zählte weiter, bis elf. Er hörte immer bei elf auf, er zählte nie weiter bis zwölf. Er zählte nie bis zwölf.
Dann trat er zurück, und ich dachte, dass er fertig ist. Ich dachte, er wäre fertig damit, die Flammen vertreiben zu wollen. Aber dann hörte ich, wie der Reißverschluss seiner Hose aufging, und ich spürte seinen heißen Oberkörper an meinem Rücken.«
Ich schlang die Arme um Maddie und gab mir Mühe, nicht dorthin zurückzugehen. Ich versuchte, nicht seinen heißen Alkoholatem im Gesicht zu fühlen. Seine Hände an meinen Hüften.
»Ich halte dich, Flame«, flüsterte Maddie, »ich halte dich. Du bist nicht dort bei ihm.«
»Maddie«, stöhnte ich und wollte mich an ihr festhalten. Doch ich musste es ihr erzählen. Ich musste weitermachen.
Ich unterdrückte meinen Schrei, aber das schien ihn bloß noch wütender zu machen. Ich werde den Teufel direkt aus deinem verdorbenen, sündigen Fleisch austreiben. Und das tat er. Er nahm mich immer wieder. Er kam jede Nacht. Immer schlitzte er mir mit dem Messer den Rücken auf, und immer zählte er dabei bis elf. Ich habe nie herausgefunden, warum er bis elf zählte. Und dann hat er mich gefickt. Er hat mich gefickt, bis ich nicht mehr laufen konnte, und dann ließ er mich in der Finsternis zurück, nackt und frierend auf der Erde, allein in der Finsternis.«
Maddie schluchzte leise. »Mein Gott, Flame. Es tut mir leid … es tut mir so leid …« Aber ich war noch nicht fertig, und meine Arme um ihren kleinen Körper spannten sich so fest an, dass sie nach Luft schnappte und aufblickte: »Was ist es, Flame? Was kann es denn noch zu erzählen geben?«
»Mein Bruder«, flüsterte ich und fühlte brennenden Schmerz durch meinen Leib jagen. »Mein kleiner Bruder, Isaiah.«
Und ich fing an, ihr den schlimmsten Teil von allem zu erzählen, von all dem Bösen. In meinem Kopf war das Ganze viel zu real. So verdammt real, dass es sich anfühlte, als wäre ich wieder genau dort. Zurück in der Vergangenheit, als ich acht Jahre alt war und sich alles total veränderte. Direkt zurück in der verdammten Finsternis, und ich durchlebte wieder jede Minute davon …
Ich hörte ihn wieder schreien. Er weinte schon seit Tagen. Irgendwas stimmte nicht. Da musste etwas nicht stimmen. Aber Paps brachte ihn nicht zum Arzt, denn er glaubte nicht an Ärzte. Er sagte, dass Gott uns heilen würde, wenn unsere Seelen rein genug waren, um gerettet zu werden. Mein Bruder hörte jedoch nicht zu schreien auf. Ich hatte ihn schon tagelang gehört, während ich in dem Loch saß, in völliger Dunkelheit.
Ich erstarrte, als ich die Haustür aufschlagen hörte und Paps’ schwere Schritte über den Boden polterten. Ich hörte Flaschen klirren und wusste, dass er weg gewesen war, um sich noch mehr zu trinken zu holen. Ich presste die Beine zusammen, als mir klar wurde, was das für mich bedeutete. Es bedeutete, dass er heute Nacht wieder zu mir kommen würde, oder heute am Tag, oder wie spät es auch immer gerade war.
Ich zuckte zusammen, als ich meinen Bruder wieder weinen hörte. Dann hörte ich ein Krachen, und Paps brüllte: »Halt die verdammte Schnauze! Halt. Die. Verdammte. Schnauze!«
Aber mein Bruder schrie noch lauter, immer mehr.
Ich drückte mir die Hände auf die Ohren und fing an, mich vor und zurück zu wiegen; ich zählte bis elf und wiegte mich vor und zurück. Vor und zurück.
Oben ging Licht an, und die schmerzende Helligkeit kroch durch die schmalen Ritzen in der Tür. Als das Licht auf meinen nackten Bauch schien, schaute ich an mir herab und runzelte die Stirn. Ich konnte meine Rippen sehen. Mein Bauch war eingesunken, und meine Finger sahen klein und dünn aus.
Ich zuckte zusammen, als mein Bruder wieder schrie. Ich hörte Paps brüllen: »Ich bin fertig damit, dass ihr zwei mein Leben ruiniert. Der Idiot, und der, der ums Verrecken nicht aufhört zu plärren!«
Mein Herz fing zu rasen an, als das Geschrei meines Bruders näher kam. Paps’ Schritte kamen immer näher, dann ging das Schloss der Tür über mir auf, und ich kroch hastig an die Wand meiner Zelle.
Meine Nägel kratzten über die Haut an meinen Handgelenken, genau als Paps herunter auf die Erde sprang.
Das Licht von oben flutete in meine kleine Zelle, und als ich aufblickte, stöhnte ich auf. Paps hielt meinen schreienden Bruder in den Armen. Isaiah war knallrot und schweißgebadet. Paps hatte ein Messer in der Hand. Als ich seinem Blick begegnete, bückte er sich und warf mir das Messer vor die Füße.
Es war das Messer, mit dem Mama sich die Handgelenke aufgeschlitzt hatte.
Ich starrte es an und fragte mich, was er von mir wollte. Er kam auf mich zu und legte meinen Bruder neben mir hin. Ich starrte Isaiah an und drückte mich noch enger an die Erdwand. Ich konnte ihn nicht anfassen. Ich durfte es nicht. Es würde ihm wehtun, so wie Mama.
Paps stand auf und schaute auf mich herab. »Du hast deine Mutter umgebracht, dann kümmere dich jetzt auch um den plärrenden kleinen Scheißer. Ich bin fertig mit euch zwei.«
Ich geriet in Panik, als er wieder gehen wollte. »Nein, geh nicht«, flehte ich. Ich hielt ihm die Arme hin, damit er die Kratzer und das Blut sehen konnte. »Ich versuche noch mehr, die Flammen zu vertreiben. Ich werde es noch mehr versuchen … ich … ich liebe dich«, flüsterte ich und streckte die blutenden Handgelenke noch weiter aus.
Aber mein Paps gab keine Antwort, sondern kletterte wieder nach oben. Er war so betrunken, dass er fast stürzte. Seit Mama tot war, trank er immer mehr. »Dass ihr zwei geboren wurdet, war das Schlimmste, was mir je passiert ist. Ich könnte dich nie lieben. Niemand könnte je einen Sünder wie dich lieben.« Daraufhin fiel die Tür zu und mein Bruder und ich waren hier drin gefangen. Und dann fing er zu weinen an. Und danach zu schreien. Sein Geschrei tat mir in den Ohren weh. Doch er hörte nicht auf. Er hörte nicht mehr auf zu schreien.
Stunden vergingen, und er schrie immer noch. Das Licht oben war nach wie vor an, aber ich hatte Paps nicht mehr gehört, seit er uns hier unten zurückgelassen hatte. Ich hatte Hunger und Durst, er kam allerdings nicht wieder.
Und Isaiah ging es schlechter.
Als ich mich über ihn beugte, sah er mich an, doch seine Atemzüge waren anders geworden. Sie waren tief und langsam, aber seine dunklen Augen, Augen wie meine, schauten auf zu mir, und er streckte die dünnen Ärmchen aus.
Mir tat der Bauch weh, als ich sagte: »Ich kann dich nicht anfassen … ich würde dir wehtun …« Doch er weinte weiter. Er schrie, bis ich es nicht mehr aushielt.
Meine Hände ballten sich zu Fäusten, als ich gegen die Flammen in mir kämpfte. Als ich zu Gott betete, dass sie ihm nicht wehtaten. Paps war allerdings schon so lange weg, weshalb ich nicht mehr glaubte, dass er zurückkommen würde. Dann wurden Isaiahs Atemzüge flacher, aber ich konnte sehen, dass er mich immer noch anschaute. Und ich musste ihn im Arm halten. Er war verängstigt und verletzt … wie ich.
Ich musste ihn in den Arm nehmen.
Ich hielt den Atem an, dann stieß ich einen Schrei aus, streckte die Hände aus, hob ihn auf und nahm ihn in die Arme.
Doch seine Haut war nicht mehr heiß. Mein kleiner Bruder war eiskalt. Seine Augen waren merkwürdig – glasig. Aber er schaute mich nach wie vor an, und ich fing an, ihn hin und her zu wiegen, wie Mama es immer gemacht hatte. Singen tat meiner Kehle weh. Ich hatte solchen Durst, doch ich sang, damit es Isaiah besser ging.
Ich wollte, dass er sich besser fühlte.
»Twinkle twinkle little star … how I wonder what you are … up above the world so high … like a diamond in the sky …«
Aber es half nicht.
»Ich will dir nicht wehtun«, flüsterte ich, als ich zu singen aufhörte, und ich hörte ein Rasseln in seiner kleinen dünnen Brust. Doch Mama hatte mich gebeten, mich um ihn zu kümmern und ihn zu beschützen.
Also fing ich an zu zählen. Ich zählte seine Atemzüge und ließ ihn dabei nicht einen Moment aus den Augen. »Eins«, flüsterte ich, als er langsam Luft holte, »zwei«, zählte ich weiter und drückte ihn enger an mich. »Drei«, zählte ich, aber seine Atemzüge wurden langsamer, »vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn …« Ich bemerkte, dass Isaiahs Arme herabgesunken waren, und seine Haut war eisig kalt, doch seine Augen waren immer noch offen und schauten mich an. Dann wartete ich darauf, dass er wieder Luft holte. Ich zählte »elf« und wartete. Und ich wartete weiter. Aber nichts passierte. Ich fing zu zittern an. Isaiahs dunkle Augen bewegten sich nicht, und sein Körper war viel zu still.
Ich bewegte die Arme und versuchte ihn dazu zu bringen, dass er atmete. Er rührte sich allerdings nicht. »Zwölf«, flüsterte ich, denn ich wollte so unbedingt, dass er bis zwölf kam. Meine Arme fingen zu zucken an. Aber Isaiah rührte sich nicht. Ich fing an, mich vor und zurück zu wiegen, wie ich es bei Mama gesehen hatte, als er in ihren Armen lag. »Zwölf … bitte … atme bis zwölf …« Doch als ich mich bewegte, fielen seine dünnen Arme neben ihn. Sein Kopf fiel nach hinten, die Augen immer noch weit offen, doch er starrte mich nicht mehr an.
Isaiah war fort … genau wie Mama …
Er hatte mich auch verlassen.
Ich hatte ihm wehgetan … ich hatte ihn dazu gebracht, dass er mich ebenfalls verließ …
Ich drehte ruckartig den Kopf, und mein Blick war verschwommen, als ich mich an den kleinen Isaiah erinnerte. Ich blinzelte das Wasser in meinen Augen weg. Plötzlich war Maddies weinendes Gesicht vor mir, und ihre Arme umfingen meinen Kopf. »Meine Berührung hat ihn umgebracht, Maddie«, gestand ich flüsternd und schlang die Arme um sie.
»Sch …«, flüsterte Maddie mit brüchiger Stimme und wiegte meinen Kopf in ihren Armen. »Du hast nichts dergleichen getan. Das war dein Vater. Er hat euch dort zum Sterben zurückgelassen. Dein Bruder war krank, und er hat ihn bei dir gelassen. Ohne medizinische Hilfe. Du hast ihn nicht getötet, Flame. Deine Berührung hat deinen Bruder nicht verletzt, und auch nicht deine Mama. Es war die Gleichgültigkeit deines Vaters.«
Maddie lehnte sich zurück. »Aber er kam nicht bis zwölf. Elf. Es war immer elf. Elf Schnitte in meinen Rücken, und dann elf Atemzüge von Isaiah. Wieso ist es immer elf? Wieso hat er immer bis elf gezählt? Ich kriege die Zahl elf nie wieder aus meinem Kopf. Alles ist elf.«
Maddie drückte mich an sich und sagte dann: »Ich weiß nicht.« Ich ließ den Kopf hängen, und da fügte sie hinzu: »Was für ein schöner Name. Isaiah.«
Ich atmete tief durch. »Mein Name war Josiah«, bekannte ich, zum allerersten Mal im Leben. »Josiah William Cade.«
Als ich aufblickte, sah ich eine Träne über Maddies Wange laufen. Ihre Finger streichelten meinen Bart, und ihre Lippen öffneten sich. »Josiah William Cade«, flüsterte sie und beugte sich vor, um meine Lippen zu küssen.
»Ich hasse den Namen Josiah«, spuckte ich aus.
Maddie nickte. »Das verstehe ich, denn ich hasse den Namen Magdalene auch. Ich bin froh, dass du deinen Geburtsnamen mit mir geteilt hast. Und ich bin froh, dass du mir das alles erzählt hast. Denn jetzt, Flame, wissen wir alles, was es voneinander zu wissen gibt. Alles. Alles ist offenbart.«
Ich fühlte mich wie ausgetrocknet, als ich den Kopf nach hinten legte und Maddie an meine Brust drückte. Es war still im Zimmer. Ich versuchte die Erinnerungen wieder auszublenden. Aber ich konnte es nicht. Sie wollten nicht weggehen. Doch dann, als mir die Augen zufielen, spürte ich, wie Maddie mich auf die Brust küsste. Sie flüsterte: »Ich liebe dich, Flame.«
Ich holte Luft, kniff die Augen zu, und die Bilder gingen weg. Ich hielt sie fester, lockerte meine verkrampften Kinnmuskeln und flüsterte: »Ich … Maddie … ich liebe dich auch …«