Kapitel 30

Prophet Cain

Weiße Tunika.

Weiße Hose.

Das lange Haar offen.

Ich war bereit.

Doch als ich mein Spiegelbild musterte, war mir nur übel. Und ich fühlte mich falsch. Alles an diesem Ort brüllte mir zu, dass es total und absolut falsch war.

Es klopfte leise an der Tür, die zum Altar führte. »Herein«, rief ich. Es war Phebe, nun wieder aus ihrer Abgeschiedenheit befreit.

»Es ist Zeit, mein Herr«, verkündete sie und wartete an der Tür.

Ich runzelte die Stirn. »Du wirst dich heute Nacht nicht mit Judah vereinen?«

Phebe blickte zu Boden. »Er hat Sarai an meiner Stelle gewählt. Sie hat die Rolle seiner erstrangigen Gefährtin erhalten.« Sie senkte den Kopf noch tiefer. »Seiner einzigen Gefährtin.«

Mir drehte sich der Magen um, als ich daran dachte, dass mein Bruder dieses Kind nahm. Mir war schlecht. Phebe blickte zu mir auf, während die Musik leise in den Raum drang. »Mein Herr, es beginnt. Wir müssen gehen.«

Ich zwang meine Beine zum Gehen und folgte Phebe durch den schmalen Korridor. Ich roch den starken Duft von brennendem Weihrauch und hörte die Instrumentalmusik lauter werden. Mein Herz pochte im Einklang mit dem schnellen Trommelrhythmus, der von den Wänden pulsierte. Ich betete zu Gott, dass er mich durch das hier leiten möge.

Als wir zu einer mit einem Schleier verhangenen Tür kamen, zeigte Phebe hinein. »Hier muss ich Euch verlassen. Ich habe keinen Partner für heute Nacht und darf daher nicht eintreten.«

Ich starrte die Tür an. »Wie viele Leute sind da drin?«

Phebe folgte meinem Blick. »Viele, mein Herr. Vielleicht einhundert? Diese Göttliche Teilhabe ist nur für die Ältesten und die Jünger bestimmt. Jene, die die erhabene Ehre angenommen habe, die Schwestern zu erwecken.«

Ich versteifte mich bei Phebes Worten und flüsterte: »Erwecken …?«

»Ja, mein Herr. Judah hat organisiert, dass alle Mädchen im passenden Alter zum Gedenken an Eure Teilnahme versammelt werden. Die Gemeinde ist sehr aufgeregt, weil Ihr so viele Novizinnen überwachen werdet. Sie glauben, es sei ein deutliches Zeichen von Gott, dass wir in seiner Gunst stehen.«

Zorn füllte meine Adern, und dann fragte ich: »Und Judah hat das alles mir zu Ehren organisiert? Diese vielen … Novizinnen … sagtest du?«

»Ja, mein Herr. Er wünscht, Euch große Ehre zu erweisen. Er ist schon den ganzen Tag aufgeregt.«

Ich winkte ab und sagte: »Danke, Schwester Phebe, du darfst gehen.«

Phebe verneigte sich und ging. Ich blieb an der Tür stehen. Denn ich wusste – sosehr ich auch an die Sache meiner Anhänger glaubte, sosehr ich daran glaubte, dass ich der Prophet des Ordens war – ich wusste, ich konnte nicht dastehen und – nein, ich konnte der Vergewaltigung von Kindern nicht meinen Segen geben. Nichts in meinem Glauben sagte mir, dass das unter Gottes Augen richtig war. Nicht einmal die angeblich offenbarten Worte meines Onkels.

Und dann, als ich an Judah dachte, kam der Zorn wieder hoch. Seit ich die Verfluchten Schwestern hatte gehen lassen, hatten wir kaum mehr als ein paar angespannte Worte gewechselt. Bruder Luke und er waren immer beisammen, steckten die Köpfe zusammen und wisperten, und Sarai folgte Judah aufs Wort, als sei er der Prophet und nicht ich.

Seine Lügen über Delilah. Sein geheimer Plan, die Verfluchten zu entführen, bevor wir so weit waren. Und jetzt das? Die Organisation von Erweckungen in meiner Gegenwart. Und ich wusste Bescheid.

Er stellte mich auf die Probe.

Mein eigener Bruder. Mein Zwilling. Meine einzige Familie … hatte das Vertrauen in mich verloren.

Als ich den schmerzerfüllten Aufschrei eines jungen Mädchens hörte, trat ich durch den Schleier in den verrauchten Raum der Göttlichen Teilhabe … und das Bild, das sich mir bot, als der Rauch sich klarte, würde mir für immer in Erinnerung bleiben.

Erwachsene Männer jeden Alters, nackt und erregt, knieten hinter jungen Mädchen – Mädchen kaum älter als acht Jahre. Und einige waren bereits in sie eingedrungen. Vergewaltigten sie. Raubten ihnen die Unschuld … und zwischen ihren jungen Beinen waren Vorrichtungen angebracht, während sie dalagen, die Stirn zu Boden gedrückt, den Po in die Höhe gereckt und die Hände hinter dem Rücken verschränkt.

Ich kämpfte gegen das Erbrechen an, als ein wahres Konzert aus schmerzerfüllten Schreien meine Ohren attackierte.

Eine absolut kranke Massenvergewaltigung unter dem Deckmantel himmlischer Verehrung. Und da verlor ich die Beherrschung. Ich drehte vollkommen durch.

Mit einem Satz packte ich den erstbesten Mann, den ich in die Finger bekam, und riss ihn nach hinten. Und als er mich geschockt anstarrte, schlug ich zu. Ich schlug zu, immer wieder, bearbeitete sein Gesicht mit meiner Faust, mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte.

Doch ich konnte nicht aufhören. Jedes bisschen Wut und Groll, der ganze Stress, der sich das ganze Jahr über aufgestaut hatte, strömte durch meine Fäuste aus mir heraus.

Aber ich hörte nicht, wie die Musik verstummte.

Ich hörte die Kinder nicht schreien.

Ich schlug nur immer weiter auf das Gesicht des Wichsers ein, und Blut spritzte auf meine Arme und die weiße Tunika. Bis mich schließlich jemand von ihm wegzerrte und ich zu Boden fiel.

Ich rappelte mich wieder auf die Beine, bereit jeden zu verprügeln, der da hinter mir stand, als ich ein vertrautes Paar Augen sah – Augen, die identisch mit meinen waren.

»Cain«, zischte Judah mit wütend gerunzelter Stirn.

Meine Hände zitterten. Sie zitterten so sehr, dass ich auf sie herabschauen musste, nur um zu sehen, dass jede noch so kleine Stelle meiner Haut von Blut bedeckt war.

»Er ist tot.« Mein Kopf ging ruckartig zur Seite, als Bruder Luke vor dem Mann auf dem Boden kauerte. Dem Mann, den ich derart verprügelt hatte, dass sein Gesicht nicht mehr zu erkennen war.

»Cain, was hast du getan?«, fragte Judah geschockt. Und von einem Moment auf den anderen kam der Zorn, der für den Augenblick verschwunden war, zehnfach zurück. Ich starrte in das identische Gesicht, das ich nicht länger als das meines Zwillingsbruders erkannte.

»Was ich getan habe?«, fragte ich fassungslos. »Was ich getan habe?«

Judah wich mit weit aufgerissenen Augen zurück. Und da registrierte ich, dass er bloß seine Hose trug … ebenso wie Bruder Luke.

Mein Blick erfasste den Saal. Und auf den weißen Laken, die den Boden bedeckten, waren Blutflecken. Eine Mischung aus Blut und Sperma von der Vereinigung von Männern mit kleinen Mädchen. »Was ich getan habe! Was ich getan habe!«, brüllte ich, stürmte auf meinen Zwillingsbruder zu und stieß ihm die Hände vor die Brust. »Was zum Teufel hast du getan?«

Bruder Luke hinter mir kam näher. Ich wirbelte herum, stieß ihn gegen die Brust und schrie: »Raus! Sieh zu, dass du verschwindest, bevor ich dir das verdammte Genick breche!« Bruder Luke wurde kreidebleich und rannte hinaus.

Ich drehte mich um und sah, dass Judah mich musterte. »Cain?«, versuchte er mich mit erhobenen Händen zu beruhigen.

Ich schnitt ihm das Wort ab. »Das findest du richtig? Du findest es richtig, kleine Mädchen zu vergewaltigen, während sie schreien, weil sie von alten Scheißkerlen innerlich zerrissen werden?«

Judah blickte über den Boden und starrte abwesend auf den brennenden Weihrauch und die herumliegenden Geräte, die die Beine der jungen Mädchen gespreizt hielten. »Es ist der Weg des Herrn. Es ist eine unserer grundlegendsten Glaubensvorstellungen. Die Männer, sie brauchen dies. Es ist Teil unseres Glaubens.«

Als ich Judah ansah, knirschte ich mit den Zähnen, wies mit einer ausladenden Armbewegung über die Szene und verkündete: »Ich bin der Prophet. Und als solcher werde ich unsere Praktiken ändern. Und damit fange ich an.«

Ich wandte mich ab und wollte gehen, als Judah mich am Arm packte. Ich wirbelte herum. Judah versicherte mir mit harter Miene: »Die Brüder werden eine solche Änderung nicht akzeptieren. Nicht einmal von dir.«

Mit aufrichtiger Fassungslosigkeit starrte ich meinen Zwillingsbruder an und fragte betont: »Sind alle Männer hier verdammte Pädophile? Sind sie hier in unserer Gemeinde für Gott und die Errettung ihrer Seele, oder nur um kleine Mädchen zu ficken?«

Judah stolperte rückwärts und schüttelte den Kopf. »Diese Männer. Die teuflischen Männer, bei denen du fünf Jahre lang gelebt hast. Sie haben dich vom Glauben abgebracht. Sieh doch bloß, wie du dich verhältst. Hör nur, was du redest! Hör nur die sündigen Worte, die über deine Lippen kommen!«

»Ich bin ganz und gar nicht wie sie. Aber höre dies: So verdorben sie auch sind und so böse ihre Taten auch sein mögen – sie vögeln keine unschuldigen Kinder!« Ich trat einen Schritt zurück und sagte leise: »Wie kann es sein, dass ich allein das erkenne?«

»Sie haben deine Seele verdorben«, fauchte Judah.

Ich lachte freudlos, hielt ihm den Finger vor die Nase und sagte: »Nein, Bruder. Was du nicht begreifst, ist, dass ich diese Männer absolut hasse. Ich will sie ebenso sehr vernichtet sehen wie du. Sie sündigen, sie huren und sie missachten Tag für Tag Gottes Gebote. Doch was mir das Leben bei ihnen beibrachte, waren verdammte Zusammenhänge. Du hast das Heim unserer Kindheit nie verlassen, Judah, nicht ein einziges Mal. Aber ich. Ich habe fünf Jahre lang in der Außenwelt gelebt, und sosehr ich es auch hasste, in dieser Hölle zu sein, jede Sekunde lang, hat mich das davon überzeugt, dass diese kranken Veranstaltungen falsch sind. Wenn du derjenige gewesen wärst, der auf diese Mission geschickt wurde, würdest du vielleicht heute nicht hier stehen wie ein pädophiler Narr und das Unentschuldbare verteidigen!«

Ich musste unbedingt hier raus, denn der Ort erstickte mich, und ging auf die Tür zu, als Judah verkündete: »Du hast unseren Glauben verloren, Cain. Du wurdest verdorben. Du verdienst das ehrenvolle Amt der Führung unserer Anhänger nicht. Nicht wenn du dich so verhältst.«

Ich blieb wie angewurzelt stehen, drehte mich um und warnte: »Vorsicht, Bruder, das klingt gefährlich nach Verrat. Und Verrat am Propheten wird mit Kerker bestraft.«

Judahs Gesicht wurde aschgrau, und mit versteinerter Miene floh er aus dem Saal. Ich rannte zurück in mein Haus, mein Büro. Dort fing ich an, über den Schriften zu brüten, entschlossen, meine eigene Version davon zu schaffen.

Ich arbeitete Stunden, entzifferte und verbrannte alte, oft unleserliche Offenbarungen von Onkel David aus seinem späteren Leben. Ich tilgte die Praktiken, die so abstoßend waren, griff zur Feder und schuf neue Gesetze und Praktiken, die die Unschuld unserer Kinder nicht antasten würden.

Ich arbeitete so intensiv, dass der Mond aufging und schließlich dem heller werdenden Himmel des neuen Tages wich. Ich arbeitete so intensiv, dass ich am Schreibtisch einschlief, den Stift noch in der Hand …

Plötzlich riss mich ein Schlag auf den Hinterkopf aus dem Schlaf. Mir brannten die Augen vor Schmerz, und ich sah nur verschwommen. Ich drehte mich um, um den Angreifer abzuwehren, doch da wurde mir ein Sack über den Kopf gestülpt und ich versank in Dunkelheit. Ich wehrte mich, um mich zu befreien, doch jemand fesselte mir Hände und Füße. Ich wurde aufgehoben, und viele Hände hielten mich an Armen und Beinen fest. Und dann wurde ich aus meinem Haus hinaus in die kalte Morgendämmerung gezerrt.

Ein leichter Wind wehte durch meine Kleidung, und ich hörte, wie eine Tür aufgeschlossen wurde und Schritte auf Steinboden hallten.

Wieder wollte ich mich befreien, versuchte meine Fesseln zu lösen, aber sie waren zu fest. Schwer atmend hörte ich, wie eine weitere Tür geöffnet wurde. Plötzlich schoss Schmerz durch meinen Körper, als ich auf einen harten Boden geworfen wurde und dabei mit dem Kopf an eine harte Wand prallte.

Um mich herum waren schlurfende Schritte zu hören, und kurz darauf wurde mir grob der Sack vom Kopf gezogen. Ich blinzelte im stechend hellen Licht. Als ich mich daran gewöhnt hatte, sah ich vier graue Steinwände und der Geruch von Feuchtigkeit und Schweiß stieg mir in die Nase.

Dann blickte ich auf – und sah Judah und Bruder Luke, zusammen mit zwei weiteren schwarz gekleideten Jüngern, und sie alle starrten auf mich herab.

Judah stierte mich an, als sei ich ein Fremder. »Macht mich los, sofort!«, fauchte ich. Mein Kopf pochte von den Schlägen, die ich abbekommen hatte. Als mein Zwillingsbruder nicht reagierte, kämpfte ich gegen die Fesseln an und knurrte: »Als euer Prophet verlange ich, dass ihr mich losmacht!« Keiner rührte sich, und schließlich wandten sie sich abrupt ab, um zu gehen.

Mein Herz hämmerte, und ich donnerte: »Judah!«

Mein Zwillingsbruder erstarrte. Dann kam er zurück in die Zelle, blieb vor meinen Füßen stehen und sagte: »Du, Judah, Bruder des Propheten.« Er zeigte auf mich, und meine Pupillen weiteten sich, als ich seine Worte hörte. »Du bist des Verrats am Orden angeklagt. Du wirst in dieser Zelle eingekerkert bleiben, bis ich über deine Strafe entscheide.«

Er wandte sich ab und wollte gehen, als ich wieder brüllte: »Das kannst du nicht machen! JUDAH!!!«

Judah erstarrte mitten im Gehen, drehte sich noch einmal um und schüttelte den Kopf. »Nein, Bruder. Du bist Judah.« Er hob die Hand und zog das Band aus seinem Haar, sodass ihm die langen braunen Strähnen auf den Rücken fielen, in der Weise wie ich, der Prophet, mein Haar immer trug. »Ich bin Prophet Cain. Ich bin der vorherbestimmte Prophet des Ordens. Und ich habe einen heiligen Krieg vorzubereiten.«

Damit ging Judah, schlug die Tür zu, und die Zelle versank in Dunkelheit. Und er ließ mich zurück. Verriet seinen eigenen Zwilling. Seinen Bruder. Seine einzige verdammte Familie …

»JUDAH!«