Leon hatte den Eindruck gewonnen, dass er für den neuen Abt nicht existierte. Einerseits erleichterte ihn das, andererseits ärgerte er sich über diese absolute Nichtbeachtung, obwohl sie doch einleuchtend war. Wer war er denn schon? Von Gernod hatte er aber erfahren, dass Cellerar Arnulf dem Abt Listen sämtlicher Bewohner, also auch der Klosterknechte, hatte vorlegen müssen. Außerdem hatte sich Liudger eingehend über die zwölf Schüler, Söhne reicher Kaufleute aus der Stadt, die im Kloster Unterricht erhielten, informiert. Zu den Klosterschülern gehörte Leon, wenn auch nicht sehr regelmäßig, schließlich ebenfalls.
Ungefähr drei Wochen nach der Ankunft des neuen Abts kam Gernod mitten am Nachmittag in den Gemüsegarten. Leon pflanzte gerade Kohlsetzlinge, eine langweilige Tätigkeit. Weil Gernod strinrunzelnd neben ihm stehen blieb, gab er sich Mühe, die Kohlreihe so akurat wie möglich auszurichten, während er darüber nachdachte, was er ausgefressen haben könnte. Wann hatte er zuletzt etwas aus der Klosterküche stibitzt? Das süße weiße Brötchen fiel ihm ein, das sicher für die Tafel des Abts bestimmt gewesen war. Ja, und er hatte sich an einer Wette beteiligt, als unter den Knechten ein kleiner Faustkampf ausgetragen wurde. Gelogen hatte er auch, aber wer sollte davon wissen? Ein geradezu läppisches Sündenregister. Und deshalb sollte Bruder Gernod stirnrunzelnd auf ihn herabschauen? Allmählich wurde er doch nervös. Jetzt kam auch Willibrod herüber.
„Was ist?“, fragte er mit einem Unterton von Besorgnis.
„Wasch dir die Hände, klopf dir die Erde von den Knien und streich dir die Haare aus der Stirn. Aber rasch, wenn ich bitten darf. Du begleitest mich“, sagte Gernod an Leon gewandt und wartete, bis er außer Hörweite war, bevor er Willibrods Frage beantwortete.
Als Leon vom Brunnen in der Mitte des Gartens zurückkam, ging Willibrod kopfschüttelnd davon, irgend etwas, was Gernod ihm gesagt hatte, passte ihm nicht.
Gernod hielt es anscheinend nicht für nötig, Leon davon zu unterrichten, wohin sie unterwegs waren.
„Zu Liudger?“ fragte Leon trotz Gernods verschlossener Miene.
Der alte Apotheker nickte und ging voraus in den ersten Klosterhof.
Leons Gedanken überschlugen sich. Einige der Mönche hatten ihm ein bisschen von ihrer Unterredung mit Liudger erzählt. Daher versuchte er nun, sich zurechtzulegen, was er dem Abt über sein Leben und seine Tätigkeiten im Kloster berichten konnte. Denn danach würde er ausführlich gefragt werden, nahm er an. Da war seine Hilfe für Gernod: das Sortieren getrockneter Kräuter, ja, aber erst kam das Trocknen, und vorher die Arbeit im Kräutergarten unter Willibrods Anleitung, und später das Beschriften von Gefäßen, Abwiegen, Mischen in der Apotheke ... Leon merkte, dass sich seine Gedanken verhaspelten. Wenn er so dumm daher redete, konnte Liudger nicht viel von ihm halten. Er begann von vorn und flocht auch seine Fertigkeiten im Lesen, Schreiben, Rechnen ein und seine Lateinkenntnisse. Blieb nur noch sein nicht immer mustergültiges Betragen, aber er würde ja vor dem Abt keine Beichte ablegen müssen. Er war gerade fertig mit seinen Überlegungen, als sie das Abtzimmer im ersten Stock erreichten.
Der Raum sah etwas anders aus, als er ihn in Erinnerung hatte. Hauptsächlich wegen der jetzt sehr kargen Möblierung. Während sich zu Adelberts Zeiten auf mehreren Tischen aufgeschlagene Bücher häuften, und Bänke auf Besucher warteten, gab es jetzt nur einen schweren Eichenstuhl für Liudger, einen Tisch, eine Truhe und einen Betschemel vor dem schmucklosen Kreuz an der Wand.
Gernod musste stehen! Wenn er hätte sitzen wollen, hätte er sich mit angezogenen Beinen auf den Betschemel hocken müssen. Aber von den fehlenden Sitzmöbeln wusste er wohl schon. Die Hände in die Ärmel gesteckt, musterte er mit gelassener Miene den Abt.
Liudger erwartete ihn auf seinem Eichenstuhl sitzend und begann sofort über die ganze Raumlänge hinweg eine Unterhaltung über zwei Mönche im Krankenrevier und die Fortschritte, die ihre Genesung machte.
Von Leon nahm er nicht die geringste Notiz, und trotzdem hatte dieser das unheimliche Gefühl, unter genauer Beobachtung zu stehen. Wie nicht anders zu erwarten, waren Schnapp und Beiß anwesend. Mit ausdrucklosen Gesichtern starrten sie die Besucher an und bewegten sich so wenig, als ob sie aus Stein gehauen wären. Leon dagegen musste immer stärker gegen den Impuls ankämpfen herumzuzappeln. Unter Aufbietung seiner ganzen Konzentration gelang es ihm aber, nicht einmal von einem Fuß auf den anderen zu treten und die Hände locker an der Seite zu halten.
Auf einmal fuhr eine breite, behaarte Hand aus Schnapps Ärmel, wischte über die Nase und verschwand wieder. Leon hätte vor Erleichterung aufschreien mögen. Die beiden waren also doch ganz gewöhnliche Menschen mit ganz gewöhnlichen Regungen, wie einem Juckreiz mit etwas Reiben abzuhelfen. Wahrscheinlich mussten sie auch regelmäßig pinkeln. Der Gedanke erheiterte Leon ungemein.
In diesem Augenblick deutete Liudger mit einer Handbewegung das Ende der Unterredung an, auf die Leon kaum mehr geachtet hatte. Von ihm war jedenfalls nicht die Rede gewesen. Er war schon dabei, sich umzudrehen, um hinter Gernod den Raum zu verlassen, als Liudger wieder sprach.
„Ach ja, da ist ja noch der Junge.“
Leon fuhr zusammen.
Liudger betrachtete ihn und schwieg. Das Schweigen dehnte sich immer weiter aus und Leons Kopfhaut begann unmäßig zu kribbeln. Unauffällig schielte er an sich hinunter. Hatte er sich genügend gesäubert?
„Le-on-hard“, sagte Liudger, jede Silbe extra betonend.
Niemand im Kloster nannte Leon bei seinem vollständigen Namen, und aus dem Mund von Liudger klang er wie eine einzige Anmaßung.
„Mit dir müssen wir Uns ja auch noch befassen.“ Liudger stockte wieder und betrachtete Leon als ob er ein lästiges Insekt wäre. „Nun, was hast du mir zu sagen?“, ergänzte er mit einem Anflug von Freundlichkeit.
Hastig zählte Leon alles auf, was er sich vorher zurechtgelegt hatte. Sobald er fertig war, legte ihm Gernod die Hand auf die Schulter.
„Er ist anstellig und gelehrig“, sagte er bedacht, „es kann etwas aus ihm werden.“
Eine leichte Bekümmerung huschte über Liudgers Gesicht, als er sich vorbeugte und die Fingerspitzen aneinander legte.
„Wenn ich richtig unterrichtet bin, ist er der Sohn des Schweinehirten Swinefoot und einer Schankmagd. Du bist wie alt?“
„Dreizehn“, stotterte Leon.
„Du siehst kräftig und gesund aus. Dein Vater, der die Schweine des Klosters gehütet hat, ist vor vier Jahren gestorben und man hat dich aus Barmherzigkeit, weil auch deine Mutter längst tot ist, im Kloster behalten. Du hast keine Verwandten, zu denen du gehen kannst?“
„Außer uns hat er niemanden, der sich um ihn kümmern würde“, antwortete Gernod, bevor Leon etwas sagen konnte.
Liudger zeigte mit einer herrischen Handbewegung an, wie wenig es ihm passte, dass Gernod ungefragt das Wort ergriffen hatte.
Er behandelt einen Mann, der älter als er selbst ist, wie einen Klosterzögling, dachte Leon erbost. Adelbert hätte sich nie so verhalten, er hatte den größten Respekt vor Gernod.
Aber Gernod ließ sich nicht einschüchtern. „Du denkst doch nicht daran, ihn wegzuschicken?“ fragte er mit einer gewissen Schärfe.
Liudger musterte ihn mit einem eisigen Blick, und wieder breitete sich eine unerträgliche Stille aus.
„Ihr denkt doch nicht daran, ihn wegzuschicken“, wiederholte Gernod eine Spur leiser.
Liudger gab mit einem knappen Nicken zu verstehen, dass Gernod begriffen hatte, worauf es ihm ankam.
Ihr und kein brüderliches Du, wie es für Adelbert selbstverständlich gewesen war. Liudger demütigt Gernod!, fuhr es Leon durch den Kopf. Er legt es darauf an, einem alten und gelehrten Mönch, der hohes Ansehen in der ganzen Stadt genießt, zu zeigen, wer hier der Herr ist. Jetzt wurde ihm klar, wie Liudger mit den anderen Mönchen verfahren war, und woher die auf einmal ungute, von Ängsten beherrschte Atmosphäre im Kloster gekommen war.
„Nicht, wenn er es nicht selbst will. Es gibt, soweit ich weiß, ein Waisenhaus in der Stadt. Aber noch denken Wir nicht an das Waisenhaus.“ Plötzlich richtete er seinen Blick wieder auf Leon. „Dein Vater war ein Säufer, und er ist im Rausch in einem der Fischteiche vor der Stadt ertrunken. Und du bist nicht gerade für Wohlverhalten bekannt. Wie mir berichtet wurde, hast du eine Vorliebe fürs Herumstreunen, und dein Fleiß lässt entschieden zu wünschen übrig. Du raufst dich mit den Knechten und fluchst.“ Der Ton Liudgers wurde immer härter.
Gernod sagte nichts mehr, und Leon kroch in sich zusammen. Auf irgendeine Weise stimmte alles, was Liudger gesagt hatte, aber es war auch seltsam verdreht. Die Sache mit seinem Vater kam am ehesten hin. Ja, er war ein Trunkenbold gewesen, das wusste jeder in Stralsund, da gab’s nichts schönzureden.
„Jeder Mensch ist von Gott auf seinen Platz gestellt worden, Leonhard. Weißt du das?“ fuhr Liudger fort.
Wie betäubt nickte Leon.
„Dein Platz, Leonhard Swinefootsohn, ist sicher nicht unter Lateinschülern. Das macht dich nur überheblich und leichtsinnig. Ab morgen wirst du wie dein Vater die Schweine hüten. Draußen auf den Wiesen und in den Wäldern, die dem Kloster gehören. Da inzwischen der Frühling angebrochen ist ...“
Schweinehüten? Ungläubig schaute Leon den Abt an, der eine Weile weitersprach. Aber alles, was er noch sagte, rauschte an Leons Ohren vorbei. Schweinehüten! Draußen vor der Stadt. Ein Leben führen, das nicht besser als das der Schweine war. Wahrscheinlich sollte er den ganzen Sommer über dort bleiben und in dem Unterstand schlafen, den er von früher kannte. Das Leben eines Schweinehirten war ihm nur zu vertraut. Es war ja noch nicht so lange her, dass er für seinen Vater die Tiere zusammen getrieben hatte, wenn dieser dafür zu besoffen gewesen war. Leon sah sich schon bis zu den Knöcheln im Schweinekot waten.
„... du wirst Demut lernen, bis Wir etwas anderes mit dir vorhaben. Sieh es als Prüfung an“, schloss Liudger unerbittlich.
Dann stand Leon mit Gernod wieder draußen vor der Tür und merkte, wie ihm die Beine zitterten.
„Ich hab nicht alles verstanden“, krächzte er. „Kein Unterricht mehr bei dir und in der Schule? Ist das richtig? Für wie lange? Irgendwie klang es nach für immer. Stimmt doch, nicht? Ich muss bei den Schweinen bleiben, bis ich graue Haare kriege.“ Er schluchzte auf.
Gernod packte ihn am Arm und schleifte ihn fast mit sich. „Wir unterhalten uns später, sei jetzt still. Einer von den Spürhunden ist hinter uns“, zischte er.
Leon wagte nicht einmal, über die Schulter zurückzuschauen. Sie durchquerten schweigend den ersten Klosterhof, gingen an der Treppe zum Dormitorium, dem Schlafsaal der Mönche, vorbei, durch den großen Wirtschaftshof und zu einer Pforte in den Kräutergarten, wo in einem Winkel Gernods Apotheke lag. Erst jetzt wandte sich Leon um und sah gerade noch, wie eine kräftige Gestalt gegenüber kehrt machte und verschwand. Beiß, der größere, vermutete er.