7

Zwei Tage nach der Amtseinführung holte ein Knecht Leon von den Schweinewiesen. Groot begleitete sie ein Stück, musste aber dann zurückbleiben. Leon kraulte ihn zum Abschied und verließ ihn leichten Herzens. Groot schnüffelte traurig.

„Darf ich zurück ins Kloster?“, erkundigte sich Leon hoffnungsvoll.

„Das hat man mir nicht gesagt“, antwortete der Knecht. „Ich soll dich bloß holen.“

„Wer hat nach mir geschickt?“

Der Knecht antwortete nicht. Schweigend legten sich den Weg ins Kloster zurück. Leon steuerte auf seine alte Unterkunft zu, aber der Knecht winkte ihn weiter. Zu seiner Überraschung ging er zur Apotheke voran.

Leon riss mit Schwung die Tür auf.

„Gernod, ich ...“, er stockte.

„Setz dich!“, wies ihn Gernod knapp an. „Und damit du gleich Bescheid weißt: Du bist nur hier, um etwas für mich zu erledigen.“

Leons gerade noch strahlende Laune sank.

„Nimm die Schreibtafel zur Hand.“

An einer Kerbe im Rand erkannte Leon die Tafel: Es war seine. Und da lag auch die Lateinfibel.

„Du gibst mir wieder Unterricht?“ fragte er begierig.

„Es gibt keinen Unterricht mehr für dich, wie du weißt. Ich werde dir lediglich einen Brief diktieren. Selbstverständlich auf Latein. Und zuvor wirst du dich warmschreiben. Ich nehme an, der Umgang mit den Schweinen hat deine Schreibfertigkeiten ein wenig einrosten lassen.“

Was war es dann, wenn es kein Unterricht sein sollte, was Gernod mit ihm veranstaltete?, fragte sich Leon nach einer Weile. Er schrieb nach Diktat lateinische Wörter auf, deren Bedeutung Gernod wie nebenbei erwähnte, und die er leise wiederholte. Ab und zu kam Gernod an den Tisch und schüttelte missbilligend den Kopf.

„Deine Schrift ist abscheulich. Geht das nicht ordentlicher? Merz das Gekrakel aus, und dann fangen wir von vorne an. Wenn du so schlecht schreibst, kann ich dir keinen Brief nach Rügen diktieren. Ich müsste mich ja schämen. Und am besten redest du nicht hierüber.“ Gernod deutete auf die Tafel.

„Hast du sie für mich geholt?“, fragte Leon. Insgeheim fragte er sich, warum er diesen Brief schreiben sollte. Bisher hatte der Apotheker seine Korrespondenz stets selbst erledigt. Als ob er die Frage ahnte, massierte sich Gernod das rechte Handgelenk, gab aber keine Erklärung über eine Zerrung oder Verstauchung ab, an der er vielleicht litt.

„Dein Strohsack ist jetzt jemand anders zugeteilt. Ich hab die Sachen zu mir bringen lassen. Sie bleiben hier, bis ich mich entscheide, wem ich sie geben soll“, sagte er streng. „Du hast ja eigentlich keine Verwendung mehr dafür.“

Die Tafel war kein Geschenk, sondern nur eine Leihgabe gewesen!

Leon beschloss, lieber nichts mehr zu sagen, er war ja froh, hier zu sein, wenn auch nur für wenige Stunden. Zu schnell verging die Zeit, und er musste wieder aufbrechen. Wieso hatte er den Lateinunterricht früher nicht so genossen?, fragte er sich verwundert.

„Bevor du gehst, lass dich bei Willibrod sehen. Ich hab ihm eine Liste der Kräuter gegeben, die ich für meine Arzneien brauche. Einige davon wachsen auf den Schweinewiesen. Besprich mit ihm, welche.“

Nach dem Besuch bei Willibrod trieb sich Leon noch eine Weile im Kloster herum, vermied es aber, jemandem dabei zu begegnen. Willibrod hatte ihn ermahnt, sofort auf die Schweinewiesen zurückzukehren. Er hatte besorgt geklungen. Das regte Leon auf. War er im Kloster jetzt gänzlich unerwünscht? Zum Schluss kam er auf die Idee, in die Kirche zu gehen, gab das Vorhaben aber auf, als er bemerkte, dass jemand in der Kirche war. Er hatte die Seitentür vom Klosterhof aufgezogen und hörte Schritte. Rasch schloss er die Tür wieder und lief davon.

Leon saß über seine Wachstafel gebeugt und versuchte zu verstehen, was Gernod ihm diktierte. Natürlich Latein. Nur kam ihm kein Wort davon bekannt vor.

„Leon!“ Gernod sah ihn wütend an. „Warum schreibst du nicht?“

„Ich ...“, stotterte Leon verwirrt.

Gernod boxte ihn schmerzhaft in die Rippen. Das war noch nie vorgekommen. Die eine oder andere Ohrfeige hatte es gegeben, aber nie mehr.

„Leon!“ Die Stimme klang anders als sonst. Tiefer. „Faul, ungehorsam und jetzt auch noch dumm. Wenn ich mit dir nichts anfangen kann, gehörst du wirklich zu den Schweinen.“ Wieder traf Leon ein Schlag in die Seite. Er versuchte sich wegzudrehen und merkte, dass er lag.

Wo war die Wachstafel?

Verwirrt riss er die Augen auf. Jemand beugte sich über ihn, er starrte in ein fremdes Gesicht und spürte gleichzeitig die dünne Streuschicht unter sich.

Beiß! Liudgers Bluthund. Was machte er hier?

Neben Leon regten sich die beiden Knechte, mit denen er die Hütte bei den Schweinen bewohnte. Er hatte von Gernod nur geträumt. Aber die Schmerzen in der Seite waren real. Die bildete er sich nicht ein.

„Wird’s bald?“ Leon hatte Beiß noch nie reden gehört, ging ihm auf. Eine Stimme, die an rostiges Eisen erinnerte. Wahrscheinlich redete der Mann nie viel.

Gerade noch rechtzeitig, bekam Leon eine Bewegung mit, konnte sich halb herumrollen und einem weiteren Tritt ausweichen. Jemand erschien hinter Beiß und zog ihn am Arm zurück.

„Er ist jetzt wach!“ Es war einer von Witzlafs Wachsoldaten. Ein zweiter lugte in die Unterkunft, er kam nicht herein, denn dafür war die Hütte zu winzig.

„Steh auf!“ sagte die erste Wache ruhig.

„Was’n los?“ fragte einer der Knechte schlaftrunken.

Ein Blick durch die offene Tür sagte Leon, dass draußen gerade der Tag anbrach. Langsam drangen die Geräusche des frühen Morgens in sein Bewusstsein. Ein Schwein schrie, Vögel zwitscherten. Alles wie sonst. Wenn nicht Beiß und die Wachen ...

Was wollten sie hier? Inzwischen waren die Knechte aufgestanden und rollten ihre Decken zusammen, während sie verstohlene Blicke um sich warfen. Sie wussten ja auch nicht, was da über sie gekommen war.

„Durchsucht alles!“ raunzte Beiß.

Die Wachen winkten die Knechte hinaus. Leon wollte ihnen folgen, aber Beiß fasste ihn am Arm.

„Du bleibst!“

Dann musste er zusehen, wie die Wachen die Streu auseinanderzerrten. Eine wahre Staubwolke stob auf, so dass alle nießen mussten. Bis auf Beiß. Er hielt sich die Hand über die Nase, lockerte aber nicht den schmerzhaften Griff um Leons Arm. Erst hatte sich Leon wehren wollen, aber schließlich hielt er einfach still. Das schien ihm im Augenblick das Beste, obwohl ihm längst flau zumute war. Nachdem sie mit der Streu fertig waren, nahmen sich die Wachen jeden Winkel der Hütte vor und kramten alles durch. Nur dass es nicht viel zu kramen gab. Sie gossen sogar das Wasser aus dem Krug, das war ärgerlich. Leon spürte Durst, sein Mund war trocken.

Die Feindseligkeit, die Beiß an den Tag legte, kümmerte ihn weniger als das Verhalten der Wachen. Immer wieder streiften ihn ihre Blicke. Beide kannten ihn sehr gut, taten aber jetzt so, als hätte er noch nie ein freundschaftliches Wort mit ihnen gewechselt. Vor lauter Staunen blieb er stumm. Sie behandelten ihn wie? Leon überlegte. Wie einen Verdächtigen! Aber was sollte er getan haben? Was sollte die Durchsuchung der Hütte?

„Wo hast du’s?“ Beiß schüttelte ihn.

„Was?“ fragte Leon verblüfft.

„Er leugnet. Wie Abt Liudger es sich gedacht hat. Der Junge ist von Satan befallen, nur jemand, der vom Teufel befallen ist ...“ Die heisere Stimme von Beiß begann Leon aufzuregen, jedes Wort empörte ihn.

 „Ist schon gut, Pater“, wandte eine der Wachen ein. „Wir werden der Sache auf den Grund gehen, schön der Reihe nach.“ Mit einer Kopfbewegung bedeutete er Leon, die Hütte zu verlassen.

Leon taumelte ins Freie. Die Sonne war aufgegangen, eine dunstige Sonne, die dennoch das Gras funkeln ließ. Tief sog er die frische Luft ein, als könnte dadurch der Alptraum, in dem er sich befand, vergehen.

Beiß trat hinter ihm aus der Hütte und wandte sich sofort an die nachfolgenden Wachen.

„Ihr bindet ihn besser.“

Da dachte Leon erstmals an Flucht. Panik überkam ihn. Er wich rückwärts aus, alle im Auge behaltend. Auf gar keinen Fall würde er sich die Hände binden lassen, von niemandem, nicht einmal, wenn er annehmen konnte, dass alles nur ein Irrtum war. Die Wachen hatten in der Hütte nichts gefunden, was dort nicht hingehörte – bis auf eine leere Schnapskruke der Knechte, aber die lag schon seit einer Woche in der Ecke. Eine fette Spinne war daraus hervorgekrochen.

Ein paar Meter lagen jetzt zwischen Beiß und ihm.

Beiß streckte den Arm aus und deutete auf ihn. „Fasst ihn, bevor er davonläuft!“

Die Wachen zögerten, dafür ging Beiß drohend auf ihn zu.

Aus den Augenwinkeln sah Leon eine riesige Masse von der Seite herankommen.

Groot!

Der Eber stieß einen durchdringenden Schrei aus und stürmte auf Beiß zu. Die Überraschung war perfekt. Der Mönch konnte nicht mehr ausweichen und wurde seitlich gerammt.

Vor der Hütte erstreckte sich eine kahle Stelle ohne Gras, die bis zu einer kleinen Kuhle reichte, in der auch im Sommer noch ein bisschen Wasser stand. Es war Groots Lieblingssuhle. Und jetzt lag Beiß darin. Er versuchte sich aufzurappeln, das Gesicht mit Schlamm beschmiert. In großen Placken fiel er ihm vom Kopf. Unwillkürlich musste Leon grinsen. Eine wilde Freude durchzuckte ihn.

Groot senkte den mächtigen Kopf und machte sich für den nächsten Angriff bereit.

Die Knechte, die jetzt herbeirannten, schrien vor Schreck und Entsetzen.

„Halt ihn auf, Leon!“ rief ihm einer von ihnen zu.

Aufhalten? Groot? Es erschien Leon viel vernünftiger, Groot nicht dazwischen zu funken. Beiß war genau dort, wo er ihn gern sah.

Groots Hauer ragten furchterregend lang und scharf vorn aus seiner Schnauze. Tödliche Waffen! Der Eber war stinkwütend. Niemand würde ihn aufhalten. Die Wachen zogen ihre Schwerter. Den verzerrten Mienen sah Leon an, dass die Männer genau wussten, wie wenig ihnen diese Waffen nützen würden. Gegen einen wild gewordenen ausgewachsenen Eber hätten sie Sauspieße gebraucht. Groot würde sie alle fertigmachen, Leon brauchte nur zuzuschauen.

Winselnd kroch Beiß tiefer in die Kuhle und duckte sich in den Schlamm, während er mit einer Hand in seiner Kutte wühlte.

Groot schnaubte.

„Leon!“ schrie einer von den Wachen.

Da kam Leon zur Besinnung.

„Groot!“ Langsam ging er auf den Eber zu. „Groot“, wiederholte er ruhiger. „Komm her, mein Freund.“

Unwillig schüttelte das Tier den mächtigen Kopf.

„Grooot.“ Leon streckte die Hand aus und merkte, dass die Hand zitterte. Mit einem Grunzen wandte sich der Eber von der Kuhle ab. Seine Hauer wiesen genau auf Leon.

Würde Groot jetzt ihn angreifen? Denkbar war es.

Groot schielte zu Leon und schien zu überlegen, was er machen sollte.

„Komm“, sagte Leon mit nicht sehr fester Stimme.

Gemächlich drehte sich Groot vollends um und verharrte einen Augenblick. Seine Augen schimmerten rot vor Angriffslust.

Etwas schnürte Leon die Kehle zu, er musste sich räuspern.

Als er das Tier dann noch einmal rief, trottete es auf ihn zu. Unausweichlich rückten die Hauer näher und näher. Noch nie waren sie Leon so lang und so gefährlich vorgekommen. Es war ihm fast, als konnte er schon spüren, wie sie tief in seinen Bauch eindrangen.

Bebend blieb er stehen, ganz auf den furchterregenden Muskelberg konzentriert, in den sich Groot verwandelt hatte. Wie konnte er nur so dumm sein, sich einzumischen? Zum Weglaufen war es jetzt zu spät.

Groot fiel in einen kurzen Galopp, seine Klauen wirbelten den Dreck auf. Im letzten Augenblick wich Leon ein Stück zur Seite. Aber Groot stoppte genau neben ihm und stupste ihn so sacht an, wie er es nie für möglich gehalten hatte. Als wollte ihn der Eber fragen, warum willst du mir bloß den Spaß verderben?, schaute er zu ihm auf und blinzelte.

Wenig später hatte ihn Leon in einen separaten Pferch gesperrt.

Eine der Wachen war in einigem Abstand gefolgt, so dass Leon nichts anderes übrig blieb, als mit dem Mann zu den anderen zurückzukehren.

Beiß wischte grimmig den Dreck von seiner durchweichten Kutte.

„Können wir jetzt gehen?“ fragte die zweite Wache gleichmütig.

Vom Binden der Hände war nicht mehr die Rede. Hilflos, mit hängenden Armen sahen die Knechte zu, wie Leon mit den Wachen und Liudgers Gefolgsmann die Schweinewiesen verließ. Einmal schaute sich Leon nach ihnen um und bemerkte, wie ihm einer von ihnen ein Zeichen machte.

Auf dem Weg zum Kloster versuchte er herauszufinden, warum man ihn abgeholt hatte, aber niemand ging auf seine Erkundigungen ein. Anscheinend hatten die Wachen ihre Anweisungen erhalten, und Beiß ignorierte einfach die Fragen.

Am Tor glotzte der Pförtner überrascht, als er den verdreckten Beiß sah. Neben ihm stand Schnapp. Er begann sofort in einer fremden Sprache leise auf Beiß einzureden, der sehr einsilbig antwortete. Als wäre er nicht über und über mit Schlamm besudelt, ging er aufrecht zum Amtszimmer des Abts voran.

Auf einmal fiel Leon ein, wie Beiß in der Schweinesuhle gelegen hatte, und in seiner Kutte nach etwas getastet hatte. Er hatte die Bewegung genau vor Augen und versuchte, sie nachzuvollziehen. Da ging ihm auf, was die Bewegung zu bedeuten hatte: Beiß trug ein Messer bei sich.

Er ließ Leon und die Wachen draußen warten, während er zum Abt hineinging. Schnapp blieb mit vor der Tür, wahrscheinlich sollte er verhindern, dass Leon mit den Wachen sprach. Bald darauf war der Moment gekommen, wo Leon dem Abt gegenüber zu treten hatte.

Liudger saß an seinem Arbeitstisch, und außer ihm war noch Witzlaf anwesend. Der Vogt persönlich hatte sich herbemüht, Liudger musste ihn verständigt haben. Nur weshalb?

Wie schon bei Leons erster Begegnung mit dem Abt schwieg Liudger eine ganze Weile, in der er ihn nur forschend betrachtete.

„Nun?“ sagte er schließlich. „Willst du nicht gestehen?“

Gerade noch war Leon vor allem zornig gewesen, aber jetzt befiel ihn Furcht. Annas Vater hatte ihn nicht einmal begrüßt, er fühlte sich von lauter Fremden und Feinden umgeben. Er kannte sich nicht mehr aus. Was, um Himmels willen, sollte er gestehen?

„Ich glaube“, stieß er unbedacht hervor, „wenn mir nicht endlich jemand sagt, was los ist, werde ich noch verrückt.“

Über Witzlafs Gesicht huschte so rasch ein Grinsen, dass er es beinahe nicht mitbekommen hätte. Als würde er sich dieser Regung schämen, sah der Vogt danach noch grimmiger als vorher drein. Leon hatte keinen Grund, sich erleichtert zu fühlen.

„Leugnest du, gestern hier im Kloster gewesen zu sein?“ fragte Liudger ruhig.

Leon schluckte. Er dachte an Gernod und Willibrod. Würde er sie in etwas Unangenehmes oder Verdächtiges hineinziehen? Sollte er seinen Besuch abstreiten? Wer außer den beiden hatte ihn gesehen?

Unsicher hob er die Schultern und ließ sie wieder sinken. „Nein, ich war hier.“

Ein mildes Lächeln erhellte Liudgers Miene. „Es ist dein Glück, dass du dich geständig zeigst. Denn du bist gesehen worden, es gibt jemanden, der deine Anwesenheit bezeugen kann.“

Mehr als einen, dachte Leon aufsässig. Ging’s nur darum? Um einen unerlaubten Besuch im Kloster? Fast hätte er aufgelacht. Aber bestimmt war das keine Sache, um die sich der Vogt kümmerte, fiel ihm ein und schielte zu ihm hinüber. Er musste weiter auf der Hut bleiben.

„Du bist“, fuhr Liudger mit leiser Stimme fort, „ins Kloster gekommen, obwohl Wir dir ausdrücklich befohlen haben, deinen Platz draußen bei den Schweinen nicht zu verlassen. Du warst ungehorsam.“ Liudger blickte zu Witzlaf und hob leicht die Hand, als wollte er sagen: Siehst du, er ist ein nichtswürdiger Bursche, den Wir zu recht verbannt haben.

Leon schwieg. Was gab’s dazu noch zu sagen? Aber Liudger war noch lange nicht fertig.

„Du hast dich überall herumgetrieben und warst schließlich in der Kirche.“

Er sah ihn an, als erwartete er eine Bestätigung. Beinahe hätte Leon genickt. Aber, halt!

„Ich war nicht in der Kirche“, sagte er fest.

„Du bist gesehen worden“, widersprach Liudger.

Leon überlegte fieberhaft, aber jetzt mischte sich Witzlaf ungeduldig ein. „Beim Fest der Amtseinführung bist du jedenfalls abends in der Kirche gewesen.“

Bevor Leon etwas darauf entgegnen konnte, funkelte Liudger den Vogt an. „Mein Sohn, Wir führen hier die Befragung. In diesem Kloster liegt vieles im Argen. Uns ist eine schwere Aufgabe übertragen worden, vor der Wir uns aber nicht fürchten. Halte dich zurück.“

Witzlafs Gesicht rötete sich, er war es nicht gewöhnt, zurechtgewiesen zu werden.

Liudger wandte sich wieder an Leon. „Du bist also gestern abend nicht zum erstenmal ungehorsam gewesen. Wieso warst du vor zwei Tagen in der Kirche?“

Allmählich erfüllte Leon immer stärker Erbitterung. Er war keine Maus, mit der Liudger wie eine Katze spielen konnte.

„Ich kam zum Beten. Bisher bin ich immer zum Beten in die Kirche gegangen, ich wusste nicht, dass mir das nicht mehr erlaubt ist.“

„Du betest?“, Liudger zog die Augenbrauen hoch.

„Ich bete vor dem Heilig-Blut-Kreuz“, sagte Leon trotzig. „Oft!“

„Das scheint mir keine Sünde zu sein“, warf Witzlaf ein.

Liudger überhörte den Einwurf. „Am Festabend hast du sicher das Kreuz auf dem Altar gesehen. Das silberne Emailkreuz.“

„Ja“, gab Leon verwundert zu. „Jeder hat es gesehen.“

„Und wo ist es jetzt?“, fragte Liudger schneidend.

Langsam dämmerte Leon einiges.

„Ich nehme an, in der Sakristei. Dort ist es immer, wenn es nicht gebraucht wird.“

„Nein“, sagte Liudger bestimmt, „es ist nicht in der Sakristei, und es deutet alles darauf hin, dass ein Junge, der sich der Klosterdisziplin nicht fügen will, es aus niederen Beweggründen entwendet hat.“

„Wer?“, rief Leon.

„Hast du das Kreuz gestohlen, Leon?“, fragte Witzlaf eindringlich.

Leon spürte, wie er blass wurde.

„Du bist gestern in die Kirche eingedrungen und hast das Kreuz genommen. Wo ist es? Wann hast du es genommen? Wann genau warst du gestern in der Kirche? Warum ...“ Liudger ließ die Fragen so schnell auf ihn herabprasseln, dass Leon kaum antworten konnte, und sich immer stärker verhaspelte. „Ich habe nicht ..., ich war gestern gar nicht, nur  ...“, stotterte er dazwischen. Den Gesichtern sah er an, dass ihm keiner glaubte.

Nach einer halben Stunde wusste er nicht mehr, was er gesagt oder schon zugegeben hatte. Liudgers Fragen drehten sich in seinem Kopf wie Mühlräder und zermahlten seine Erinnerungen. Jedenfalls beinahe. Er hatte gestern um ein Haar die Kirche betreten, fiel ihm irgendwann ein, er hatte die Türklinke schon in der Hand gehabt. Und dann?

Fest stand, jemand hatte ihn gestern gesehen. Sicher Beiß. Wer auch sonst? Aber Wann? Beiß trat als Zeuge auf. Immer noch nach Schlamm und Schweinen stinkend, behauptete er steif und fest, Leon in der Kirche gesehen zu haben, wenn auch nicht direkt mit dem Kreuz in der Hand. Liudger schickte Schnapp fort, nach einer Weile kam er mit einem Novizen zurück. Der Junge war kaum zwei Jahre älter als Leon und schaute furchtsam drein. Liudger befragte ihn. Der Novize bezeugte, dass das Kreuz auf dem Altar gestanden hatte, als er eine Kerze entzündet hatte. Das war kurz, bevor Leon die Kirche betreten haben musste. Die Mönche hatten das Kreuz dort gelassen, es war noch nicht in die Sakristei zurückgebracht worden. Wenig später war es verschwunden, auch das sagte der Novize aus. Er war ausgeschickt worden, es zu holen. Da hatte es gerade zum ersten Abendgebet geläutet.

Nahm man die Aussage von Beiß und die des Novizen zusammen, sah es schlecht für Leon aus. Zu diesem Schluss musste auch Witzlaf gekommen sein, denn jetzt wiederholte er einige Fragen des Abtes. Ruhig und methodisch, und gerade das machte Leon Angst. Glaubte Witzlaf ernsthaft, dass er der Dieb sein könnte? Er war etliche Male in seinem Haus gewesen und hatte nie etwas von all den schönen und wertvollen Dingen darin angerührt. Wenn Witzlaf ihn eines Diebstahls für fähig hielt, war er so gut wie verurteilt.

Leon hatte das Gefühl, eine Schlinge lege sich um seinen Hals. Am Ende gab Witzlaf einer der Wachen, die dem ganzen Verhör beigewohnt hatten, ein Zeichen. Der Mann hatte auf einmal einen Strick in der Hand.

Leon sank das Herz in die Hose. Sie waren dabei, ihn festzunehmen. Wahrscheinlich würde er in das Gefängnis im Unterschoss des Rathauses gesteckt werden. Manchmal, wenn er durch die Stadt gestromert war, hatte er von dort Schreie gehört. Ganz kalt wurde ihm. Wie gehetzt flog sein Blick von einem zum anderen. In den Augen von Beiß las er Triumph, Liudgers Miene blieb undurchsichtig und seine rechte Hand, die sich eine Weile um ein Tintenfässchen auf dem Tisch gekrampft hatte, entspannte sich. Die Wachen und der Novize wichen Leons Blick aus. Witzlafs Blick war forschend.

Auf einmal sprang die Tür auf, und Willibrod stapfte herein.

„Am Tor sagte mir der Pförtner, er wäre noch hier, sie hätten ihn noch nicht weggebracht. Da ist er ja!“ Er deutete auf Leon und wandte sich nun direkt an Witzlaf. „Was hat der Junge ausgefressen?“

„Respekt!“ Liudger hatte sich halb von seinem Stuhl erhoben und ließ sich wieder zurücksinken. „Ihr bitte mir Respekt aus, Bruder Willibrod.“

Willibrod beugte das Knie und senkte den Kopf. „Entschuldigt. Ich habe mich hinreißen lassen. Ich wollte Euch nicht den nötigen Respekt versagen.“

„Leon war gestern gegen Abend in der Kirche und hat das kleine Emailkreuz, das seit der Feier auf dem Altar stand, entwendet. So lautet zumindest die Anklage“, erklärte Witzlaf bedächtig. „Wir nehmen ihn jetzt mit“ setzte er hinzu. „Denn die Anklage ist genügend durch Zeugenaussagen untermauert. Das Geständnis, das wir brauchen, um absolute Sicherheit zu erlangen ...“

„Was sagst du?“ Willibrod fuhr zu ihm herum. „Gestern abend?“

„Bruder Willibrod!“ Liudger schlug mit der Hand, in der er das Tintenfass gehalten hatte, auf den Tisch. „Ich verbitte mir diese Einmischung.“

Schnapp näherte sich dem Bruder Gärtner und nahm die Hände aus den Kuttenärmeln.

„Komm mir nicht zu nahe“, murmelte Willibrod unbeeindruckt.

„Leon war nicht in der Kirche“, dröhnte er. „Ich muss es ja schließlich wissen.“

Witzlafs Augen blitzten freudig auf, dann hatte sich der Vogt wieder in der Gewalt. Mit strenger Miene sah er Willibrod an.

„Was sagst du da?“

„Gestern habe ich Leon kommen lassen und einige Stunden mit ihm verbracht. Wir haben gearbeitet. Er hatte keine Zeit, in die Kirche zu gehen, ich hab ihn erst lange nach dem Vesperläuten entlassen, danach ist er sofort auf die Schweinewiesen zurückgekehrt, um nicht das Abendessen mit den anderen Knechten zu verpassen.“

Die Wache mit dem Strick war zurückgetreten. Leon wagte noch nicht an einen guten Ausgang der Sache zu glauben. Vor allem mit Willibrods Aussage kam er gar nicht klar. Sie war größtenteils eine Lüge.

Liudger verzog schmerzlich das Gesicht. „Also nicht nur der Junge widersetzt sich meinen Anordnungen, sondern auch du, Bruder Willibrod, der es besser wissen müsste. Oder sollte dir nicht bekannt sein, wie ich über Leonhard verfügt habe?“

„Gewiss“, antwortete Willibrod. „Der Junge dient uns jetzt außerhalb bei den Schweinen.“

„Und warum hast du ihn dann ins Kloster beordert?“

„Wegen der Kräuter. Es ist die Zeit der Wiesenkräuter. Ich habe von Gernod eine ellenlange Liste von Kräutern erhalten, die in diesem Frühjahr gesammelt werden müssen. Das ist Leons Aufgabe. Ich bin mit ihm die Liste durchgegangen und hab mich vergewissert, dass er alles richtig verstanden hat. Die Kräuter sind empfindlich, jedes braucht seine besondere Behandlung. Wieso erstaunt Euch das?“

„Kerbel gibt es noch nicht“, warf Leon ein. Er wusste zwar nicht genau, welches Spiel Willibrod spielte, aber er wollte es mitspielen.

Jetzt grinste Witzlaf wirklich.

Willibrod breitete die Arme aus. „Niemand hat mir gesagt, dass Leon unter keinen Umständen mehr das Kloster betreten darf. Was war also falsch daran, dass ich ihn hab kommen lassen?“

Witzlaf räusperte sich. „Das scheinen mir mehr interne Angelegenheiten zu sein. Bruder Willibrods Aussage über Leons Besuch im Kloster gestern genügt mir, um ihn vom Verdacht frei zu sprechen. Wir müssen den Dieb woanders suchen. Vertraut mir, Abt Liudger. Meine Aufgabe, über dem Kloster zu wachen, nehme ich sehr ernst. Aber an eine Schuld Leons zu glauben, wäre mir schwer gefallen. Was sollte er mit dem Kreuz anfangen? So weit ich weiß, hat er keine Verbindungen zu unredlichen russischen oder Lübecker Händlern, um es über sie abzusetzen.“

Es war Zufall, dass Leon gerade Beiß beobachtete und das Zucken in seinem Gesicht bemerkte. Witzlaf hatte an etwas Bedeutsames gerührt.

Kurze Zeit darauf entließ Liudger Leon und Willibrod mit einigen knappen Ermahnungen, als wenn er die ganze Angelegenheit auf einmal leid sei. Richtig müde sah er aus, geradezu fahl.

Witzlaf kam mit hinaus, seine Wachen folgten ihm.

„Dumme Sache, das mit dem Kreuz“, sagte er. „Ein unglückseliges Vorkommnis gleich zu Anfang der Amtszeit des neuen Abts. Das macht es ihm nicht leichter. Wir alle haben Adelbert geliebt, gerade deshalb hat es sein Nachfolger schwer.“

Willibrod blieb stehen, um Witzlaf zu verabschieden. „Wir müssen alle Geduld miteinander haben. Wo gedenkst du jetzt nach dem Kreuz zu suchen?“

„Nicht im Kloster.“ Witzlaf deutete eine Verneigung an und ging.