Gernod wartete, bis er sicher sein konnte, dass Leon wirklich gegangen war und nicht am Fenster oder der Tür lauschte, was er durchaus für möglich hielt. Deshalb unterhielt er sich erst über etwas anderes mit Willibrod, bevor er zur Sache kam.
„Ich weiß nicht, ob es richtig war, Leon mit diesem speziellen Auftrag wegzuschicken. In Gefahr ist er so schon. Was meinst du? Sind wir leichtfertig?“
„Es steht ja etwas mehr auf dem Spiel als Leons Schicksal“, gab Willibrod zurück. „Du bist also sicher, dass er jemandem in die Quere gekommen ist und aus dem Weg geschafft werden sollte. Sie werden es wieder versuchen, das ist das, was mir Sorgen macht. Im Übrigen denke ich, er ist gewarnt und verhält sich vorsichtig. Außerdem haben wir keine Wahl. Wir können nicht selbst herumspionieren, wir fallen eher auf als er, wenn wir es versuchten.“
„Schon gut!“ Gernod stellte zwei Becher mit verdünntem Bier auf den Tisch und holte etwas trockenes Brot. Das war ihr Mittagsmahl. Die beiden hatten beschlossen, nicht mit den anderen Mönchen im Refektorium zu speisen und die Zeit zu nutzen, sich einen Plan zurechtzulegen. Abt Liudger würde sicher mit den Rügenern zusammen essen, so würde ihm ihre Abwesenheit nicht auffallen. Auf dem Tisch lagen immer noch die Briefe, die Gernod in den vergangenen Jahren aus Danzig erhalten hatte. Wichtige Briefe, deren eigentliches Geheimnis er noch nicht entschlüsselt hatte. Dabei kannte er die Briefe schon beinahe auswendig, so oft hatte er sie gelesen.
Am Abend gingen er und Willibrod in den Kapitelsaal. Es fand eine der regelmäßigen Versammlungen statt, auf der Klosterangelegenheiten besprochen wurden.
Der Kapitelsaal war quadratisch und hatte eine gewölbte Decke. Eingebaute steinerne Bänke liefen ringsum an den Wänden entlang. Dort saßen die Mönche einer neben dem anderen, so dass jeder jeden sehen und ansprechen konnte. Um zu zeigen, dass in der Versammlung keiner über dem anderen stand und alle die gleiche Stimme hatten, saß niemand bevorzugt. Bei diesen Treffen wurde auch über Verstöße gegen die Klosterregeln gesprochen und es wurden Strafen bestimmt. Entweder ein Mönch bekannte sich von sich aus schuldig, oder er wurde von einem anderen eines Vergehens bezichtigt, um ihm Gelegenheit zur Reue zu geben. Diese öffentlichen Verhandlungen dienten dazu, die Mitglieder der Klostergemeinschaft Demut zu lehren. Gernod war gespannt, ob Liudger Leon erwähnen würde, und dass sich Willibrod die Anordnung des Abts zurechtgebogen hatte, als er den Jungen zu sich bestellt hatte. Und in Wirklichkeit waren sie es ja beide gewesen.
Einige Mönche zeigten sich tief erschüttert durch den Diebstahl des Kreuzes, das kam Gernod sehr gelegen. Geschickt brachte er vor, dass es auch noch hätte schlimmer kommen können. Als den anderen dämmerte, was er damit meinte, erschreckte es sie noch mehr. Danach hatten es Gernod und Willibrod leicht, eine bestimmte Idee den anderen zu vermitteln, ohne dass sie allzu deutlich wurden. Außer Liudger selbst nahmen ja auch Beiß und Schnapp an der Versammlung teil, obwohl sie nicht offiziell zum Kloster gehörten. Sie waren nur Gäste. Und wahrscheinlich fragten sich viele der Mönche, die die beiden nicht gerade freundlich betrachteten, wie lange sie noch blieben. Einer erkundigte sich direkt, ob das Kloster in Danzig sie nicht längst vermissen würde. Darauf gab weder Beiß noch Schnapp eine Antwort.
„Vielleicht sollte einer von uns mal nach Danzig schreiben?“, nuschelte Willibrod so leise, dass nur Gernod ihn verstehen konnte.
„Ja“, sagte Gernod, „daran habe ich schon gedacht. Nun warte ich auf eine Antwort auf meinen Brief.“
Beinahe hätte Willibrod vor Überraschung etwas zu laut darauf reagiert.
„Du mit deinen Heimlichkeiten!“
„Sei still, Bruder!“, zischte jemand.
Jetzt kamen die Vergehen zur Sprache. Gernod machte sich auf Unangenehmes gefasst, als sich Liudgers Blick wohl kaum zufällig als erstes auf Willibrod richtete.