Nach dem Morgengebet erhielt Gernod eine Nachricht von Jaromir, dass Leon unauffindbar sei. Sofort suchte er die Kneipe auf und befragte den Wirt, um herauszufinden, was dieser wusste. Jaromir war dahinter gekommen, dass Vorräte fehlten: unter anderem ein größeres Stück Käse, eine harte Wurst und Brot. Am Ende des Gesprächs bestand kaum ein Zweifel, dass Leon heimlich die Stadt verlassen hatte. Gegen Mittag erfuhr Gernod von Witzlaf, der ihn persönlich aufsuchte, dass auch Anna verschwunden war. Der Vogt versprach, seine Männer nach den beiden auszuschicken. Er war sehr wütend auf Leon, da er davon ausging, dass er es war, der Anna zu etwas Waghalsigem und Gefährlichem überredet hatte. Die beiden hatten doch keine Ahnung, wie es auf den Straßen zuging. Die Angst um seine Tochter stand Witzlaf deutlich ins Gesicht geschrieben.
Flüchtig überlegte Gernod, ob er ihn über seinen Verdacht gegen Liudger unterrichten sollte. Er ließ es dann aber sein, weil er annahm, Witzlaf nicht überzeugen zu können. Ihm waren ja selbst Zweifel gekommen. Denn Liudger benahm sich vorbildlich. Der Abt hatte alle Mönche aufgefordert, so viel Zeit wie möglich in der Kirche zu verbringen und für Leon zu beten. Mit der Kraft des Gebets sollte der Jungen auf den rechten Weg zurückgeführt werden. Es war geradezu anrührend, wie Liudger über eine verirrte Seele sprach. Selbst Willibrod zeigte sich beeindruckt.
Gegen Abend änderte sich seine Meinung, als Liudger die Mönche wieder in den Kapitelsaal bat. Der Abt erinnerte die Versammlung daran, dass die Dominikaner ein Armutsgelübte abgelegt hatten und dass jeder wertvolle Besitz eigentlich gegen diese Klosterregel verstoße. Die letzten Ereignisse bestätigten ja, welches Unheil Besitz heraufbeschwor. Es wurde dringend Zeit, dass alle ihre Gedanken wieder davon abwandten. Am Ende seiner Rede schlug er vor, den Schrein aufzubrechen, um das Bergkristallkreuz in Sicherheit zu bringen. Nur damit sich niemand mehr Sorgen darum machte, bis der Dieb der beiden anderen Kostbarkeiten gefasst sei. Zum Beispiel könnte das Kreuz in seiner Zelle aufbewahrt werden, die Tag und Nacht von seinen beiden Vertrauten bewacht werden würde.
„Wie können wir das verhindern?“, fragte Willibrod halblaut Gernod und sah sich in der Versammlung der Brüder um. Einige schienen gerade dabei, sich dem Vorschlag Liudgers anzuschließen.
„Das weiß ich noch nicht.“
„Was denkst du jetzt über Liudger?“
„Wir hatten einen Hirten erwartet und ein Wolf ist gekommen“, antwortete Gernod düster.