Leon starrte auf die Lücke, die sich zwischen den tief hängenden Zweigen der Buche aufgetan hatte.
Da kam etwas knurrend und kriechend auf sie zu. Mit wild klopfendem Herzen hielt Leon das Messer zum Zustoßen bereit. Anna hatte ihm die Zügel abgenommen und hing sich hinein, damit Stella nicht wieder durchging.
Starr blickte Leon auf das Tier vor ihm. Zu klein für einen Bären. War es der Wolf?
„Hilfe“, raunzte der Wolf.
Anna keuchte.
„Helft mir“, sagte der Wolf etwas verständlicher. „Um Gottes Barmherzigkeit willen.“
Leon ließ das Messer ein Stück sinken, aber dann hob er wieder den Arm.
„Bleib uns vom Leib! Wer bist du?“
Die Gestalt vor ihm gab keine Antwort, sie seufzte nur und kroch nicht näher.
„Was sollen wir tun?“ wisperte Anna.
„Hunger! Essen!“ knurrte die Wolfsgestalt.
Anna kramte aus dem Sack etwas Brot und warf es zwischen die Weidenzweige. Eine Weile hörten sie nur ein Schnaufen, das schließlich verstummte. Es war mitten in der Nacht. In der Dunkelheit war so gut wie nichts mehr zu erkennen, und doch hatte Leon den Eindruck, dass das Wesen nicht verschwand. Es blieb, wo es war, zusammengekauert zwischen den Zweigen. Irgendwann, als er trotz der Anspannung und des steten Lauerns die Augen nicht mehr offen halten konnte, schlief er ein, den Arm fest um Anna geschlungen.
Er träumte.
Groot beschnüffelte ihn. Von der Seite des Ebers troff Blut, es sprudelte aus einer tiefen Wunde in der Flanke, die dem Tier nicht viel auszumachen schien, Leon aber schon. Er wusste, dass er dafür verantwortlich war. Liebevoll leckte Groot sein Ohr. So oft er auch den Kopf wegdrehte, der Eber begann wieder zu lecken und an ihm herumzuknabbern.
„Geh weg!“, rief er halb im Schlaf und wachte auf.
Einen Moment brauchte er, um sich zurechtzufinden. Der Wald triefte, es musste die ganze Nacht weiter geregnet haben. Vom Himmel war durch das Blätterdach der Buche nichts zu sehen, graue Dämmerung herrschte. Stella hörte endlich auf, an seinen Haaren zu knabbern und schnaubte leise. Anna regte sich, er schüttelte sie vorsichtig wach.
Zusammen spähten sie nach dem Wesen aus, das sie mitten in der Nacht heimgesucht hatte. Inständig hoffte Leon, dass die Spukgestalt verschwunden war. Vielleicht war sie ja auch nur Teil eines Alptraums gewesen?
Aber da lag etwas zwischen den äußeren tiefen Zweigen und rührte sich nicht.
„Sollen wir nachsehen?“ wisperte Anna.
Leon bedeutete ihr mit einem Wink zurückzubleiben und schob sich auf den Knien vorwärts. Vorsichtig, langsam. Jeden Moment rechnete er damit, dass die Kreatur aufsprang und ihn mit Klauen und rattenscharfen Zähnen angriff.
Nichts geschah.
Seine Hände spürten aufgeweichten, vollgesogenen Boden, der ihm klarmachte, wo sie waren: im Sumpf.
Hatte dieses Wesen nicht gestern etwas gesagt? Leon fielen Schreckensgeschichten ein, die die Knechte gern abends erzählten. Geschichten von Mischwesen – halb Mensch, halb Bär oder Wolf. War das da vorn so etwas?
Der Mann schlief. Er hatte sich so klein wie möglich zusammengerollt. Seine Kleidung oder das, was davon übrig war – ein lumpiger schmutziger Lappen -, sah ein bisschen nach den Resten einer Kutte aus, einer braunen Kutte. Die Füße waren nackt und über und über mit Schorf bedeckt oder von Dreck verkrustet.
Die Haare waren vollständig weiß und oben auf dem Kopf kürzer als an den Seiten. Etwas war mit seinem Kopf nicht in Ordnung. Wie ein Hahnenkamm stand ein verklebtes Büschel Haar direkt auf dem Schädel senkrecht.
Anna tauchte neben Leon auf.
„Wieso bist du mir nachgekommen? Du solltest bei Stella bleiben“, zischte Leon aufgebracht.
Konzentriert schaute Anna den Mann an und achtete nicht auf Leon. Sie streckte die Hand aus und bog das Haarbüschel vorsichtig auseinander. Leon staunte über ihren Mut, aber dann wurde ihm schlagartig flau. Die Haare hatten eine tiefe, sehr schlecht verheilte Wunde verdeckt. Die Ränder waren aufgequollen und entzündet. Vielleicht eiterte die Wunde sogar. Sie sah aus, als hätte jemand versucht, dem Mann mit einer Axt den Schädel zu spalten. Auf alle Fälle musste die Verletzung höllische Schmerzen verursachen.
Unwillkürlich hatte Leon aufgestöhnt. Als er wieder hinsah, begegnete er einem Blick aus grauen Augen. Grau, starr und unheimlich wie Wolfsaugen. Vor Schreck zuckte Leon zurück.
War das ein Wolfsmensch?
Anna hatte sich ruckartig auf die Hacken gesetzt.
„Liudger?“ fragte sie.
Der Fremdling sah sie ohne einen Funken Verständnis an.
„Bist du Liudger von Danzig?“ wiederholte Anna tapfer.
„Es ist ein Wolfsmensch – sieh dir die Augen an. Kein Wunder, dass er nicht antwortet“, murmelte Leon.
Der Mann richtete sich auf und sah sich um. Tiefste Verwirrung schimmerte in seinem Blick auf, während Leon und Anna zurückwichen. Konnte ihnen der Mann gefährlich werden? Zumindest erschien er jetzt eher hilflos als gefährlich. Zu trauen war ihm dennoch nicht, so lange sie nicht wussten, wer er war.
„Liudger?“, fragte Leon jetzt auch prüfend.
„Anscheinend ist er’s nicht“, sagte Anna enttäuscht, „obwohl ...“
Auf einmal wurde sich Leon siedendheiß einer ganz neuen Gefahr bewusst.
Er zog Anna auf die Füße. „Wir müssen weg hier. Sofort. Auf höher liegendes Gebiet. Sieh dir das Wasser an.“
Das Wasser schwappte bereits bis an ihre Füße, leise und verstohlen überschwemmte es den Waldboden. Durch den heftigen Regen der letzten Nacht musste ein Bach über die Ufer getreten sein und jetzt stieg das Wasser unaufhaltsam an. Um die Füße des Fremden hatte sich eine Pfütze gebildet, die sich ständig vergrößerte. Leon überlegte nicht lange und zog Anna mit sich, instinktiv vom Wasser weg. Sie nahmen Stella am Zügel, gingen um die Buche herum und tappten weiter. Anna schaute zurück.
„Er kommt uns nach!“
Der Fremdling schleppte sich hinter ihnen her, dabei verdrehte er das eine Bein sehr eigenartig. Mit diesem Gang bewegte er sich nur langsam vorwärts. Leons erster Impuls war, schneller zu gehen und den Mann hinter sich zu lassen, aber dann besann er sich. Wer immer dieser Fremde war und was immer ihm zugestoßen sein mochte, er brauchte Hilfe, sie durften ihn nicht zurücklassen. Eigentlich war es seine Sorgen um Anna, die ihn vorsichtig sein ließ. Aber es war dann Anna, die darauf bestand, dass sie dem Mann auf Stellas Rücken halfen. Er ließ alles mit sich geschehen, ohne ein Wort zu sagen.
Es war eine irrwitzige Flucht vor dem Wasser, die sie immer wieder zum Umkehren zwang. Als sie endlich ein höher gelegenes trockenes Stück Wald erreichten, wussten sie eins recht genau: Sie waren von Wasser und Sumpf umgeben und mussten bleiben, wo sie waren.
Gemeinsam halfen sie dem Fremdling vom Pferd. Sofort streckte er sich im Gras aus und blieb stöhnend liegen. Der Mann hatte Schmerzen! Ein paar Mal zuckte seine Hand hoch, als wenn er sich an die Schädelwunde fassen wollte.
Nach einer Weile sah sich Leon in ihrer Umgebung um – behielt aber den Mann dabei im Auge. Endlich fand er, was er suchte. Zu Annas Erstaunen kam er mit einer Handvoll Spitzwegerich zurück. Er kaute die Blätter weich und begann, den Brei auf der Schädelwunde des Fremden zu verteilen, nachdem er ihm befohlen hatte, still zu halten. Obwohl er so vorsichtig wie möglich vorging, zuckte der Mann immer wieder zusammen. Aber er wehrte sich nicht gegen die Behandlung, sondern ließ sie geduldig über sich ergehen, als hätte er grenzenloses Vertrauen zu Leon gefasst.
Kurz darauf ließ er einen tiefen Seufzer der Erleichterung hören.
„Das tut gut“, sagte er klar und verständlich.
Leon hatte nur angewandt, was er von Gernod gelernt hatte: Der Spitzwegerich linderte den Schmerz und würde die Heilung fördern. Aber das Wichtigste war, dass jede Angst vor dem Fremden verflogen war. Leon wusste nicht wieso.
Anna packte die Essensvorräte aus. Ihr Gast ließ sich nicht lange bitten und entwickelte einen Appetit, den Leon bestimmt nicht erwartet hatte von jemandem, der sich gerade noch vor Schwäche kaum regen konnte.
Nach dem Essen versuchten sie, den Fremden auszuhorchen, es war ein mühsames Unterfangen. Er wusste nicht, wie er zu der Schädelverletzung gekommen war, noch wann er sie erhalten hatte. Und anscheinend war sein Bein gebrochen gewesen und nicht sehr gut wieder zusammengewachsen. Daher der seltsame Gang. Das schlimmste war, dass der Mann keine Ahnung hatte, wer er war. Seine Vergangenheit war aus seinem Gedächtnis ausgelöscht. Nur über die letzten Stunden konnte er Auskunft geben. Er hatte sich schon vor dem Unwetter in der Höhle verkrochen und war aufgeschreckt, als er Leon und Anna gehört hatte, und ihnen schließlich gefolgt.
Sie waren vor einem kranken alten Mann geflohen. Es war nur erstaunlich, dass er ihnen bis hierher hatte nachkommen können. Wenn sie selbst nur etwas rascher gegangen wären, hätte er sicher ihre Spur verloren.
Sie warteten, bis er eingeschlafen war, und zogen sich an die äußerste Grenze ihrer Insel im Sumpf zurück, um miteinander zu reden.
Anna stellte die entscheidende Frage.
„Ist er’s oder ist er’s nicht?“
„Überlegen wir doch mal“, sagte Leon vorsichtig. „Wir haben einen alten, verletzten Mann im Wald gefunden, der eine Mönchskutte trägt, die aber die falsche Farbe hat. Nicht weiß, sondern braun.“
„Dreckbraun“, warf Anna ein. „Wenn du hellen Stoff zwei Monate durch den Dreck ziehst, ist er nicht mehr hell. Der Dreck setzt sich so fest, dass er wie Farbe wirkt.“
„Schön. Also eine dreckbraune Kutte, die vielleicht einmal weiß gewesen ist. Zwei Monate sagst du? Der Beinbruch ist sicher zwei Monate her. Aber die Schädelwunde? Ich kann nicht sagen, wie alt die ist. Auf alle Fälle muss sie behandelt werden. Ich glaube, der Mann hat Fieber. Wundfieber. Das wäre was für Gernod, er könnte ihm besser helfen als ich.“
„Weißt du, was du da sagst?“
Leon gab keine Antwort.
„Du denkst an Rückkehr“, sagte Anna.
„Ich kann nicht zurück, du schon. Du könntest den Mann bei Gernod abliefern.“
„Und hoffen, dass alle am Ende davon überzeugt sind, er sei der echte Abt Liudger?“
„Ich mach mir da nicht viel Hoffnung. Er kann ein Bettelmönch sein, dem etwas Schlimmes widerfahren ist. Aber selbst, wenn er Liudger von Danzig ist, ohne sein Gedächtnis nützt er uns gar nichts. Er ist einfach nur ein Kranker, der ins Hospital gehört.“ Leon wusste, dass er recht hatte. Ein geistesverwirrter Mann war nur eine Last und keine Hilfe in der Klemme, in der er steckte. Und so lange sie vom Wasser eingekreist waren, konnten sie an Stralsund nicht einmal denken.
Bis zum Abend erneuerte er die Breiauflage und sah sich auch das Bein an. Vielleicht, dachte er, könnte Gernod es brechen, schienen und neu zusammenwachsen lassen. Der Fremde sah ihm bei allem, was er machte, interessiert zu, aber mehr wie ein Kind, dass nichts verstand.
Die Nacht verbrachten sie zusammen auf der Insel und hofften, weder von Wölfen noch von einem Bären aufgespürt zu werden.