Witzlafs Wachen hatten im Handumdrehen den falschen Abt und seine beiden Komplizen festgenommen und nahmen sie mit, um sie einzukerkern und zu verhören. Das Bergkristallkreuz hatte er Gernod übergeben, der es auf den Altar stellte. Danach trat der Apotheker auf den echten Liudger zu und beugte vor ihm das Knie.
„Steh auf“, sagte Liudger, „steh sofort auf! Ich kenne dich zwar nur aus deinen Briefen, aber du bist Gernod, nicht wahr? Du glaubst nicht, wie ich mich darauf gefreut habe, dich zu sehen.“ Er zog ihn auf die Füße und umarmte ihn. Schwankte aber dabei unmerklich. Gernod musste es bemerkt haben, denn er löste sich von ihm und betrachtete ihn kritisch.
„Er hat eine tiefe Wunde am Kopf, die schlecht heilt, und ein gebrochenes und falsch zusammengewachsenes Bein“, warf Leon ein, „er braucht deine Hilfe.“
„Ja richtig“, sagte Liudger trocken, „dein Gehilfe hat bereits die Diagnose gestellt. Aber ich würde die Behandlung gern auf später vertagen. Es ist noch nicht so lange her, dass ich mein Gedächtnis wieder gefunden habe. Ich fing gerade an, mich zu erinnern, als ich auf meine beiden tapferen Retter stieß. Du und die anderen, ihr müsst mir jetzt helfen, die noch vorhandenen Erinnerungslücken zu füllen. Aber vorher will ich Gott für meine Rettung danken.“
In das Dankgebet stimmten alle aus vollem Herzen ein.
Der Bruder Küchenmeister versprach allen eine kräftige Mahlzeit, und der Bruder Kellermeister holte Wein, den er im Refektorium ausschenkte. Leon fand es schade, dass Anna nicht dabei sein konnte.
Als Scheiben von gebratenem Schweinefleisch auf dem Tisch erschienen, langte Leon wie alle anderen zu. Er lauschte, kaute und irgendwann befiel ihn die Ahnung, dass es Groots Fleisch sein könnte, das er aß. Auf einmal war das in Ordnung.
Später stieß Witzlaf zu ihnen und erzählte ihnen das, was er durch das Verhör der drei Verhafteten erfahren hatte. Irenäus von Malchin war ein entlaufener Mönch, auch Beiß und Schnapp hatten vor einigen Jahren einige Zeit in einem Kloster gelebt, es dort aber nicht ausgehalten. Jetzt gehörten die drei schon seit einigen Jahren als Räuberbande zusammen. Irenäus hatte sich als Kopf der Bande von den Lübeckern anheuern lassen, sobald diese erfahren hatten, dass der Abt des Katharinenklosters gestorben war. Sie sollten das Bernsteinkreuz stehlen, auf das die Stralsunder so stolz waren, und soviel Unruhe wie nur möglich stiften.
Von Irenäus stammte der Plan, die beiden anderen ins Kloster nach Danzig zu schicken, wo sie ohne große Umstände Aufnahme fanden. Sie gaben an, weit im Osten auf einer Missionsreise gewesen zu sein. Zwei Monate verbrachten sie in Danzig. Niemand fand es bemerkenswert, dass sie sich anboten, Liudger nach Stralsund zu begleiten, um von dort in ihr Heimatkloster in Süddeutschland weiterzureisen. Unterwegs trafen sie sich mit Irenäus, und gemeinsam fielen sie über Liudger her. Als sie ihn im Wald zurückließen, hielten sie ihn für tot.
Aber Liudger hatte den Anschlag schwer verletzt überlebt. Er war kein Schwächling. Obwohl er das Gedächtnis verloren hatte, gelang es ihm, zu überleben und sich langsam, seinem Instinkt und vielleicht einer vagen Ahnung folgend, immer weiter nach Westen zu bewegen, so weit er sich überhaupt bewegen konnte.
Alle waren davon überzeugt, dass es einem Wunder gleichkam, ihn jetzt lebend in ihrer Mitte zu haben. Den unnatürlich tiefen Schlaf der Mönche klärte der Kellermeister auf. Das Bier zum Abendessen, hatte er festgestellt, war mit einem Schlafpulver versetzt gewesen. Er hatte ein Säckchen mit einem Rest Schlafmohn im Bierkeller gefunden.
„Das reicht“, sagte Gernod auf einmal bestimmt. „Es ist spät, und wenn du deine Gesundheit wiedererlangen willst, Liudger, wird es Zeit, dass du dich in meine Hände begibst.“
Der Abt lächelte entspannt.
„Einverstanden.“
Am nächsten Tag brachte Witzlaf den Goldkelch und das kleine Emailkreuz zurück, Irenäus hatte schließlich verraten, wo die beiden Gegenstände versteckt gewesen waren: in einem leeren Bierfass in Jaromirs Keller. Der Wirt hatte angegeben, davon nichts gewusst zu haben. Niemand glaubte ihm so recht, aber das Gegenteil konnte auch keiner beweisen.
Zwei Wochen danach wurde Leon zum Abt befohlen.
Als er eintrat, hatte er das mulmige Gefühl, die gleiche Szene schon einmal erlebt zu haben.
Liudger saß an seinem Tisch und ließ ihn erst einmal warten. Schließlich sah der Abt von seinen Papieren auf.
Aber dann wurde alles anders.
„Nimm dir einen Hocker und setz dich. Wir warten noch auf Bruder Gernod. Er sollte als dein Lehrer bei dem Gespräch dabei sein.“
Die letzten beiden Wochen hatte Leon wieder bei den Schweinen verbracht. Arnulf hatte das so angeordnet, und er hatte sich fügen müssen. Gernod hatte sehr viel Zeit mit der Pflege Liudgers verbracht, dessen Bein er tatsächlich gerichtet hatte. Leons Trost war Anna gewesen, mit der er sich mit Witzlafs Billigung hatte treffen dürfen. Anna musste nicht Isabellas Vetter heiraten, ihr Weglaufen hatte ihren Vater von allen Heiratsplänen vorerst abgebracht.
Bis Gernod auftauchte, war Leon in quälende Unruhe verfallen. Liudger glich nur noch wenig dem hilflosen verwirrten Greis, den er im Wald gefunden hatte. Sein Blick war scharf und klar und seiner Stimme keinerlei Schwäche anzumerken.
„Du willst im Kloster bleiben, Leon?“, fragte Liudger, nachdem auch Gernod Platz genommen hatte. In einem Armlehnstuhl, der extra für ihn bereit stand.
Leon nickte eingeschüchtert.
„Warum?“
„Weil ich sonst nirgends hin kann“, bekannte Leon mit einem Anflug von Aufsässigkeit.
Die grauen Augen musterten ihn so durchdringend, als ob sie bis auf den Grund seiner Seele blickten. Es war sehr ungemütlich, so betrachtet zu werden.
„Ich habe gehört, dass du nicht dumm, sondern nur erzfaul bist. Du hast die Wahl: Entweder kehrst du als Hirte auf die Schweinewiesen zurück oder du lernst in der Klosterschule und bei Gernod.“
Bei der Erwähnung der Schweinewiesen war Leon in sich zusammengesunken. Er hatte es ja geahnt. Einer wie er gehörte nun mal zu den Schweinen. Aber nun richtete er sich staunend wieder auf.
„Wenn du dich für die Klosterschule entscheidest“, fuhr Liudger streng fort, „hast du der beste Schüler zu werden, den unser Kloster je hervorgebracht hat. Das ist das mindeste, was Gernod und ich von dir erwarten.“
Leon begann zu strahlen.
„Du kannst gehen.“
Leon erhob sich wie im Traum.
Liudger war noch nicht ganz fertig. „Und was ich noch sagen wollte: Wasch dich das nächste Mal gefälligst ordentlicher. Ein Klosterschüler rennt nicht mit schwarzen Füßen herum.“
Als Leon die Tür hinter sich zuzog, hörte er Gernod lachen.
Er drehte sich um und kam wieder herein.
„Kann ich noch etwas fragen?“
„Nur zu“, sagte Liudger.
„Wo ist der Schlüssel zum Schrein?“
Bisher wurde das Bergkristallkreuz in der Sakristei verwahrt, der Schrein war noch nicht wieder instand gesetzt worden.
Gernod hatte sich aufrechter hingesetzt und umfasste mit beiden Händen die Armlehnen. Seine ganze Miene drückte höchste Spannung aus.
„Der Schlüssel?“ Liudger schaute Leon erstaunt an. „Das willst du wissen?“
„Ja, bitte!“
„Ach ja, der Schrein! Mit dem kostbaren Kreuz war er eine Bürde für Adelbert. Das hat ihm zu schaffen gemacht. Dauernd hatte er den Schlüssel verlegt, er konnte sich nicht merken, wo er ihn versteckt hatte. Kein Ort schien ihm sicher genug. Bis ...“ Der Abt erhob sich und trat an das schmucklose Wandkreuz heran, das dem in der Apotheke glich. Er nahm es herab und wandte sich an Gernod. „Vor diesem Kreuz hat er täglich gebetet. Und da kam ihm eines Tages eine Idee. Weißt du, er hat mir alles geschrieben. Die Ausführung hat er einem geschickten Schreiner übertragen, der Stillschweigen geloben musste.“ Liudger drehte das Kreuz um. „Du ziehst hier unten und - schau!“
Der untere Teil ließ sich von hinten wie eine Schiebelade öffnen. Und da war der Schlüssel mit den drei Bärten, wohlverwahrt in einem kleinen Hohlraum in diesem einfachen, unauffälligen Holzkreuz.
Gernod nickte zufrieden.
Jetzt gab es nicht den geringsten Zweifel mehr, dass Liudger der rechtmäßige Abt des Katharinenklosters war.