Wir haben nicht immer im Minibus gewohnt.
Das fing erst vor vier Monaten an. VM – Vor Minibus – wohnten wir in einem siebenunddreißig Quadratmeter großen Keller. Davor wohnten wir in einer fünfundfünfzig Quadratmeter großen Wohnung. Davor gehörte uns tatsächlich eine vierundsiebzig Quadratmeter große Eigentumswohnung.
Und vor alldem wohnten wir bei Mormor.
Mormor heißt auf Schwedisch ›Mutters Mutter‹. Sie war meine Oma. Astrid und ich wohnten mit ihr zusammen in ihrem Bungalow in New Westminster, ein paar Kilometer von Vancouver entfernt, bis ich fast sieben war. Ihr Haus war mit allem möglichen Krimskrams aus Schweden vollgestopft; sie muss fünfzig rote und blaue hölzerne Dala-Pferde besessen haben. Außerdem hatte sie eine riesige tomte-Sammlung.
Tomtar, Plural von tomte, sind in der schwedischen Tradition schelmische koboldartige Wesen. Sie geben auf einen acht und beschützen die Familie. Aber wenn man sie nicht respektvoll behandelt, können sie auch grausam sein. Sie spielen dir dann vielleicht einen Streich oder stehlen Dinge oder bringen sogar Haustiere um.
Zu meinem fünften Geburtstag schenkte mir Mormor meinen eigenen tomte, den sie aus Filz selbst gemacht hatte. Er war zehn Zentimeter groß und hatte einen langen weißen Bart, einen spitzen roten Hut und eine rote Jacke. »Dein eigener Beschützer«, sagte sie. Ich nannte ihn Mel.
Wenn Astrid arbeiten war, kümmerte sich Mormor um mich. Meine Mom hatte damals zwei Jobs: Sie unterrichtete in einem Abendkurs Malerei an der Emily-Carr-Universität in Vancouver und ging in einem Versicherungsbüro ans Telefon. »Wenn ich genug gespart habe«, sagte sie immer zu mir, »suchen wir uns unsere eigene Wohnung.« Sie lebte nicht gern mit Mormor zusammen.
Ich schon. Mormor ging morgens mit mir in den Park, und nachmittags spielte ich Piratenschiff und Burg und Weltraum, während sie ihre Sendungen guckte. Drew, Maury, Ellen, Phil, Richterin Judy, die Frauen bei The View – sie waren wie Freunde. Und es war Mormor, die mir zum ersten Mal Wer, Was, Wo, Wann mit Horatio Blass zeigte. Das war ihre Lieblingssendung, und es wurde auch meine.
Mormor war eine sogenannte Lutheranerin, und sie las mir Geschichten aus der Bibel vor (aber das musste unser kleines Geheimnis bleiben, weil Astrid fand, dass institutionalisierte Religion der Grund für das Übel in der Welt war, und mit der Kirche schon vor langer Zeit gebrochen hatte). Wir machten pepparkakor, schwedisch für ›Lebkuchen‹, und Mormor erlaubte mir, Teigbällchen zu naschen. Zum Mittagsschlaf durfte ich mich auf ihrem kissenweichen Schoß einrollen und dösen, während sie fernsah.
Als ich gerade sechs geworden war, wachte ich einmal aus dem Mittagsschlaf auf und stellte fest, dass Mormor auch schlief. Das war nicht ungewöhnlich; sie legte sich nachmittags öfter hin. Also stand ich auf und spielte leise auf dem Fußboden mit meiner Holzeisenbahn, die meiner Mutter und ihrem Bruder gehört hatte, als sie noch klein gewesen waren. Als Mormor nach ungefähr einer Stunde immer noch nicht aufgewacht war, stupste ich sie vorsichtig an. Ihr Kopf sackte auf ihre Brust. Ihre Haut war grau und kühl. Ich bemerkte einen dunklen Fleck unter ihr.
Er war nass.
Begeistert fing ich an zu kichern. »Mormor, du hast in die Hose gemacht!« Bis dahin war ich in unserem Haushalt der Einzige gewesen, der in die Hose machte.
Sie antwortete nicht.
»Mormor?« Mir war klar, dass etwas nicht stimmte. Aber ich war klein. Mein S.H.I.T. war noch nicht voll entwickelt.
Ich rief meine Mom an. Sie wählte die 911 und kam sofort nach Hause. Aber niemand konnte irgendetwas tun.
Ich vermisste Mormor sehr und meine Mom vermisste sie auch. Danach schlief ich monatelang in Astrids Zimmer, und Mel war jeden Abend dabei, damit er auf uns aufpassen konnte, während wir schliefen. Ich ging kein Risiko ein.
Mormor vermachte alles meiner Mom. Es war nicht so viel, wie Astrid gehofft hatte, weil Mormor einen Teil ihrer Ersparnisse an einen nigerianischen Prinzen überwiesen hatte. Aber als Astrid ein Jahr nach Mormors Tod das Haus verkaufte, reichte es für eine Anzahlung auf eine brandneue Eigentumswohnung in Kitsilano, im Westen von Vancouver.
Obwohl ich Mormor vermisste, liebte ich unsere neue Wohnung. Sie war klein, aber sie gehörte uns. Der chemische Geruch von neuem Teppich hing noch in der Luft. Alles blitzte vor lauter Neu-Sein. Astrid hängte ihre gewagten Bilder überall hin. Abends gab es eines meiner Lieblingsessen, zum Beispiel Grillkäse mit eingelegten Gurken oder Fischstäbchen mit Erbsen.
Ich kam in die dritte Klasse an der staatlichen Waterloo School, und bald hatte ich nicht nur einen Freund, sondern einen besten Freund. Dylan Brinkerhoff und ich hingen dauernd zusammen herum, spielten mit LEGO und lasen Bücher wie Ripleys Glaub es oder nicht! und Igittologie. Wir verfassten sogar eine Zeitschrift namens Geschichten vom Ur-Anus mit Artikeln über UFO-Sichtungen und Poltergeister.
Astrid bekam einen neuen Job, sie ging jetzt bei einer Fernsehproduktionsfirma ans Telefon. Und zu Emily Carr, wo sie noch immer zwei Abende die Woche unterrichtete, war es nur eine kurze Busfahrt.
Aber anderthalb Jahre nach unserem Einzug passierten zwei Dinge.
Nummer eins: Astrid verlor beide Jobs. Zur Abwechslung lag es nicht an ihr. Für ihren Abendkurs gab es nicht genügend Anmeldungen, also wurde er abgesagt. Und die Produktionsfirma ging pleite.
Nummer zwei: Unser Gebäude begann zu sinken.
Genau. Zu sinken.
Es war auf einem ausgetrockneten Flussbett gebaut worden. Die Wohnungseigentümer wurden wegen der Reparaturen belangt, die vierzigtausend Dollar kosten sollten. Jeweils.
Wir hatten keine vierzigtausend Dollar. Wir hielten die Wohnung noch ein Jahr. Doch schließlich musste Astrid sie verkaufen, mit Verlust.
Eigentlich war es ein Zimmer plus Lagerraum. Wir hörten unsere Nachbarn streiten und der Teppich muffelte, aber alles in allem war es nicht so übel. Die Wohnung lag auf der East Side, unweit vom Commercial Drive, was bedeutete, dass ich mitten im Jahr die Schule wechseln musste. Ich hatte keine engen Freunde mehr, andererseits aber auch keine Feinde.
Dylan fehlte mir sehr. Ich besuchte ihn ein paarmal, aber Astrid hatte kein Auto, und ich war noch zu klein, um allein Bus zu fahren. Dylans Eltern mussten also die Fahrerei übernehmen, und sie hatten noch zwei Kinder mit vollen Terminplänen. Nach ein paar Monaten verloren wir uns aus den Augen.
Astrid fand keine Büro- oder Lehrerstelle, also fing sie an zu kellnern. Ziemlich oft war ich abends allein zu Hause. Aber ich hatte meine Fantasie und meine Bücher aus der Bibliothek und ich guckte ein paar Sendungen, die Mormor und ich immer zusammen geschaut hatten, wie Wer, Was, Wo, Wann.
Eines Abends kam Astrid früher heim. Sie war stinksauer. »Dieser Kunde hat immer wieder versucht, mir an den Hintern zu fassen.« (Astrid hatte schon immer die Überzeugung vertreten, mit mir auf Augenhöhe zu sprechen.) »Und trotzdem bin ich diejenige, die bestraft wird. Nur weil ich ihm ein Getränk ins Gesicht geschüttet habe, damit er aufhört.« Da begriff ich, dass sie entlassen worden war.
Wir konnten die Miete nicht mehr pünktlich bezahlen. Aber zum Glück freundete sich Astrid mit Yuri an, dem Gebäudeverwalter, und der hatte Nachsicht mit uns. Alle paar Tage kochte sie mir erst Abendessen und ging dann für ein paar Stunden runter in seine Wohnung. Ich schätze, er war so was wie ihr Freund, auch wenn er nicht ein einziges Mal richtig mit ihr ausging.
Dann traf Astrid Abelard.
Sie ging nicht mehr zu Yuri. Vermutlich war Yuri verletzt, denn er klemmte uns einen Räumungsbescheid an die Tür.
Wir zogen wieder um, weiter Richtung Osten, in die Nähe der Boundary Road. Das hieß: wieder eine neue Schule. Dieses Mal hatte ich es schwerer. Die meisten Kinder kannten sich seit dem Kindergarten; sie brauchten keinen neuen Freund.
»Was zum Teufel bist du denn für ’ne Genmischung?«, fragte mich ein großes, verkniffen wirkendes Mädchen namens Marsha eines Tages.
»Fünfzig Prozent schwedisch, fünfundzwanzig Prozent haitianisch, fünfundzwanzig Prozent französisch«, gab ich zurück. »Ergibt hundert Prozent kanadisch.«
Sie verzog den Mund. »Du siehst wie ein Clown aus.«
Nicht zum ersten Mal machte sich jemand über meine Haare lustig. Als ich noch jünger war, hatte ich meine Mutter gebeten, alles abzuschneiden, aber sie hatte sich geweigert. Jetzt bin ich froh darüber. Sie sind ein Teil von mir. Ich bin wie Samson, bevor er Delilah traf: Sie sind meine Superheldenkraft. Und Astrid liebt meine Haare; sie sagt, sie erinnern sie an zwei ihrer Lieblingssänger, K’naan und Art Garfunkel. Sie sagt, es sei gut, ein besonderes Merkmal zu haben, und meistens sehe ich das auch so. Ich kam also klar mit solchen Zicken wie Marsha, bis zum Ende der sechsten Klasse. Aber ich mochte diese Schule nicht. Ich mochte auch unsere Kellerwohnung nicht. Es roch modrig, und selbst an sonnigen Tagen war es dunkel. Außerdem war Abelard ständig da.
Astrid schaffte es, einen neuen Job bei BC Hydro an Land zu ziehen. Aber auch der war nicht von Dauer. Sie sagte mir, dass sie Leute entlassen hatten, und da sie die Letzte war, die man eingestellt hatte, war sie auch die Erste, der man kündigte. Aber nach allem, was ich so mitbekam, glaube ich, dass es noch um etwas anderes ging; ich glaube, sie war zu ihrem Vorgesetzten frech gewesen. »Ich kann nicht gut mit Idioten«, hörte ich sie zu Abelard sagen, »und dieser Typ war so ein Idiot.«
Zwei Wochen später machte Abelard mit ihr Schluss. Und das bringt mich zu unserem:
Der Bus gehörte Abelard.
Meine Mom hatte ihn bei einem eintägigen Meditationsseminar kennengelernt. Er war ein Lehrer, oder Guru.
Astrid ist immer noch hübsch, obwohl sie vierundvierzig ist. Sie ist groß und schlank und hat lange, gewellte blonde Haare. Ich habe gesehen, wie sich Männer auf der Straße nach ihr umdrehen. Und obwohl Abelard zehn Jahre jünger war als sie, lud er meine Mom nach dem Seminar zum Kaffee ein, und von da an waren sie unzertrennlich. Als wir in die Kellerwohnung wechselten, zog er mehr oder weniger auch ein und parkte seinen Bus vor der Tür.
Abelard erinnerte mich an Jesus, aber nur, was das Aussehen betraf. Lange braune Haare und Rauschebart. Er sagte, er sei Buddhist, und schwafelte über Frieden und Liebe und Toleranz, was an sich in Ordnung gewesen wäre, wenn er sich nicht wie ein Vollidiot benommen hätte. Erstens schnorrte er sich bei meiner Mom durch, obwohl es offensichtlich war, dass wir nicht genug hatten, um über die Runden zu kommen. Und zweitens war er sehr launisch. Er beschimpfte meine Mom, weil sie seine Yogahose in den Trockner gesteckt hatte, anstatt sie an der frischen Luft aufzuhängen, oder weil sie ihn versehentlich beim Meditieren gestört hatte.
Er war ein zorniger Buddhist.
Ich konnte ihn nicht ausstehen.
Eines Abends im Juli sagte Abelard zu Astrid, er würde auf eine ›spirituelle Reise‹ nach Indien gehen und könne nicht mehr mit ihr ›verbunden‹ sein. Sie stritten sich. Ich verließ die Wohnung und lief zehnmal um den Block. Einerseits tat es mir leid für Astrid, weil ich wusste, dass sie Abelard mochte. Andererseits war ich erleichtert. Sie verdiente etwas viel Besseres.
Als ich zurückkam, war Abelard fort.
Nicht jedoch sein Bus. Der stand immer noch in der Einfahrt. Astrid erklärte mir, Abelard habe ihn ihr geschenkt, als kleines Dankeschön, weil er so ein Schmarotzer gewesen sei.
Jetzt erfahre ich, dass Abelard sie beschuldigt, den Bus gestohlen zu haben.
Ich weiß, dass meine Mom die Wahrheit manchmal beschönigt. Aber jeder vernünftig denkende Mensch wäre bekloppt, Abelard beim Wort zu nehmen, denn der Typ ist eine Schlange. Ich kann bloß vermuten, dass die Wahrheit irgendwo dazwischen liegt. Aber ich greife vor.
Eine Woche nach Abelards Abreise tauschte der Vermieter unsere Schlösser aus. Er hatte schon eine Weile versucht, uns loszuwerden, weil wir mit der Miete im Rückstand waren. Als wir nach Hause kamen, fanden wir unsere Sachen in Stapeln auf dem Rasen vor dem Haus. Meine Rennmaus, Horatio, saß ganz obenauf, in ihrem Käfig.
Horatio war mein Geschenk zum zehnten Geburtstag gewesen. Ich hatte unbedingt einen Hund haben wollen, also war ich anfangs ein bisschen enttäuscht, als Astrid mir ein Nagetier schenkte. Aber als ich in seine kleinen Knopfaugen schaute und seinen weichen schwarz-weißen Pelz streichelte, verliebte ich mich in ihn. Auch wenn er weder apportieren noch rennen oder Tricks vollführen konnte und obwohl er ein Gehirn so groß wie eine Erdnuss hatte, war ich in ihn vernarrt. Als ich ihn also da so wackelig auf unseren Sachen hocken sah, flippte ich aus. Wenn nun sein Käfig heruntergefallen und ihm etwas passiert wäre? Wenn die Tür nicht richtig geschlossen und er abgehauen wäre? Wenn ein hungriger Hund vorbeigekommen wäre? Horatio wirkte nicht traumatisiert, andererseits kann man komplexe Emotionen von einem Rennmausgesicht nur schwer ablesen.
Ich fing an zu weinen. Laut. Astrid umarmte mich fest. »Ist schon gut, Lilla Gubben. Ist gut.« (Lilla Gubben ist einer ihrer Spitznamen für mich; auf Schwedisch bedeutet es ›kleiner alter Mann‹. Anscheinend sah ich so aus, als ich geboren wurde: kahlköpfig und faltig.)
»Was soll daran gut sein?«, heulte ich. »Wir haben kein Zuhause mehr!«
Sie fasste mich an den Schultern und zwang mich, sie anzuschauen. »Du machst dir keine Sorgen. Ich kriege das hin. Das tue ich immer.« Und damit wäre ich bei:
Astrid begann ihre Freunde anzurufen, um herauszufinden, ob uns jemand für ein paar Nächte aufnehmen würde.
Eines der Dinge, die mich mein S.H.I.T. im Laufe der Jahre gelehrt hat, ist, dass meine Mom ein echtes Talent hat, Freunde zu finden, und ein noch größeres, sie zu verlieren. Ich war also nicht superüberrascht, als Ingrid Nein sagte. Oder als Karen auflegte.
Astrid dachte einen Moment lang nach. Dann sagte sie: »Ich versuch’s bei Soleil.«
Soleil war eine von Astrids Schülerinnen im Malereikurs bei Emily Carr, und ebenfalls Mutter. Sie hatten sich schnell angefreundet. Vor zwei Jahren dann hatten sie sich furchtbar gestritten.
Ich hörte alles von meinem Zimmer aus. Es fing mit einer Feier an, denn Soleil hatte wieder ein Bild verkauft, dieses Mal zum Rekordpreis. Aber nachdem sie die zweite Flasche Wein leergetrunken hatten, fing Astrid an, über die Mittelmäßigkeit der Masse zu reden und dass sie nicht verstehen konnte, wie solch langweiliger, nichtssagender Kram wie der von Soleil sich verkaufte, während ihre überragenden abstrakten Bilder es nicht taten. Soleil verließ in Tränen aufgelöst das Haus und die beiden redeten kein Wort mehr miteinander.
Bis jetzt.
»Sie meint, wir können eine Weile bei ihr bleiben«, sagte Astrid, als sie aufgelegt hatte.
Sie sah ebenso überrascht aus wie ich.
Wir packten alles in den Minibus und fuhren zu Soleils neuem Zuhause nahe der Main Street und King Edward Street. Sie wartete in der Einfahrt eines großen, modernen Hauses auf uns. Astrid pfiff leise. »Da ist wohl jemand aufgestiegen.«
Soleil lächelte, als sie mich sah. Sie ist groß und hat breite Schultern und ein freundliches Gesicht. »Felix, du bist so groß geworden.« Dann umarmte sie halbherzig meine Mom. »Astrid. Wie geht es dir? Was ist passiert?«
»Kurzfristiger Rauswurf durch einen Drecksack von Vermieter aufgrund von Renovierungsarbeiten.« Fast konnte ich nicht anders, als sie dafür zu bewundern, wie leicht ihr die Lügen über die Lippen kamen.
Soleil half uns, alles in einen hellen, geräumigen Keller zu tragen. An einer Wand hing ein Gemälde mit gelben Rosen.
»Daran erinnere ich mich«, sagte Astrid. »Das hast du bei Emily Carr gemalt.«
»Und du hast gesagt, es sei ›in Bezug auf die Technik in Ordnung, aber emotional tot‹. Du fandest, ich würde mein Potenzial nicht ausschöpfen.«
Astrids Schweigen erfüllte das Zimmer.
Soleils Gesicht wurde leuchtend rot. »Meine Rosenbilder sind meine Bestseller. Ich komme mit den Bestellungen fast nicht nach.«
Mein S.H.I.T. sagte mir, dass wir uns auf gefährlichem Terrain bewegten. »Magst du mal meine Rennmaus streicheln –«, fragte ich, aber Astrid fing an zu reden, bevor Soleil antworten konnte.
»Ich freu mich für dich, Soleil, wirklich.« Erleichtert atmete ich auf. Bis sie hinzufügte: »Deine Arbeiten sind perfekt für Bürofoyers und Besprechungsräume.«
O Mann.
Soleil verschränkte die Arme fest vor der Brust. »Arpads Eltern kommen Ende der Woche. Bis dahin könnt ihr aber gern hierbleiben.«
»Das hast du bisher nicht erwähnt«, sagte Astrid.
»Ich erwähne es jetzt«, sagte Soleil, den Blick unverwandt auf die gelben Rosen gerichtet.
Soleil und ihre Familie hatten am Abend schon etwas vor, also liefen Astrid und ich rüber zu Helens Grill und bestellten das Frühstücksangebot zum Abendessen. Ich hatte Angst. Wenn man kein Zuhause hat, kann man schon mal Angst kriegen.
Die Kellnerin brachte unsere Teller. »Wieso schmeckt Frühstück immer abends besser?«, fragte Astrid.
»Ein wissenschaftliches Mysterium.«
Wir aßen schweigend. Dann sagte Astrid: »Ich habe eine witzige Idee.«
Den Mund voller Rührei guckte ich sie an.
»Wir wohnen im Bus. Nur ein paar Wochen, bis ich uns was anderes finde. Denk darüber nach, Felix. Das wird der ultimative Sommerurlaub. Freiheit, Abenteuer … Unterwegs von Jack Kerouac war mein Lieblingsbuch, als ich neunzehn war. Das wird der Hammer.«
Ich dachte nach. Ich war noch nie über Victoria hinausgekommen; wir hatten mit der Klasse die Parlamentsgebäude der Provinzhauptstadt besucht, als ich zehn war. Marsha hatte mich im Bus an den Haaren gezogen, auf der Hinfahrt und der Rückfahrt. »Können wir wegfahren? Durch British Columbia? Oder vielleicht bis zu den Rockies?«
»Na klar.«
»Können wir uns das leisten?«
»Für einen Monat, ja. Ich habe ein bisschen Erspartes.«
»Wenn du Erspartes hast, wieso konnten wir dann die Miete nicht bezahlen?«
Astrid schob sich einen Streifen gebratenen Speck in den Mund. »Der Vermieter hat uns ausgenommen. Wie oft habe ich ihn gefragt, ob er Sachen in Ordnung bringen könnte, die nie repariert wurden … Er schuldet uns ein paar Monate mietfreies Wohnen für den ganzen Mist, den wir aushalten mussten.«
»Oh.«
»Also, was sagst du? Ultimativer Sommerurlaub?«
Ich war nicht überzeugt. Aber ich wollte kein Spielverderber sein. »Schätze schon. Klar.« Wir klatschten ab und besiegelten so die Vereinbarung.
Und damit komme ich zu Anfang August.
Zu dem Tag, an dem wir in einen Bus einzogen.