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Bevor ich fortfahre, sollte ich wohl die Herkunft meines Namens erklären. Laut Geburtsurkunde heiße ich Felix Fredrik Knutsson. Fredrik war der Name meines morfars. Er starb, bevor ich geboren wurde. In Mormors Geschichten klang es immer, als sei er ein Heiliger gewesen. Aber Astrid sagt, Mormor betreibe ›revisionistische Geschichtsschreibung‹.

»Wieso hast du mich dann nach ihm benannt?«

»Habe ich nicht. Ich habe dich nach Eugène Fredrik Jansson benannt, meinem schwedischen Lieblingsmaler. Deine Mormor hat angenommen, ich hätte dich nach meinem Vater benannt, und ich ließ sie in dem Glauben, denn dadurch hatte ich meine Ruhe vor ihr, als ich dir den Vornamen Felix gab.«

Meine Mom hat mir den Namen ihres älteren Bruders gegeben. Er stammt aus dem Lateinischen und bedeutet ›vom Glück begünstigt‹ oder ›erfolgreich‹. Der ursprüngliche Felix war weder das eine noch das andere.

Astrid hat mir viel von ihm erzählt. Sie standen sich sehr nahe. Er war zwei Jahre älter als sie. Astrid himmelte ihn an, und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Felix war gut aussehend und lustig und charmant und er passte schon von klein an auf meine Mom auf.

Denn Fredrik war ein gemeiner Vater. Er war sehr religiös, aber nicht auf eine nette ›Liebe-deinen-Nächsten‹-Art und Weise. Er war eher religiös im Sinne von ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹. Wenn der ursprüngliche Felix oder Astrid sich danebenbenahmen, kriegten sie den Gürtel. Felix ertrug es nicht zuzusehen, wie Astrid geschlagen wurde, also nahm er die Schuld für alles auf sich. Und er kriegte den Gürtel oft.

Mit sechzehn outete sich Felix bei seinen Eltern. Astrid glaubt, dass Mormor es verstehen wollte, weil sie Felix liebte. Aber ihr Vater war der Meinung, Homosexualität sei eine Sünde, und warf Felix raus.

Der ursprüngliche Felix war meiner Mom zufolge ein kluger, einfallsreicher Kerl. Aber er war erst sechzehn. Er musste Geld verdienen, um die Miete für ein Zimmer in einem heruntergekommenen Haus nahe Main Street und Hastings Street in Vancouver zu zahlen. Er bekam einen Teilzeitjob in einem Fast-Food-Restaurant, aber dort verdiente er nur den Mindestlohn. Also machte er noch andere Dinge, um mehr Geld zu verdienen, Dinge, wegen derer er sich schlecht fühlte und die ihn manchmal in Gefahr brachten.

Er fing an, Drogen zu nehmen. Astrid besuchte ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Sie sah, wie er immer weiter abrutschte, und versuchte ihm Hilfe zu verschaffen. Aber ich schätze, in Vancouver gibt es viele Leute, die Hilfe benötigen, und nicht genügend Leute, die ihnen helfen können.

Sie war diejenige, die ihn fand. Sie hatte ein paar Tage nichts mehr von ihm gehört, also ging sie zu seiner Wohnung. Er machte nicht auf, als sie klopfte. Ein Nachbar half ihr, die Tür aufzubrechen. Der Gerichtsmediziner sagte, er sei an einer versehentlichen Überdosis gestorben.

Astrid hat erzählt, ihr Vater habe bei der Beerdigung geweint und sie hätte ihm am liebsten mit bloßen Händen die Augäpfel herausgerissen.

Auf Grundlage meines S.H.I.T.s habe ich eine Theorie entwickelt, und die besagt, dass ich nicht sicher bin, ob meine Mom sich je ganz vom Tod des ursprünglichen Felix erholt hat. Natürlich kenne ich meine Mom nur N.U.F. (Nach dem Ursprünglichen Felix). Aber wie sie über ihn redet, dieser Ausdruck, den ihr Gesicht dann annimmt. Ich glaube, sein Tod hat etwas in ihr zerstört. Ich glaube, deshalb hat sie ein Rezept für Antidepressiva.

Sie behauptet gerne, der Tag, an dem ich geboren wurde, sei der glücklichste ihres Lebens gewesen. Und sie hat mich nach ihrem Bruder benannt, um sein Andenken lebendig zu halten. Ich glaube, deshalb möchte sie, dass ich sie Astrid und nicht ›Mom‹ nenne, weil der ursprüngliche Felix sie so genannt hat.

Ich weiß, dass manche Leute das komisch finden. Ich erinnere mich, dass andere Eltern in der Schule mich altklug fanden, weil ich sie Astrid nannte. Als sie jedoch mitbekamen, dass sie das so wollte, fanden sie sie altklug.

Ich versuche nur, ein bisschen die Zusammenhänge zu erläutern, bevor ich Astrids Krisen erwähne. So nennt sie das. Krisen. Sie hat sie im Laufe der Jahre immer mal wieder gehabt, aber normalerweise dauern sie nicht besonders lange – höchstens ein paar Tage. Während einer Krise bleibt sie im Bett, und ich übernehme das Kommando. Als Mormor noch lebte, hat sie das Kommando übernommen, aber nach ihrem Tod blieb es an mir hängen.

Beim ersten Mal war ich acht Jahre alt. Ich weiß nicht, was genau diese Krise ausgelöst hat; vielleicht war es die Tatsache, dass der Todestag des ursprünglichen Felix bevorstand. Eines Morgens stand Astrid einfach nicht auf. Also ging ich allein zur Schule und wieder nach Hause und machte uns zum Abendessen Sandwiches mit Erdnussbutter und Marmelade. Ich ging sogar pünktlich ins Bett, aber ohne meine Zähne zu putzen.

Am dritten Tag dieser Krise fragte meine Lehrerin, ob zu Hause alles in Ordnung sei. Ich sagte Ja. Sie erwiderte: »Du hast schon die ganze Woche dieselben Sachen an.« Am nächsten Tag nahm ich mir frische Klamotten. Aber eine der anderen Mütter rief meine Mom an und sagte, sie habe mich schon wieder allein nach Hause laufen sehen, und machte sie zur Schnecke. Astrid murrte etwas von »sich einmischenden Helikoptereltern«, doch am nächsten Tag schaffte sie es, sich aus dem Bett zu schälen und mich zur Schule zu bringen und wieder abzuholen. »Das Letzte, was wir gebrauchen können, ist irgend so ein Wichtigtuer, der das MKFE anruft.«

Ich glaube, da hörte ich zum ersten Mal vom MKFE.

Ich will nicht lügen, anfänglich hatte ich Angst, wenn Astrid ihre Krise hatte und ich übernehmen musste. Aber ich wurde ziemlich gut. Ich wusste, dass ich ein paar Tage, maximal eine Woche überstehen musste. Astrid versicherte mir immer, es ginge ihr ganz ordentlich, sie müsse da einfach durch, und sie schaffte es jedes Mal.

Sie schafft es immer.

Okay?

Sie schafft es immer.