Astrid hatte eine weitere Krise. »Ich habe so sehr versucht, Arbeit zu finden«, sagte sie ein paar Tage später unter ihrer Bettdecke hervor. »Ich verstehe nicht, wieso keiner mich einstellen will.«
Ich hatte meine ganz eigene Theorie: Seit Wochen war sie schon nicht mehr so sorgfältig, was ihre äußere Erscheinung anging. Ihre Sachen waren zerknittert. Sie sah erschöpft und ausgezehrt aus. Ihre Locken wirkten ungepflegt. Wenn ich all das sehen konnte, dann sahen es auch potenzielle Arbeitgeber. Aber ich sagte bloß: »Ich versteh es auch nicht.«
Eine Gib-dem-Frieden-eine-Chance.
Dann bekam ich eine fiese Erkältung. Der Stress, die Feuchtigkeit und Schlafmangel hatten schließlich mein normalerweise exzellentes Immunsystem lahmgelegt.
Obwohl ich mich wie ausgekotzt fühlte, schleppte ich mich in die Schule, denn der Gedanke, den Tag mit meiner depressiven Mutter eingesperrt im Bus zu verbringen, war zu viel. Außerdem kam die Novemberausgabe der Zeitung heraus, und die wollte ich sehen.
Dieses Mal war Winnies Artikel der erste im französischen Teil. Aus dem Gedächtnis und übersetzt lautete er ungefähr so:
»Du denkst, so was wird dir nie passieren«
Von der rasenden Reporterin Winnie Wu
Stell dir vor: Es ist kalt und dunkel und es regnet. Anstatt in dein warmes Bett in deinem warmen Zuhause zu schlüpfen, kriechst du auf ein Stück Karton in einem Hauseingang, eingemummt in einen verdreckten, schimmligen Schlafsack, und versuchst, wenigstens ein Auge zutun zu können, ohne verjagt oder verprügelt zu werden. Dies ist das Leben von Bob dem Barden. Er ist seit zwanzig Jahren obdachlos und sagt selbst: »Du denkst, so was wird dir nie passieren. Aber es kann jedem passieren.«
Und das stimmt! Wusstest du, dass Bob der Barde einen ganz normalen Job hatte? Er hat an der Universität studiert. Er hatte eine Frau und Kinder. Und jetzt schau ihn an. Ein paar unglückselige Ereignisse und – BÄM! Aber viele betrachten ihn, als sei er keiner von uns, als sei er kein richtiger Mensch, anstatt ihn als jemanden zu sehen, den das Glück verlassen hat und der unten geblieben ist. Unser Bürgermeister und unser Präsident reden viel darüber, der Obdachlosigkeit ein Ende zu setzen, aber Reden heißt nicht Handeln! Lasst euren Worten Taten folgen, liebe Politiker!
Und wir Übrigen, lasst uns versuchen, freundlicher zu sein! Denn – wenn ich ehrlich sein darf – ich habe festgestellt, dass bestimmte Leute in unserer Schule nicht sehr nett zu denjenigen sind, denen es vielleicht weniger gut geht. Aber weißt du was? Nur weil man weniger Geld hat, heißt das nicht, dass man als Mensch weniger wert ist. Manchmal ist es sogar so, dass man, je mehr Geld man hat, ein umso größerer Penner ist! […]
Et cetera. Der Artikel nahm anderthalb der drei französischen Seiten ein. Mein Kreuzworträtsel, die »Frohgemuten Französischen Fakten« (über die Entwicklung des Heißluftballons) und Dylans Fortsetzung über Poltergeister waren auf die übrigen Seiten gequetscht. Es machte uns nichts aus, denn wir wussten beide, dass das Winnies Traum war. Sie strahlte jedes Mal vor Freude, wenn ihr jemand ein Kompliment machte. »Danke«, hörte ich sie irgendwann sagen. »Ich habe vor, eine weltbekannte Journalistin zu werden, und dies ist nur ein kleiner Schritt auf dem Weg zu meinem Ziel.« Ach, Winnie.
Aber im Laufe des Vormittags wurde meine Erkältung schlimmer. »Alter«, flüsterte Dylan mir irgendwann zu, »du hörst dich an, als hättest du ein Lungenemphysem. Du solltest nicht in der Schule sein.«
Ich wusste, dass er recht hatte. Aber wo sollte ich sonst hin? Als es zur Mittagspause klingelte, bat Monsieur Thibault mich, noch kurz zu bleiben. »Du klingst furchtbar, Felix. Ich rate dir, nach Hause zu gehen und dich auszuruhen.«
Ich nickte.
»Wo wir gerade beim Thema Zuhause sind: Ist alles in Ordnung?« Er sagte das auf Englisch, was mich nervös machte.
»Ja. Wieso?«
»Du wirkst in letzter Zeit anders als sonst.«
»Alles in Ordnung. Ich bin bloß krank.«
Er betrachtete mich eine Weile eingehend. »Okay. Dann geh jetzt. Ab nach Hause.«
Welches Zuhause?, hätte ich am liebsten geschrien.
Ich lief nicht zum Bus zurück. Gerade verkraftete ich Astrid einfach nicht. Stattdessen ging ich in die Bücherei und schlief in einer der Lesekabinen ein.
Eine Stunde später wachte ich von Geraschel neben mir auf. Noch immer verschlafen, schaute ich auf. In der Lesekabine neben mir saß ein alter Mann. Er starrte mich unverwandt an und grinste breit. Dann bemerkte ich, wo das Rascheln herkam.
Er hatte sein Teil rausgeholt und hielt ihn in der Hand.
Ich sprang auf und rannte aus der Bücherei. Geschockt und schwach irrte ich den Broadway entlang. Ich ging in eine Buchhandlung und blätterte lange in Büchern. Das Personal war freundlich und gab mir nicht das Gefühl, als würde ich herumlungern. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich vermutlich meine Keime auf den Seiten hinterließ.
Mein Magen war wie wund vor Hunger. Zum Frühstück hatte ich nichts als einen mehligen Apfel gegessen. Ich lief Richtung Westen, am Ahmadi Lebensmittelgeschäft vorbei. Obst und Gemüse waren vor dem Schaufenster aufgetürmt, einschließlich Bananen. Ich liebe Bananen.
Ich dachte an mein Kontoführungsbuch, das im Bus lag. Es war doch bestimmt in Ordnung, wenn ich eine Banane nahm – nur eine – und die dann aufschrieb? Schließlich würde ich sie irgendwann für all die Sachen entschädigen, die meine Mom geklaut hatte.
Ich schaute mich um. Der Mann, der dort arbeitete – ich vermutete, es war Mr Ahmadi –, packte eine Kiste Orangen aus. Ich nahm einen Strunk Bananen, brach eine ab und steckte sie in meine Jackentasche. Dann ging ich weiter und versuchte, Astrids Rat befolgend, ruhig zu wirken.
Eine riesige Hand packte meine Schulter. »Junger Mann, du kommst besser mit mir mit.«
Mr Ahmadi schob mich an seiner Frau vorbei und nahm mich mit in einen winzigen, vollgestopften Raum im hinteren Teil des Ladens. Er starrte auf mich herab, die Arme vor seiner breiten Brust verschränkt. »Es tut mir leid«, sagte ich. »Es tut mir so leid.« Ich zitterte, sowohl vor Kälte als auch vor Angst. »Ich mach es nie wieder, versprochen. Ich habe noch nie im Leben was gestohlen.« Das stimmte. Meine Mom hatte jede Menge geklaut, aber ich nicht.
»Gib mir die Nummer von deinen Eltern. Ich werde sie anrufen.«
»Muss das sein?«
»Ja, das muss sein. Es scheint die einzige Möglichkeit zu sein, wie man euch Kindern klarmacht, dass Diebstahl kein Witz ist.«
Ich gab ihm die Nummer meiner Mom.
»Wie heißt du?«
»Felix. Felix Knutsson.«
»Es geht keiner ran«, sagte er.
Das liegt daran, dass sie eine Krise hat, dachte ich. »Ich versuche es mit meinem Handy. Sie wird rangehen, wenn sie meinen Namen auf dem Display sieht.«
Ich wählte. Mr Ahmadi bedeutete mir, ich solle ihm das Handy geben. »Hallo, ist da Felix Knutssons Mutter? Ich habe Ihren Sohn gerade erwischt, wie er eine Banane gestohlen hat … Ahmadi Lebensmittel auf dem Broadway … Ja, genau …« Als er aufgelegt hatte, sagte er: »Sie ist in einer halben Stunde hier.« Er setzte sich auf den schmalen Schreibtisch. »Weißt du, wie häufig die Kinder in diesem Viertel versuchen, uns etwas wegzunehmen? Sie denken, das macht nichts. Aber meine Frau und ich, wir arbeiten hart. Sieben Tage die Woche. Wir kommen über die Runden, aber nur gerade so. Wenn Menschen uns bestehlen, dann tut uns das weh. Wir sind diejenigen, die für die Kosten aufkommen müssen, und unsere Gewinnmarge ist ohnehin schon gering.«
Ich schämte mich zutiefst. »Es tut mir wirklich leid«, wiederholte ich.
»Warum hast du das gemacht? Eine Mutprobe? Nur zum Spaß?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich hatte Hunger.«
Er betrachtete mich von oben bis unten. »Du bist dürr wie eine Bohnenstange. Kriegst du genug zu essen?«
»Ja«, sagte ich. »Meistens.«
»Schwierige Zeiten zu Hause?«
»Nur eine kleine Pechsträhne.« Plötzlich knurrte mein Magen.
In dem stillen Zimmer klang es besonders laut.
Mr Ahmadi reichte mir eine Banane. »Iss.«
Ich versuchte, langsam zu essen. Aber ich war so hungrig, dass ich sie einfach hinunterschlang. Mr Ahmadi verzog keine Miene. »Bleib hier.« Er verließ den Raum. Ich sah, wie er mit seiner Frau redete.
Einen Augenblick später kam Mr Ahmadi mit zwei großen in Folie verpackten Muffins zurück. »Meine Frau sagt, du würdest uns einen großen Gefallen tun, wenn du die isst. Ihr Verfallsdatum läuft heute ab.«
Ich aß beide. Sie waren köstlich. »Danke.«
Astrid kam nur wenige Minuten später. Sie sah aus, als sei sie gerade erst aufgewacht. »Er hat eine Banane gestohlen?«, fragte sie Mr Ahmadi.
»Das ist richtig.«
»Wie viel kostet eine Banane? Fünfzig Cents?« Astrid holte ihr Portemonnaie heraus. Sie ließ sich Zeit und zählte ihr ganzes Kleingeld einzeln auf den Tresen, während wir drei ihr dabei zuschauten. Ich sah, dass sie das mit Absicht machte, und ich hasste sie dafür. »So. Da haben Sie Ihr Geld.«
»Astrid«, sagte ich. »Hör auf.«
»So viel Aufhebens wegen ein bisschen Obst.«
Auf einmal wirkte Mrs Ahmadi angespannt. »Es geht nicht nur um das Obst«, sagte sie. »Ihr Junge hat Hunger.«
Astrids zorniger Gesichtsausdruck schwand; darauf hatte sie keine Antwort. »Komm«, sagte sie zu mir. Sie drehte sich um und wollte gehen.
Mr Ahmadi fixierte mich mit seinem Blick. »Bleib stark, Felix.« Ich hatte das Gefühl, als könnten er und seine Frau einfach durch mich hindurchsehen. Und das machte mich wahnsinnig, also rannte ich einfach meiner Mom hinterher.