1. Eine Geschichte
Es heißt, damals, als die Götter noch die Erde besuchten und unter den Menschen wandelten, kam eine Göttin auf einer ihrer Reisen in ein grünes Tal. Dort lebte ein Schäfermädchen in einer kleinen Hütte, die aus kaum mehr bestand als aus einem Dach über dem Kopf und ein paar Wänden zum Schutz vor Regen und Wind. Die junge Hirtin hütete die Schafe und zählte sie und sang ihnen Lieder vor.
Die Göttin hörte das Schäfermädchen singen, und in ihrem Herzen brannte plötzlich Sehnsucht.
Damals, so heißt es, kannten die Götter noch keine Sehnsucht.
Es heißt weiter, dass sie einen langen Sommer miteinander verbrachten, die Göttin und das Mädchen, umgeben von Blumen und Schafen und Gesang. Die Wolken waren sehr nah, wenn sie über den tiefblauen Himmel zogen, und die Göttin pflückte sie vom Himmel, verwandelte sie in Perlen und schenkte sie der kleinen Hirtin.
Es heißt, sie seien glücklich gewesen.
Aber natürlich gehen Geschichten, in denen die Götter vorkommen, nie gut aus, und auch mit dieser nahm es ein böses Ende.
Denn die Götter lagen immerzu im Krieg miteinander. Und so kam es, dass einer der Götter vorbeikam und das Glück der beiden sah und grimmigen Zorn darüber empfand. Die Geschichte verrät nicht, warum. War die Göttin seine Geliebte, seine Schwester, seine Rivalin? Doch vielleicht brauchen die Götter auch keinen Grund, um einander zu hassen. Sie sind nicht wie wir Menschen, und ihre Herzen sind nicht wie unsere Herzen.
Der Gott wartete, bis die Göttin am Ende des Sommers das Mädchen zum Abschied küsste und ihre Schürze mit Perlen füllte. Wartete, bis nicht einmal mehr ihr Schatten ins Tal fiel.
Dann streckte er die Hände aus und rief die kalten Winde und bedeckte die blühenden Wiesen mit Schnee. Die Blumen erfroren und die Schafe drängten sich schutzsuchend aneinander. Er klopfte an die Tür der Hütte, wo die Hirtin die letzten Holzscheite in den Ofen legte, und bat um Obdach. Er war freundlich, wie nur die Götter freundlich sein können, und lächelte, wie nur die Götter lächeln können, und gewann das Vertrauen des Schäfermädchens. Der Ofen ging aus, und um nicht zu erfrieren, ließ sich die Hirtin von dem Gott wärmen, ohne zu ahnen, wer er war.
Als er schließlich weiterwanderte, ließ auch er ein Geschenk zurück, und nach weniger als einem Jahr gebar das Schäfermädchen ein Kind.
Die Göttin war außer sich, als sie von diesem Betrug erfuhr. Sie kam in das Tal mit der Macht eines Frühlingssturms und rüttelte an den Wänden der Hütte. Das Schäfermädchen hatte die Tür verriegelt und Fensterläden zugesperrt. Zitternd wartete sie auf das Ende des Sturms.
Endlich war es vorbei, und sie ging hinaus und nichts war mehr übrig von den Wiesen und dem Tal, nur Steine und Eis und Einöde. Und während sie sich noch umsah, hörte sie ein Weinen hinter sich, sie stürzte zurück in die Hütte und fand die Wiege leer vor.
Da verließ die Hirtin das Tal, und die Göttin kehrte dorthin zurück, wo die Götter wohnen und sich bekriegen.
Es heißt, es sei eine der alten Geschichten aus uralter Zeit.
Und dann wieder heißt es, die Geschichte sei jung. Sie sei gerade erst passiert.
Die Götter wetzen das Messer, um sich gegenseitig zu vernichten. Die Hirtin lebt unter uns. Und was aus dem Kind oder aus den Schafen wurde, davon wissen wir nichts. Fragt jemand anderen.