2. Kalissas Zimmer
kral
ist das unerträgliche Kratzen eines Fingernagels auf einer Schiefertafel.
kral
ist der Schweiß auf deiner Stirn, während du dich mit Bauchschmerzen in deinem Bett krümmst und nicht weißt, wie du entfliehen sollst.
kral
ist das Entsetzen, das dich überkommt, wenn du begreifst, dass du einen Fehler gemacht hast. Du bist einem Betrüger aufgesessen und sie lachen über dich und es gibt keinen Weg, deine Schande jemals rückgängig zu machen. Da ist nur dieses bittere, ausgefranste, zerknitterte, zerrissene Fühlen, das dir den Atem verschlägt. Beiß die Zähne zusammen und warte, bis es vorüber ist.
An Zähne zu denken ist schon mal schlecht. Träume von splitternden Zähnen, die dir aus dem Mund fallen – kral
.
Eiterbeulen, die aufplatzen – kral
. Juckende Pusteln an den falschen Stellen. Flüsternde Nachbarn. Richtige Worte in missgünstigen Ohren.
kral!
Wenn es einen Tod gäbe, der dunkel und geheimnisvoll und lautlos daherkommt, einen Tod, wie ihn, so heißt es, die Kriegermönche des Eisgottes Keioron schenken – scharf und kalt –, so ist dies nicht kral
. kral
ist eine andere Art von Sterben, zitternd und fluchend auf einer schweiß- und uringetränkten Matratze, übel und elend bis zum Schluss. Es ist kral
, jemandem dabei zuzusehen, den man liebt, und kalte Tücher auf eine fiebrige Stirn zu legen und Speichelfäden abzutupfen und den Durchfall wegzuwischen, der die Betttücher durchweicht, und sich danach in eine Schüssel zu übergeben. Das ist kral
.
Und sich später, wenn sie die Leiche wegtragen, auf dem Fußboden zu krümmen und zu heulen, eine ganze Nacht.
Man spricht nicht davon. Man sagt es nicht. Man versucht, es nicht zu fühlen.
Es gibt Leute, die wissen nichts von kral
. Oder wenn es ihnen begegnet, erkennen sie es nicht. Sie ahnen nichts davon, was hinter allem lauert, von dieser Fratze des Grauens.
Dieses Leben ist kral
. Von kral
durchdrungen. Jeder Atemzug, befleckt und zerfurcht.
Nein. Denke es nicht. Wasch dir das Gesicht. Tupfe den Schweiß und die Tränen ab und verbrenne die schmutzigen Laken. Es hat dich berührt und irgendwann zieht es seine Hand wieder von dir ab. Hoffentlich.
In der Hoffnung ist kein kral
.
***
»Du bist nicht die Einzige«, sagte ihr Vater leise. Der Löffel klapperte gegen den Rand seiner Tasse, während er umrührte, und er schaute Malia dabei nicht an.
»Was? Wobei?«, fragte sie zurück. Ihr eigener Tee war schon kalt. Sie goss die Kräuter auf, so wie ihre Mutter es getan hätte, die leise gemurmelten Worte süß wie der Honig, den sie nicht hinzufügte. Sie ließ das Gebräu ziehen und seihte es ab. Die Handbewegungen ruhig, gleichmäßig, ohne darüber nachdenken zu müssen. Sie stellte die Tassen hin. Und vergaß dann zu trinken.
»Sie war nicht nur deine Mutter«, sagte Nio. »Sie war meine Frau und ich habe sie geliebt. Aber das ist jetzt ein halbes Jahr her, und ich kann dir nicht länger dabei zusehen, wie du dich zerstörst.«
Malia hob den Kopf. »Ich zerstöre mich? Ich bin doch bloß traurig, Vater. Und es ist vier Monate und sieben Tage her. Keinen Tag länger.«
»Ich will wieder dein Lachen hören, Kind. Ich will wieder sehen, wie du durchs Haus wirbelst und wie du Pläne schmiedest und singst und dich über deine Flaschen und Kräuter beugst.« Und noch leiser fügte er hinzu: »Ich will nicht eingeschlossen sein mit dir wie in einem Sarg. Nicht einmal mit dir, meine liebe Tochter. Dann gebe ich dich lieber weg.«
Es war so ungerecht. Denn es waren nicht ihre Flaschen und Kräuter gewesen. Das alles hatte ihrer Mutter gehört. Gemeinsam hatten sie darüber gebrütet, wie besonders schweren Fällen zu helfen sei. Gemeinsam hatten sie gesungen und waren durchs Haus getanzt. Ihre Mutter hatte sich das von grauen Strähnen durchzogene Haar aufgebunden, und sie waren herumgesprungen und hatten Lieder geschmettert, bis die Nachbarn an die dünnen Wände klopften. Kalissa hatte Malia die Sprüche beigebracht und sie gelehrt, mit feinem Gespür auf das zu horchen, was andere verbargen.
»Sei ein Spiegel«, war einer ihrer liebsten Sprüche gewesen. »Zeig dem anderen, was in ihm ist. Wirf seine Sehnsucht zurück in sein Herz. Mach aus dem Funken der Liebe einen Brand.«
Nio hatte das alles mit einem säuerlichen Lächeln geduldet. Er war nur ein Zuschauer gewesen. Er wusste nicht, wie es sich anfühlte, mit den Füßen zu stampfen und die Arme in die Luft zu werfen und die Worte zu finden, als würden sie vor einem schweben wie Früchte, die man nur vom Baum pflücken musste.
Zu singen.
»Von Hako und Gowin,
von Sommer und Frucht,
Jarinder, dem Frühling,
der den Neuanfang sucht.
Von Diran, dem Tänzer,
dem Doppelgesicht,
und Ran, der Jagdmaid,
laut lachend im Licht.«
Das uralte Lied von den Acht zu singen, von den Göttern, die den Kreis des Lebens bedeuteten. Die Kraft alles Lebendigen zu fühlen und die zarten Keime der Liebe in den Herzen anderer Menschen zu entdecken und zu pflegen.
Ihr Vater wusste nicht, was es bedeutete, den Menschen zu verlieren, der einem die Welt geöffnet hatte, die einzige Freundin, die einzige Person, mit der man lachen konnte.
Und davon konnte sie nicht singen.
Schweig von kral
, hieß es.
Sing von den Acht, und schweig von kral
.
»Was soll das überhaupt heißen, du gibst mich weg? Ich bin keine Katze.«
»Ich denke darüber nach, dich zu verheiraten«, sagte Nio.
Er kam Malia seltsam fehl am Platz vor in der kleinen Küche, an dem kleinen Tisch. Sonst hatte immer Kalissa mit ihr in der Küche gesessen, während ihr Vater den einzigen Sessel in der guten Stube in Beschlag belegte, um dort Pfeife zu rauchen und in die Luft zu starren. Er hatte früher selten Tee getrunken, höchstens dann, wenn draußen kniehoch Schnee lag. »Obwohl ich weiß, dass es dadurch noch einsamer wird. Wenn das der einzige Weg ist, um dich aus deinem Selbstmitleid zu reißen, werde ich ihn gehen.«
»Was?« Sie starrte ihn an. »Selbstmitleid? Ich versinke in Selbstmitleid?« Dagegen interessierte sie seine Drohung, sie zu verheiraten, weniger. Er würde es ja doch nicht wagen. Ein Mann, der sein Leben damit verbracht hatte, sich vor den Nachbarn zu verstecken, um sich nicht ihre Beschwerden über seine Frau und ihren Beruf anzuhören, würde seine einzige Tochter nicht gegen ihren Willen vermählen.
»Du sitzt nur rum und machst dir Vorwürfe, Kind.«
»Nein! Ich sitze rum? Ich habe einfach nichts ...« Zu tun, hatte sie sagen wollen.
Doch ein Klopfen unten an der Haustür unterbrach sie.
»Erwartest du jemanden?«, fragte ihr Vater, obwohl sie nie Besuch bekam.
»Vielleicht Doril? Aber um diese Zeit?«
Draußen war es schon dunkel. Doril, der Schneider aus der Nebenstraße, kam regelmäßig vorbei, um mit ihrem Vater ein Schwätzchen zu halten und nach ihr zu sehen. Er war einer der wenigen Menschen, die sich nicht um das Gerede der Leute scherten. Wenn ihr Vater davon sprach, sie zu verheiraten, meinte er höchstwahrscheinlich ihn. Aber so freundlich Doril auch war – er war fast so alt wie ihr Vater, hatte eine breite Nase und einen prächtigen Schnauzbart. Auf seine Art war er durchaus imposant. Aber seine Frau zu werden? Der Gedanke war lächerlich. Geradezu kral
.
Nio stand auf und ging an die Tür. Einen Moment lang fürchtete Malia, er könnte Doril tatsächlich herbestellt haben, um wegen einer Eheschließung mit ihm zu verhandeln. Nein. Das würde er ihr nicht antun. Es war eine leere Drohung gewesen, nichts weiter.
Wo blieb er dann?
Beunruhigt schlich sie die Treppe bis zum Absatz hinunter, um vorsichtshalber nachzusehen. Ihr Vater stand immer noch an der Tür und unterhielt sich im Flüsterton mit einem fremden Besucher, den er in diesem Augenblick über die Schwelle bat.
»Die Treppe ist sehr steil, Herr«, entschuldigte er sich. »Malia, hol die Lampe.«
»Nicht nötig. Es wird schon gehen«, sagte der Fremde höflich. Er folgte ihnen die Stufen hoch in die kleine Wohnung und sah sich mit schlecht verhohlener Neugier um, während er sich den Hut tiefer ins Gesicht zog.
Malia musterte ihn, denn oft konnte sie erraten, warum die Leute hergekommen waren. Es half ihr, Eindruck zu schinden, wenn sie ihren Kunden auf den Kopf zusagen konnte, worin ihre Probleme bestanden. Der Mann war groß und schlank; der grobe braune Mantel reichte ihm kaum bis zu den Knien. Seine glänzenden polierten Stiefel waren entschieden zu teuer für diese Wohngegend. Auch der etwas zu groß geratene Filzhut konnte aus diesem Besucher keinen Bewohner ihres Viertels machen. Seine Hände, die aus den zu kurzen Ärmeln ragten, waren schlank und sehr gepflegt, mit sauberen, akkurat geschnittenen Fingernägeln. Die Ringe hatte er abgenommen, aber die roten Streifen an seinen Fingern bewiesen, dass er noch vor kurzem welche getragen hatte. Bestimmt waren sie aus Gold gewesen, mit Diamanten besetzt.
Was wollte einer der Reichen hier? Alle im Viertel wussten, dass es hier keine Kräuterfrau mehr gab. Bis in die hohen Paläste hatte sich das wohl noch nicht herumgesprochen, doch diese Art von Kunden hatte ihre eigenen, hoch angesehenen Zauberer, die viel mächtiger waren als eine kleine Liebeszauberin. Wenn ein Aristokrat verkleidet herschlich, hatte er meist ein besonders peinliches Anliegen. Malia spürte, wie sich alles in ihr verkrampfte.
»Ich fürchte, ich kann Euch nicht helfen«, sagte sie steif.
»Das wäre sehr schade«, erwiderte der Mann mit seiner leisen, kultivierten Stimme. »Du bist meine letzte Hoffnung.« Zögernd fügte er hinzu: »Du bist doch Kalissa, die … Zauberin?«
»Ich bin Malia, ihre Tochter. Meine Mutter ist tot. Es tut mir leid, dass Ihr umsonst gekommen seid.«
Der Fremde verschränkte seine schönen Hände und seufzte. »Dann bin ich verloren«, murmelte er.
»Oh nein, noch ist gar nichts verloren«, meinte Nio betont munter. »Meine Tochter hat alles von ihrer Mutter gelernt. Bestimmt kann sie Euch helfen. Was schadet es, wenn Ihr sie es versuchen lasst?«
»Was soll das?«, zischte Malia ihm zu.
Ihr Vater hob die Hände. »Wolltest du nicht etwas zu tun haben? Sprich mit ihm, behandle ihn. Was auch immer.«
»Ich darf niemanden behandeln«, erinnerte sie ihn. »Ich habe keine Lizenz.«
Der Adlige räusperte sich. »Mir ist das egal«, sagte er. »Wenn Ihr mir nur … einen Trank oder etwas in der Art verkaufen könntet.«
»Siehst du. Ihm ist es egal.« Ihr Vater lächelte aufmunternd.
»Aber mir nicht! Die Nachbarn könnten uns anzeigen, wenn ich ohne Lizenz arbeite.«
»Was, ähm …« Der Gast nahm seinen Hut ab und fuhr sich mit den Fingern nervös durch sein kurzes blondes Haar. Malia starrte ihn an. Er war einer der attraktivsten Männer, die sie je gesehen hatte. Kinn und Wangen glatt rasiert, ein schöner, nicht zu breiter Mund, eine kühne Hakennase und graue Augen voller Panik.
»Ich brauche eine Lizenz«, beharrte sie. »Vielleicht haben ihn die Zauberer geschickt, um herauszufinden, ob ich ohne Lizenz arbeite.«
»Die Zauberer würden nicht herkommen«, sagte der hübsche Blonde schüchtern. »Sicherlich nicht. Und von mir erfährt niemand etwas.«
»Und warum«, fuhr sie ihn an, »geht Ihr mit Eurem Problem nicht zu den Zauberern?«
Er ließ sich nicht abwimmeln. »Wenn du mir hilfst, werde ich mich dafür einsetzen, dass du eine Lizenz erhältst«, schlug er vor. Er wandte sich an Nio, was eine Frechheit war. »Ist sie wirklich so gut wie ihre Mutter?«
Langsam hatte Malia genug. »Na, dann kommt.« Sie öffnete die Tür zu der Kammer, die Kalissa gehört hatte. »Bringen wir es hinter uns. Wenn ich verhaftet werde«, rief sie ihrem Vater zu, »habe ich wenigstens einen Grund für Selbstmitleid!«
Sie knallte die Tür zu.
Der hochgewachsene Mann stand eine Weile reglos mitten im Raum. In dem winzigen Zimmer wirkte er noch größer. Und noch viel mehr fehl am Platz. »Ich kann nicht fassen, dass ich das tue«, murmelte er.
»So.« Betont munter wandte sie sich ihm zu. »Was führt Euch her? Eine üble Krankheit? Wo tut es weh? Bevor ich eine Arznei verkaufe, muss ich die Stelle sehen. Daran führt leider kein Weg vorbei.«
Der Fremde schluckte. Dann sagte er mit dieser sanften Stimme, die mehr über seine Herkunft verriet als die glänzenden Stiefel: »Ich habe keine Krankheit.«
»Ach nein?« Sie wollte sich nicht anmerken lassen, wie erleichtert sie war.
»Man sagte mir … ich habe gehört … du, das heißt, deine Mutter, könnte in … gewissen Angelegenheiten ... helfen?«