4. Das Schloss am Berg
Der Königspalast war in den Hang hineingebaut, in einen der felsigen Ausläufer, die sich in das Tal und die Stadt Berrin hineinkrallten wie die langen Klauen eines versteinerten Riesen. Die Unterstadt lag im Süden, zwischen den Hügeln und dem alten Flussbett des Berl, das schon seit zweihundert Jahren kein Wasser mehr führte. Nun schlängelte sich der Berl in zahllosen Windungen mitten durch die Südstadt. Die Oberstadt reichte bis zu den Palastmauern und schloss das große Gebäude von der anderen Seite ein. Ringsum ragten die weißen Gipfel des Berriner Gebirges in die Wolken.
Die Stadt wirkte wie ein Kleinod in den Händen eines monströs großen Riesen. Oder eines Gottes. Das traf es vielleicht besser. Nur dass dieser Gott ziemlich wütend war.
Die Mauer, die den Palast schützte, entsprang den Felsen und legte sich wie ein eng geschnürter Gürtel um die Festung. Die Wachen am Tor stampften ab und zu mit den Füßen, damit diese nicht einfroren. Sie legten ihre klammen Finger um ihre Hellebarden, die im Schein der untergehenden Sonne funkelten; das Glitzern war selbst von hier oben zu sehen.
Ke-Achan, der sich oberhalb des Tals im Gestein verbarg, hinter einem zähen Gestrüpp, das sich zwischen den Steinen festgeklammert hatte und der Kälte und dem Wind trotzte, lächelte über so viel Dummheit. Die Wächter legten ungeheuer viel Wert darauf, dieses hohe, schmale Tor zu schützen, und dabei erhob sich die Bergflanke steil und zerklüftet direkt hinter dem Nordturm. Von dort, so dachten sie wohl, würde keiner kommen. Kein Mensch konnte auf diesem Weg in den Palast gelangen.
Nun, sie hatten recht. Ein normaler Mensch würde das nicht fertigbringen. Aber ein Kriegermönch durchaus.
Während Ke-Achan wartete, holte er sein Messer heraus und brach einen Ast ab. Sorgfältig schälte er die Rinde ab und kratzte dann mit der Klinge über das harte Holz. Nicht ideal, um Figuren zu schnitzen, doch um ein paar Ornamente hineinzutreiben, eignete es sich hervorragend. Es gab kaum eine Holzart, mit der sich überhaupt nichts anfangen ließ.
Einen Moment zögerte er, als er das Messer ansetzte, dann lächelte er wieder. Direkt vor ihm flatterte eine der Fahnen, die an allen Zinnen und Türmen des Palastes angebracht waren. Darauf prangte der goldene Baum des Hauses Vandi, dessen letzter Spross Königin Le-Iva war. Sie war seit vielen Jahren Witwe, kinderlos und offenbar ohne neue Heiratsabsichten; mit ihr würde das uralte Geschlecht Vandis aussterben. Der magische Baum würde verdorren, und wie würde dann der nächste Herrscher bestimmt werden? Konnte es überhaupt einen rechtmäßigen Erben geben? Mit dem Ende der Fehde zwischen der Königin von Berrin und dem Gott des Eises würde auch das Königtum untergehen.
Niemand legte sich ungestraft mit den Mächtigen des Himmels an. Die Götter siegten immer.
Oben auf dem Felsen ritzte Ke-Achan eine geschlängelte Linie in den Stab. Blätter und Früchte sprossen daraus. Jedes Blatt erhielt feinste gekräuselte Umrisse und Blattadern, hauchdünn wie ein Haar. Mit derselben Sorgfalt widmete er sich dem Abbild einer Apfelblüte, aus deren zarten Blütenblättern der Stempel und die Staubgefäße herausragten. Nichts davon war größer als ein Reiskorn. Er arbeitete, bis das schwindende Licht es ihm unmöglich machte, die Details zu erkennen. Hier und da färbte ein gelblicher Schein die Fensterscheiben. Der Turm vor ihm blieb dunkel.
Ke-Achan schob das Messer in den Gürtel unter seinem schwarzen Mantel und beugte sich vor. Direkt unter ihm fiel der Berghang senkrecht ab; der nächste Vorsprung befand sich etwa sechs Lanzen unter ihm – nach den Maßeinheiten des Ordens, wo man für ein Lanzenmaß nicht nur eine Manneslänge berechnete, sondern etwa einen Kopf dazugab. In der Dunkelheit war die schmale Fläche nicht zu erkennen, aber Ke-Achan kannte diesen Berghang auswendig. Er würde nicht danebenspringen.
Um das Gleichgewicht zu wahren, breitete er die Arme aus, während er nach unten schwebte. Von hier aus konnte er direkt in eins der Zimmer hineinsehen. Dunkle Schatten bewegten sich hinter dem Glas. Bis an die breite Brüstung unter dem Fenster waren es etwa zehn Lanzen – selbst für einen Kriegermönch eine kaum überbrückbare Distanz. So weit und hoch die Ordensbrüder auch springen konnten, wie ein Vogel zu fliegen gehörte nicht zu ihren Gaben. Er musste abschnittsweise bis an den Fuß der Mauer hinunterschweben und sich dann langsam an der Fassade des Palastes hocharbeiten.
Der Abgrund zwischen dem Hang und dem Gebäude war ein Teil der Nacht. Undurchdringliche Finsternis.
Er sprang und schwebte sanft hinunter, landete auf einem Stein und stieß sich von dort wieder ab. Neben ihm ragte die Masse der Festung auf, wuchtig und gewaltig, als wäre sie auch einer der unzähligen himmelhohen Berge des Berriner Rückens.
»Die Götter siegen immer«, flüsterte er, als er die Hand an die Mauer legte.
Unter seinen Fingern schienen die Steine zu vibrieren. Ein heftiger Schlag schleuderte ihn zurück. Um nicht am Felsen zerschmettert zu werden, warf er sich herum, sodass er mit den Füßen zuerst gegen das Gestein prallte, sprang dann hoch und stieß gegen einen kleineren Vorsprung, an dem er sich festklammerte.
Sein Herz klopfte heftiger, als es sollte.
Er hätte berücksichtigen müssen, dass Königin Le-Iva die Festung mit Magie absicherte. Oft genug hatte Ke-Achan die Zauberer schon beobachtet – Kreaturen in weißen Gewändern und staubgrauen Mänteln, goldene Abzeichen am Kragen. Satte, verfettete Schwächlinge, die naserümpfend durch die Stadt schlurften und die man trotzdem nicht unterschätzen durfte. Die Königin war nicht dumm; natürlich wusste sie, welche Gefahr in den Bergen lauerte. Der Gott hatte Berrin in den letzten Jahren in Ruhe gelassen, doch Le-Iva konnte sich denken, dass der Angriff kommen würde – irgendwann, wenn sie am wenigsten damit rechnete.
»Verdammt«, flüsterte er. »Du hättest es mir vorher sagen können, Keioron.«
Er fühlte, wie seine Arme schwer wurden. Der Turm war immer noch zu weit entfernt. Und doch … einen Versuch war es wert. Mit den Fingerspitzen an einem Felsvorsprung zu hängen, fiel nicht unter Ke-Achans Vorstellung einer erfolgreichen Nacht.
Vorsichtig blickte er über seine Schulter auf das in der Finsternis liegende Gemäuer. Die Vorsprünge dort waren nicht zu erkennen. Er würde grob die Richtung abschätzen müssen, ohne zu sehen, wo sich Brüstungen befanden, an denen er sich festhalten konnte. An einer glatten Mauer zu kleben mochten andere für eine Spezialität der Kriegermönche halten, aber ganz so einfach war es leider nicht.
Falls auch dieser Teil des Palastes durch Magie geschützt war, würde er dagegenprallen und abstürzen. Wenn er Pech hatte, war Le-Iva vorsichtig genug gewesen, jedes einzelne Fenster, jede Öffnung, jeden Balkon, jeden Kamin mit einer magischen Barriere versehen zu lassen. Doch vielleicht waren sie und ihre Zauberer auch nicht so vorausschauend, wie er befürchtete, und der Zauber im unteren Teil des Palastes war dazu da, die Verliese zu schützen, und nicht zur Abwehr von Eindringlingen gedacht.
Hoffentlich.
»Lass mich nicht hängen, Keioron«, flüsterte er, als er sich für einen anderen Weg entschied. Das nächste erleuchtete Fenster war noch ein gutes Stück weiter als der Turm, aber die Brüstung stützte sich auf zwei armdicke Pfeiler, die fest in der Mauer verankert waren und mit ihr jeweils ein offenes Dreieck bildeten. Ke-Achan bewegte seine Beine, um in Fahrt zu kommen, schwang sich einige Male hin und her und ließ dann los.
Er stürzte nach vorne, doch als seine Flugbahn sich ihrem höchsten Punkt näherte und dabei war, sich in einen Sturz zu verwandeln, sammelte er die Kraft in seinen Händen und warf sie mit aller Macht nach unten.
Der Strahl unsichtbarer Kraft traf unten auf den Fels; der Rückstoß katapultierte ihn gegen die Mauer.
Ke-Achan schlang die Arme um den Pfeiler, im selben Moment, als er gegen den Palast krachte, und hielt sich fest. Das war gerade noch gut gegangen. Eine Weile brauchte er, um wieder zu Atem zu kommen. Dann warf er das Bein über die Brüstung und kletterte mit leisem Lachen zum Fenster hoch.
Das Sims war gerade breit genug, um mit beiden Knien recht unbequem darauf zu hocken. Der Blick durch die Scheibe war nicht besonders spektakulär; dafür allein hätte sich die Mühe nicht unbedingt gelohnt.
Das Zimmer war prunkvoll ausgestattet. Die Wände, mit hellgelben Stofftapeten bespannt und mit Gemälden in goldenen Rahmen behängt, umgaben ein großes Gemach, in dem die filigranen Möbel mit den zierlich gedrechselten Beinen verloren wirkten. Schränke und Kommoden waren nur Beiwerk, obwohl jedes einzelne Stück von erlesener Schönheit war, mit Intarsien und vergoldeten Knäufen verziert. Auffällig war das riesige Bett. Die Pfosten, die den Stoffhimmel hielten, waren aus einem golden schimmernden Holz, das nicht aus den heimischen Wäldern stammen konnte; vermutlich war es aus Arit importiert oder einem anderen der Königreiche des Südens. Die aufwendigen Schnitzereien am Kopfende hätte er sich gerne aus der Nähe angesehen, schließlich wusste er gute Handwerkskunst zu schätzen.
Trotz der verschwenderischen Pracht gefiel das Zimmer Ke-Achan. Nur sein Beobachtungsposten hätte günstiger ausfallen können; langsam schliefen ihm die Beine ein. Wenn jemand nah an die Scheibe herangetreten wäre, hätte er seine dunkle Gestalt dahinter unweigerlich bemerkt, doch das Paar im Bett hatte nichts weniger im Sinn, als das Fenster zu öffnen und in die Nacht hinauszublicken.
Ungerührt schaute Ke-Achan zu, wie sie sich in den seidenen Laken wälzten, und wartete darauf, dass sie endlich die Lampe löschten. Als der Kopf der Frau sichtbar wurde, sah er genauer hin, doch es war nicht die Königin. Das hätte ihn auch gewundert, denn die königlichen Gemächer lagen im Mittelteil des Palastes, mit Blick auf die Stadt, und nicht direkt vor dem Berghang. Aber was wusste er schon über die Gewohnheiten der Königin, andere Schlafzimmer zu besuchen? Er hatte Le-Iva zwar noch nie aus der Nähe gesehen, aber diese Dame hier war viel zu jung.
Das Durcheinander von Armen und Beinen versetzte ihn nicht in Erregung – oder höchstens ein bisschen. Die göttliche Kraft, die ihn zu einem tödlichen Krieger machte, half Ke-Achan auch dabei, alle Versuchungen des Fleisches oder des Herzens abzuwehren. Es brauchte etwas mehr als ein Paar wie dieses, um ihn dazu zu verleiten, Keiorons Regeln zu brechen.
Es hätte ihm jedoch nicht gefallen dürfen, dass sie zärtlich zueinander waren. Der Eisgott liebte Schmerz und Gewalt, Hass und Verzweiflung und Geschrei. Er gestattete alles, was mit Wut und Kälte und Leid einherging. Nicht solche sanften Küsse und das Gemurmel und die Liebesschwüre, die zweifellos dort drinnen getauscht wurden, auch wenn Ke-Achan die Worte hinter der Fensterscheibe nicht hören konnte.
Endlich stand der Mann auf und löschte das Licht.
Ke-Achan wartete noch eine Weile. Seine Finger wurden klamm; kaum gelang es ihm, auf dem Sims sitzen zu bleiben und sich am Fensterrahmen festzuhalten. Eigentlich hätte er gar nicht frieren dürfen. Die Diener des Eisgottes waren angeblich durch die Kraft und spezielle Übungen gegen Kälte gefeit. Noch so ein Irrtum, und auch in diesem Fall wäre es ihm durchaus lieb gewesen, wenn die Gerüchte gestimmt hätten. Zu frieren war wie atmen – mit keinem davon konnte er aufhören.
Er unterdrückte ein Zittern, als er das Messer aus dem Gürtel holte und zwischen die beiden Fensterflügel setzte. So scharf und dünn es auch aussah, es wurde weder stumpf, noch konnte es jemals brechen. Jeder Mönch besaß eine solche Waffe, die er niemals hergab; wie seine menschlichen Diener waren auch ihre Werkzeuge durchdrungen von der Kraft Keiorons.
Mit einem leisen Knacken brach der Riegel und das Fenster schwang auf. Ke-Achan stieg ins Zimmer. Ohne den geringsten Laut berührten seine Füße den Boden.
Vom Bett her kam ein gurrendes Geräusch. »Oh, mein Lieber!« Die Frau kicherte.
Ke-Achan verlagerte sein Gewicht auf den vorderen Fuß.
»Mein Herz, mein Alles!«
Er grinste in sich hinein, während er zur Tür schlich. Was waren diese Menschen doch dumm und peinlich. Ihr Leben flog dahin mit Essen und Trinken und schalen, vergänglichen Freuden wie diesen. Das wahre Sein fand oben in den Bergen statt, im Eis, dort, wo die Gedanken zu echter Klarheit fanden, nicht hier in den Niederungen.
Die Tür zu öffnen war der kritischste Moment. Der Flur konnte beleuchtet sein – in dem Fall könnten die beiden im Bett ihn sehen, wenn er hinausschlüpfte. Womöglich würde er herumstreunenden Schlossbewohnern in die Arme laufen. Einer Gestalt im schwarzen Kapuzenmantel zu begegnen, würde dem ahnungslosesten Edelfräulein einen schrillen Schrei entlocken, der die Wächter auf den Plan rief – wenn er denn nicht gleich auf ein paar Soldaten traf. Oder, noch besser, auf einen Zauberer.
Ke-Achan verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln.
Die beiden Liebenden merkten nichts, als er ihr Zimmer verließ. Und er hatte Glück; die Tür ging nicht auf einen Flur hinaus, sondern führte ihn in ein weiteres prächtiges Gemach. Hier brannte kein Licht. Behutsam musste er sich einen Weg zwischen Tischchen und Kommoden hindurchbahnen.
Sobald er den breiten Gang erreicht hatte, kam er endlich schneller voran. Die Wächter auf ihrem Rundgang machten ausreichend Lärm, um ihn vorzuwarnen. Rechtzeitig schlüpfte er in Nischen oder versteckte sich hinter Säulen. Keine Zauberer, gut. Ein paar Edelleute, die heimlich aus Türen schlüpften, über den Flur huschten und in anderen Zimmern verschwanden, in denen sie mit großer Wahrscheinlichkeit nichts zu suchen hatten.
Immer noch keine Zauberer, obwohl er sich dem Bereich näherte, in dem die Königin persönlich lebte. Wie leichtsinnig.
Dafür vermehrt Wachen.
Ke-Achan drückte sich in den Schatten einer lebensgroßen Statue, während sie vorbeimarschierten.
Die Bilder an den Wänden wurden immer schöner. Selbst die Kraft Keiorons vermochte es nicht, ihm den Sinn für diese Schönheit zu nehmen und ihn gänzlich unberührt daran vorbeischleichen zu lassen.
Gemälde, auf denen die Farben ineinanderflossen und sich wieder trennten – Gewitterhimmel. Schiffe auf dem aufgepeitschten Meer. Wolken über Tälern, das hohe Gras im unsichtbaren Wind geneigt. Schlachtszenen, wo sich blutende Pferde unter den Leibern der Gefallenen wanden.
Erschauernd ging er weiter, verbarg sich vor zwei Mädchen, die leise tuschelnd und kichernd vorbeischwankten – Edelfrauen waren das wohl nicht –, und stieg leichtfüßig eine breite Treppe hinauf. Nur eine einzige Tür trennte ihn noch von seinem Ziel. Das Abbild des Königsbaums, das darauf prangte, war das beeindruckendste Schnitzwerk, das Ke-Achan je gesehen hatte. Es war betörend schön, ganz anders als die gewebten oder gestickten Bäume auf den Fahnen oder die Malereien draußen auf dem Tor. Schöner als alles andere. Der Baum schien zu leben, zu wachsen und zu blühen. Das Holz, obwohl vor Jahrhunderten geschlagen und bearbeitet, verströmte einen feinen, fast fruchtigen und nur leicht harzigen Duft. Jede einzelne Blüte, jedes Blatt, jede Frucht und jeder Vogel in den Ästen war lebensecht herausgearbeitet. Er war viel schöner als der echte Baum im Schlossgarten, jenes halb verkümmerte Gerippe aus vertrocknetem Holz und ein paar letzten, kümmerlichen Blättern.
Ke-Achan verharrte eine Weile, in den Anblick der Tür versunken, dann streckte er die Hand aus und ließ sich selbst ein.