5. Die Königin von Berrin
Lautlos und schnell zu sein war das Wichtigste für einen Kriegermönch. Schneller als der Schatten eines Blattes, das zu Boden fällt. Im Gang standen zwei Diener und unterhielten sich leise, aber für sie war er nicht mehr als eine Bewegung in den Augenwinkeln, und als der eine stutzte und sich der Tür zuwandte, war nichts Verdächtiges zu sehen. Ke-Achan unterdrückte ein Lachen. Er hatte sich mit ausgestreckten Armen nach vorne geworfen, sich über den Rücken abgerollt und war hinter einer großen Vitrine verschwunden, wo er wartete, bis die beiden Diener den Weg in die inneren Gemächer der Königin frei machten.
Von Raum zu Raum huschte er als schwarzgekleidete Gestalt. Niemand sah ihn. Niemand hörte ihn. Manch einer schien Ke-Achans Blick im Nacken zu spüren und drehte sich um und sagte leise: »Ich dachte …«, und ging dann weiter. Ke-Achan verließ sich darauf, dass sie das seltsame Gefühl wieder vergaßen und nicht Alarm schlugen.
Und immer noch keine Zauberer.
»Geh«, sagte eine Stimme, nicht laut und nicht leise, sanft, aber befehlsgewohnt. »Ich brauche dich heute nicht.«
Er lugte um die Ecke in den nächsten Raum und wusste, dass er die Königin gefunden hatte.
Le-Iva trug nichts als einen seidenen Schlafrock. Ihr dunkles Haar wurde von grauen Strähnen durchzogen und fiel ihr lang und leicht gewellt über die Schultern. Sie sah herber aus, als er erwartet hatte – schön, ohne wirklich hübsch zu sein. Ein markantes Kinn, eine kräftige Nase, ausgeprägte Wangenknochen. Dichte Brauen über den ausdrucksstarken Augen. Die zweite Frau im Raum war wesentlich schöner, doch da sie nicht mit Le-Ivas Ausstrahlung mithalten konnte, wirkte sie zugleich unscheinbarer. Sie trug Kleider, die diese Bezeichnung kaum verdienten. Ihre hauchdünne Tunika über einer weiten Hose verbarg kaum etwas, weder die Wölbung ihrer Brüste noch die unendlich langen, wohlgeformten Beine. Das üppige Haar war glänzend schwarz, ohne ein einziges graues Haar dazwischen. Die Frau konnte höchstens Mitte zwanzig sein, nicht viel älter als Ke-Achan. Mit dunkelrot geschminkten Lippen lächelte sie die Königin an.
»Seid Ihr sicher?« Enttäuschung malte sich in ihren Zügen.
»Geh, Asati«, wiederholte die Königin. »Ich habe meine Wünsche deutlich genug geäußert.«
Die junge Frau sah Le-Iva mit ruhigen, ernsten Augen an und lächelte nicht mehr. »Das habe ich verstanden«, meinte sie. »Und ich will nicht unehrerbietig scheinen ... Doch ich würde gerne noch ein wenig bleiben. Lasst mich einfach in Eurer Nähe sein.«
Sie wartete, doch die Königin schwieg, und ohne ein weiteres Wort drehte Asati sich um und ging.
Beinahe hätte Ke-Achan den richtigen Zeitpunkt verpasst, doch gerade rechtzeitig schlüpfte er hinter einen Vorhang.
Die jüngere Frau verließ den Raum. Mit einem schweren Seufzer trat die Königin ans Fenster, das, ganz wie Ke-Achan erwartet hatte, auf die leuchtende Stadt Berrin hinausging. In der Dunkelheit der Herbstnacht leuchteten unzählige kleine Lichter.
Eine grauhaarige Dienerin erschien auf der Schwelle. »Braucht Ihr noch etwas, Majestät?«
»Nein, danke, Nara«, sagte die Königin, ohne sich umzudrehen.
Die Dienerin entfernte sich beinahe so lautlos wie ein Kriegermönch.
Ke-Achan hinter dem Vorhang hielt den Atem an, als Le-Iva noch näher ans Fenster trat und die Hand nach dem Riegel ausstreckte. Kühle Nachtluft wehte herein und bauschte die Vorhänge. Die kleine Lampe auf dem Tischchen neben dem Bett erzitterte im Luftzug. Ihm war, als würde er sich von außen sehen: Eine dunkle Gestalt mit einem Messer in der Hand, bereit zum Zustechen. Der Schatten beugte sich vor …
Die Königin schloss das Fenster wieder, tappte in weichen Pantoffeln zum Bett und setzte sich mit dem Rücken zur Stadt auf die Bettkante.
Sofort schnellte Ke-Achan hinter dem Vorhang hervor und rollte über den dicken Teppich, wo er auf der anderen Seite des Bettes liegen blieb. Er hörte, wie die Königin sich hinlegte; die Matratze raschelte, und der feine Duft parfümierter Gänsefedern stieg ihm in die Nase. Er konnte die Samtpantoffeln unter dem Bett hindurch sehen; es rührte ihn mehr an, als es sollte. Leise kroch er näher; zwischen dem mit poliertem Holz bedecktem Boden und der Schlafstätte war genug Platz, um sich zu verstecken. Doch er hatte kaum den Kopf unter das Gestell geschoben, als ihn etwas in den Rücken traf.
»Ke-Achan.« Eine Stimme, die in seinem Kopf erklang, unhörbar für jeden anderen im Raum. Trotzdem dachte er verzweifelt: Nicht jetzt, oh nicht jetzt! Bitte!
Doch der Gott hatte kein Mitleid. »Du hast die Königin gesehen. Was hältst du von ihr? Erfüllt dich schon die Vorfreude auf ihren Tod?«
»Nicht jetzt!«, rief Ke-Achan ihm in Gedanken zu. »Sprich später mit mir. Das Licht ist noch an, Le-Iva könnte mich sehen. Sie muss sich nur aufsetzen und wird mich entdecken, wie ich neben dem Bett liege!«
Der Gott lachte. »Was sie zweifellos sehr erschrecken wird. Nicht jeder bekommt Besuch von meinen Dienern. Oh, sie soll sich fürchten! Sie soll erzittern und die Angst in ihrem Herzen fühlen, die wächst und wächst, ein Baum, der in den Himmel ragt! Sie hat es doch mit Bäumen, ist es nicht so? Pflanzen wir den Baum ihrer Furcht. Panik blüht in den Zweigen und Lähmung bildet kleine, harte Früchte. Mit Angst wird sie sich zu Bett legen und mit Angst wieder aufstehen.«
»Aber …« Ke-Achan versuchte, dem harten Griff der Gotteshand zu entkommen und unter das Bett zu kriechen, aber wie jedes Mal, wenn der Eisgott zu ihm sprach, konnte er sich nicht bewegen. Die Kälte lähmte ihn von Kopf bis Fuß. Er spürte die Krallen des Gottes an seiner Hüfte. Es geschah nicht wirklich, und doch war es, als kniete Keioron auf ihm und hielte ihn mit beiden Händen gepackt.
»Wenn die Königin mich sieht, kann ich sie nicht so töten, wie es sich gebührt. Lass mich endlich meine Arbeit tun!«
Wieder lachte der Gott. »Mein Sohn, dein Eifer rührt mich, doch ich habe es mir anders überlegt. Le-Iva soll nicht heute Nacht sterben. Was für eine Rache wäre das, wenn sie nicht einmal merkt, dass sie stirbt? Erschrecke sie. Pflanze den Keim der Angst in ihr Herz. Man nennt sie die traurige Königin? Die zitternde Königin soll man sie schimpfen. Sie soll zusammenfahren, wenn ein trockenes Blatt neben ihr zur Erde fällt. Vor jedem Schluck Wein soll sie sich fürchten, denn er könnte vergiftet sein. Keine Mahlzeit wird sie genießen. Keiner Geliebten und keinem Diener wird sie vertrauen. Die Soldaten, die hinter ihrem Rücken flüstern, wird sie ins Verlies werfen, voller Sorge, sie könnten Ränke gegen den Thron schmieden. Wird sie jemals wieder eine ganze Nacht durchschlafen? Oh, ich glaube nicht.«
Ke-Achan hörte notgedrungen zu. Er hob den Kopf, um Einwände zu erheben, doch der Gott packte ihn am Nacken und schüttelte ihn wie einen ungehorsamen Hund.
»Gefällt dir das nicht, mein Sohn? Willst du an meinem Plan herummäkeln? Willst du erleben, was es bedeutet, mir zu trotzen?«
Ke-Achan spürte die vertraute Ohnmacht herannahen und wehrte sich mit aller Kraft dagegen, das Bewusstsein zu verlieren. Er war so wütend, dass er kaum an sich halten konnte. »Schnell! Lautlos! Schmerzlos!«, schrie er Keioron entgegen. »Das Messer legt sich auf die Haut wie eine Schneeflocke, kalt und schön. So wird es gemacht! Ein Tod voller Schrecken, wie du ihn verlangst, ist kral
. Und kral
ist nicht göttlich!«
Die eisigen Hände des Gottes strichen über seine Haut, es fühlte sich an, als würden Eiszapfen auf ihn niederprasseln. Vor Schmerz biss Ke-Achan sich auf die Zunge.
»Du willst mir sagen, wie meine Rache auszusehen hat? Du, Kleiner? Du, der du mein Diener bist, mein Sklave, den ich mit dem kleinen Finger zerquetschen kann? Niemand legt sich mit mir an. Nicht du. Und auch nicht diese jämmerliche Gestalt von einer Königin. Sie schickt ihre Mätresse weg? Oh, sie wird bereuen, dass sie das schöne Mädchen nicht ein letztes Mal unbeschwert genossen hat. Denn morgen beginnt das, was ich an ihr tue. Morgen wird sie erwachen und ihre Welt verändert finden, eine Welt, in der die Furcht blüht und Früchte trägt. Ein bitterer Geschmack auf ihrer Zunge, der nie vergeht …«
Der Griff lockerte sich, während der Gott von seiner Rache schwärmte. Ke-Achan bekam wieder Luft, auch wenn er immer noch so fror, dass er sich nicht gewundert hätte, wenn er in kleine, gefrorene Stückchen zersprungen wäre wie eine aus Eis gehauene Statue.
»Mach mich stolz«, flüsterte Keioron ihm ins Ohr. Dann war er fort.
Ke-Achan lag immer noch neben dem Bett der Königin, sichtbar für jeden, der ins Zimmer kommen könnte. Das Blut rauschte in seinem Schädel. Seine Fingerspitzen kribbelten, der Schmerz wurde für eine kurze Zeit sogar noch intensiver, bevor er allmählich nachließ. Es fühlte sich an, als würden seine Gliedmaßen mit schmerzhaftem Pochen auftauen. Mühsam und zitternd schleppte er sich unter das Bett. Über ihm wälzte sich Le-Iva schlaflos hin und her.
Das würde eine lange Nacht werden.