6. Eisblumen
Kurz vor dem Aufwachen konnte Le-Iva so tun, als würde sie noch schlafen. Sie konnte sich vorstellen, dass sie träumte, dass sie die ganzen letzten Jahre geträumt hatte.
Und wenn sie die Augen aufschlug, würde sie das geliebte Gesicht vor sich sehen. Die zerzausten braunen Locken über der Wange, die Lider schwer vom Schlaf, den Abdruck des Kissens auf der sonnengeküssten Haut.
»Ist denn schon Morgen?«, würde Avi grummeln, und Le-Iva würde die Hand ausstrecken und eine der dicken Locken um ihren Finger wickeln.
»Aufstehen, Schlafmütze.«
Avi kniff die Augen zusammen. »Nein. Ich denke nicht daran. Ich schlafe noch.«
Sie würde so unwiderstehlich aussehen, dass Le-Iva näher rückte und sie auf die Wange küsste und ihren traumdurchtränkten Duft tief einatmete.
»Avi«, flüsterte sie.
Es war nicht ihr richtiger Name, aber er war so gut wie irgendein Name. Er genügte. Ein Name, um den Feind abzulenken, diesen Feind, der glücklicherweise nicht allwissend war und doch immer zu viel wusste. Einen Feind, den niemand sich wünschte. Nur an seine Macht zu denken, ließ Le-Iva erschauern.
Der Name war gut und er genügte, aber alles andere würde niemals genügen. Sie hatten zu wenig Zeit. Jedes Jahr, jeder Monat, jeder Tag und jede Nacht rannen durchs Stundenglas in einer Geschwindigkeit, die Le-Iva schwindlig machte.
»Avi«, sagte sie noch einmal. »Avi, bitte.«
Avis Hände griffen zu. Ihr Lachen war dreckig. Niemand hatte so ein Lachen wie dieses wilde Mädchen mit den himmelblauen Augen und den Locken, die so braun waren wie fruchtbare Erde. Jede Strähne ihres üppigen Haares fühlte sich an wie eine Schlange, die ihr durch die Finger glitt.
»Wir wollten aufstehen«, sagte Le-Iva.
»Du bist immer so pflichtbewusst.« Avi ließ ihre Hände unter der Decke wandern und fündig werden, und Le-Iva vergaß ihre königlichen Pflichten für eine Weile, so wie immer. Sie schaffte es nie, Avi zu widerstehen. Die Jahre rannen durchs Stundenglas, und jeder Augenblick war kostbar. Jeder Moment in Avis Armen war wie ein Blatt am magischen Baum des Hauses Vandi.
Warme Hände legten sich um ihre Brüste. Warme Finger strichen kitzelnd über ihre Haut, fuhren die Kurve ihrer Taille nach, verharrten an ihrem Hüftknochen, wanderten weiter. Avi hielt ihre Augen geschlossen, eine kleine Falte hatte sich zwischen ihren Brauen gebildet.
»Was ist?«
»Ich suche etwas. Ach, ich glaube, ich habe es gefunden.« Und wieder lachte sie, rau und laut, und ihr Lachen versetzte Le-Ivas ganzen Körper in Schwingungen, noch mehr als ihre kundigen Finger, und sie lehnte die Stirn an Avis Stirn und ihre Nasenspitze berührte Avis Nase. Sie duftete nach Blumen und Heu.
So glücklich zu sein. Wie konnte man glücklich sein, wenn man wusste, dass es schon bald enden würde, und wie ...
Jemand schrie, und die Erinnerung, in der Le-Iva noch viel länger schwelgen wollte, brach ab.
»Die Königin ist tot! Die Königin ist tot!«
»Was?« Le-Iva blinzelte.
Vor ihrem Bett stand Nara, ihre Dienerin, die so viel mehr war als das, den Mund vor Schreck groß aufgerissen. »Ihr lebt!«
»Natürlich lebe ich«, sagte Le-Iva verärgert. Sich von Avi zu lösen, selbst wenn es nur in einem Traum war, fiel ihr schwer. »Warum schreist du so laut?«
»Ihr blutet, Majestät. Überall ist Blut!«
Le-Iva setzte sich auf und versuchte, die Benommenheit abzuschütteln. Ihr Rücken schmerzte bei jeder Bewegung. Hatte sie sich gekratzt? Eben noch war Avi bei ihr gewesen. Was war ein Traum, was geschah wirklich? Ihr Laken war rot und nass. »Was ist passiert?«
»Seid Ihr verletzt? Habt Ihr Schmerzen? Ich rufe den Heilzauberer!« Nara eilte davon. Manchmal fiel es ihr schwer, sich den anderen Palastbewohnern gegenüber verständlich zu machen, doch der Zauberer würde gegen ihre Hartnäckigkeit keine Chance haben. Le-Iva hätte sie gerne zurückgerufen, aber es war zu spät.
Als Nächstes spähte ihre zweite Kammerzofe, Ulinne, ins Schlafzimmer. Ulinne hatte nicht dieselben Probleme, gehört zu werden. Sie schrie laut, und dann waren da die Wächter, und als Nächstes war das königliche Schlafzimmer voller Leute. Die Leibwachen, die Zofen, sogar Asati stürzte ins Zimmer.
Asati, deren Augen groß vor Schreck waren.
Asati, die aussah, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. Das war neu.
»Bringt sie hier raus«, befahl Le-Iva. »Sofort.« Von ihren vier Mädchen war Asati die undurchschaubarste. Manchmal kühl, manchmal wild, manchmal wie in Trance, als würde sie nichts fühlen. Asati war ein Rätsel – ein Mädchen wie aus rauchschwarzem, gehärtetem Glas und Schnee.
Doch nun stand das Entsetzen in den großen dunklen Augen. Das war zu viel Gefühl; es bewirkte, dass Le-Iva sich schwach fühlte. Verletzt. Sie sah sich nach Nara um, streckte die Hand nach ihr aus, doch Nara schüttelte nur den Kopf und runzelte die Stirn. Sie wirkte besorgter als jemals zuvor.
»Könnt Ihr Euch bewegen?«, fragte ein Mann und schob die alte Dienerin unsanft zur Seite. Das weiße Gewand mit dem goldenen Kragen wies ihn als Zauberer aus. Drei Streifen am Kragen und das Abbild einer Distel; ein Heilmagier. »Meine Königin?«
Le-Iva spürte das Brennen auf ihrer Haut, als sie sich aufsetzte. »Was ist eigentlich passiert?« Es waren zu viele Leute um sie herum. Ungeduldig wedelte sie mit der Hand, damit sie sich entfernten. Zu viele starrende Augen und aufgerissene Münder.
Wenn Avi noch bei ihr gewesen wäre ... Hätte sie gelacht oder wäre sie entsetzt gewesen? Hätte sie geschrien und einen wilden Tanz aufgeführt, oder ihre Hand gehalten, so wie Nara es jetzt tat, die beruhigend ihren Handrücken tätschelte?
»Haltet still, Majestät. Ich bin Meister Jadden, der Erste Heiler. Wir sind uns noch nicht begegnet, da ich erst vor einigen Tagen nach Berrin gekommen bin. Das Archiv hat mich als Ersatz für Euren früheren Meisterheiler ausgewählt.« Er winkte den beiden jüngeren Gehilfinnen, die er mitgebracht hatte. »Wir müssen das Blut abwaschen.«
Ulinne trat hilfsbereit vor und reichte den Adeptinnen eine Wasserschüssel. Für ein Mädchen von kaum vierzehn Jahren war sie bereits recht vorausschauend. Doch an den Anblick von Blut war sie nicht gewöhnt. Sie war blass und zitterte; hoffentlich kippte sich nicht gleich um. Da sie für ihr Alter sehr groß war und den meisten Männern mühelos in die Augen schauen konnte, hielten viele sie für älter, als sie war, und erwarteten das Verhalten einer Erwachsenen von ihr.
Die beiden Frauen lösten das blutverschmierte Laken, das an ihrer Haut klebte, vorsichtig ab, und wuschen ihr den Rücken. Dann betrachteten sie Le-Iva, ohne etwas zu sagen.
Es war zum aus der Haut fahren.
»Und, wie schlimm ist es?«
»Das ist keine Wunde, sondern ein ... Kunstwerk«, sagte der Heilmagier. »Bringt einen Spiegel. Besser noch zwei.«
Endlich konnte Le-Iva ihren Rücken betrachten – und was sie sah, verschlug ihr den Atem. Es war keine Verletzung, wie sie sich vielleicht durch eine zerbrochene Tasse hätte zuziehen können, die irgendwie in ihr Bett geraten war. Auf ihrer Haut prangte in feinen Linien aus getrocknetem Blut ein kunstvoll ausgearbeitetes Muster. Sie verrenkte sich halb den Hals, während sie es betrachtete. Eine Woge von Kälte durchströmte sie.
Dieses Muster. Blumen, die miteinander verbunden waren, kunstvolle Linien, die sich wie rote Girlanden über die blasse Haut zogen. Es war wunderschön. Es wäre noch schöner gewesen, wenn es sich nicht ausgerechnet auf ihrem Rücken befunden hätte.
»So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte Meister Jadden. Er klang beeindruckt und beeilte sich hinzuzufügen: »Das tut mir unendlich leid, Majestät. Wart Ihr betrunken? Betäubt? Hat eine eurer Mätressen ...?«
Le-Iva fuhr sich über die Stirn. Sie suchte Naras Blick, doch Naras Gesicht verriet nichts von dem, was sie dachte, und in Jaddens Gegenwart würde sie nicht sprechen. »Nein. Nichts davon. Ich muss mich im Schlaf geschnitten haben.«
Aber niemand schnitt sich aus Versehen ... so. Genauso wenig, wie man sich schminkte, indem man gegen einen Türrahmen lief.
Blumen. Schneeflocken. Eisblumen.
Nara machte eine ungeduldige Handbewegung, und Ulinne schloss das offen stehende Fenster. »Ein Teil des Vorhangs fehlt. Und … bei den Göttern, seht Euch die Scheibe an!« Die Kleine hatte sich ein Beispiel an Naras Schweigsamkeit genommen und sprach nicht viel, doch jetzt vergaß sie ihre Zurückhaltung. »Seht doch!«
Le-Iva setzte sich auf die Bettkante, ließ sich zurücksinken und zuckte zusammen. Es tat weh. Nicht unerträglich, aber doch spürbar. Schlimmer waren die Gefühle, die in ihrem Inneren aufstiegen und sich langsam entfalteten, während der Schock nachließ: Angst und Wut. An die Wut war sie gewöhnt, doch die Angst ... Seit wie vielen Jahren kämpfte sie gegen die Angst? Wer sich mit den Göttern anlegte, brauchte nicht einfach bloß Mut, sondern ein gewisses Maß an Wahnsinn.
»Ich gebe Euch etwas, um die Schmerzen zu lindern«, sagte der Heilmagier. »Und dann werde ich versuchen, die Schnitte zu heilen. Danach wird man nichts mehr sehen.«
»Das wird Euch nicht gelingen«, sagte Le-Iva. »Dessen bin ich mir gewiss. Versucht es lieber gar nicht erst.«
»Aber ...« Der Mann war ein Magier, nur so war zu erklären, dass er ihr widersprach. Sein Vorgänger war an ihrer Sturheit gescheitert; zudem hatte er sich nicht mit ihrem Hofzauberer Eridan vertragen. Jadden, der erst seit einigen Tagen im Palast weilte, hatte es sich höchstwahrscheinlich bereits mit den anderen Magiern, die ihr dienten, verscherzt, sonst hätten sie ihn vor ihr gewarnt. Gewöhnliche Menschen wussten es besser, als einer Königin Widerworte zu geben.
»Ihr werdet mir nicht sagen, wie wir verfahren«, sagte sie kühl.
Er zuckte nicht einmal zurück. Magier waren so. Während sie einen Wächter oder einen Adligen längst in seine Schranken gewiesen hätte, verließen sich die Zauberer darauf, dass ihre Macht sie vor jeglicher Strafe schützte. Dabei war Jadden nur ein Heiler. Er konnte nicht mit Feuer werfen oder die Erde unter ihren Füßen öffnen. Er sollte sich besser vorsehen.
Andererseits wusste sie nicht, welcher Natur seine Magie war. Jede Kraft war einzigartig und komplex und bot die eine oder andere Überraschung.
»Majestät, je früher ich an die Arbeit gehe, umso besser sind die Aussichten, dass keine Narben zurückbleiben.«
»Ihr habt keine Ahnung, womit Ihr es hier zu tun habt.« Wenn die Götter beschlossen, einen Menschen zu zeichnen, konnte man ihr Siegel nicht abwischen wie Kreide von einer Tafel. »Geht. Und ruft Meister Eridan her.«
Eine kleine, ärgerliche Falte bildete sich zwischen den Brauen des Heilers. Offenbar war er dem Palastmagier schon begegnet, und die beiden hatten keine Freundschaft geschlossen. Eridan war unter den anderen Magiern nicht unbedingt beliebt. Sie bemühten sich, ihre Streitigkeiten nicht vor den Augen der Königin auszutragen, doch Le-Iva war weder taub noch blind. Der königliche Meistermagier war arrogant, launisch und machte sich mit jeder Äußerung Feinde, doch er war der Beste. Nur aus diesem Grund war er am Hofe. Seine charakterlichen Unzulänglichkeiten interessierten sie nicht.
»Er ist kein Heilmagier. Wäre es nicht besser, wenn ...«
»Habe ich mich unklar ausgedrückt?«, fragte Le-Iva. »Oder wünscht Ihr, Euer Gehör in der stillen Einsamkeit Eurer Kammer zu pflegen?«
Jadden starrte sie einen Moment zu lange an, dann nickte er. »Ich verstehe. Wie Ihr wünscht, ich rufe Meister Eridan. Selbstverständlich. Und falls ich sonst etwas tun kann ...«
Ungeduldig winkte sie ihn weg. Seine Gehilfinnen raschelten hinter ihm her.
Le-Iva atmete auf. Je weniger Menschen ihr Schlafzimmer bevölkerten, umso besser. Nara lächelte endlich wieder, während Ulinne nervös auf ihrer Unterlippe kaute.
»Ich will mich anziehen«, sagte sie zu ihr. »Bring mir ein Kleid, das am Rücken offen ist.«
Das Mädchen eilte in den Nebenraum, das Zimmer der Holzpuppen, wo die königlichen Gewänder, drapiert auf lebensgroßen Holzkörpern, auf ihren Einsatz warteten.
»Sag es«, wandte Le-Iva sich an Nara.
»Er.«
Nur ein einziges Wort, aber sie beide wussten, was bedeutete. »Ja«, stimmte sie zu. »Daran besteht kein Zweifel. Wir wussten, dass es eines Tages dazu kommen würde.«
Die Dienerin sammelte die blutigen Tücher ein. Das Bett sah aus, als hätte eine Geburt stattgefunden. Oder ein Schlachtfest.
»Und, hast du sonst nichts dazu zu sagen, Nara?«
Nara streckte die Hand aus und tätschelte Le-Ivas Wange. »Du musst stark sein, Kind.«
»Ich musste schon immer stark sein. Das ist nicht neu.«
Man mochte sie die Königin der Tränen nennen, aber sie war nicht wie eine Weide, die sich über das Wasser beugte, still und traurig. Sie war von jeher anders gewesen – eher wie der Baum Vandi, knorrig und hart, die verschlungenen Äste wie Arme, die sich um den eigenen Mittelpunkt drehten, um sich selbst festzuhalten. So war es schon immer gewesen. Sie hatte sich ihre Stärke erkämpft. Sie hatte nicht geweint, sondern ihre Tränen gesammelt.
Nur jetzt, in diesem Moment, wünschte sie sich, Avi wäre da.
Avi, die das Kinn hob, deren Augen funkelten, Avi, die lachte. Laut, dreckig, mit ihrer rauen, leicht heiseren Stimme.
Avi, die sich vor nichts und niemandem fürchtete, denn das war ihre Natur. Nichts, was sie mühsam erringen musste, was sie hätte vorspielen können. Avi hatte ihre Rolle an Le-Ivas Seite gespielt, aber sie war keine Schaustellerin, die Masken trug und dem staunenden Publikum ein Stück vorspielte. Avi war echt.
Die Sehnsucht griff nach ihr, verflocht sich mit ihrer Angst.
Wenn nur Avi hier gewesen wäre. Dann wäre alles möglich.
»Dieses Kleid, ist Euch das recht?« Ulinne kam zurück, ein tief ausgeschnittenes Samtkleid über dem Arm.
Es war zu fein, zu kostbar mit dem Perlenbesatz und den verzierten Säumen, aber warum nicht? Vielleicht war heute gerade der Tag, an dem die Königin jedem zeigen musste, dass sie eine wahre Königin war – unerschrocken. Unverwundbar. Mächtig.
Nicht einmal der Feind aus dem Eis konnte daran etwas ändern.
»Es ist perfekt.«
Ulinne grinste. Sie hatte eine kleine Zahnlücke und sah in diesem Moment aus wie zwölf. »Vielen Dank, Majestät. Wünscht Ihr, nach dem Ankleiden zu frühstücken?«
Le-Iva hatte keinen Hunger und noch weniger Appetit, aber jede Änderung in der Palastroutine würde zu Gerede führen. Sie wollte nicht noch mehr Gerede. »Ja, ein kleines Frühstück. Asati soll mir Gesellschaft leisten.«
Das Mädchen würde ohnehin keine Ruhe geben, bis sie sich davon überzeugt hatte, dass es Le-Iva gut ging. Ihre Anhänglichkeit ging leider in eine gefährliche Richtung; Asati sollte nicht in Versuchung geraten, ihren Platz zu vergessen und sich etwas darauf einzubilden, dass sie die Favoritin der Königin war. Vielleicht wäre es sogar die beste Lösung, sie wegzuschicken; es gab genug andere schöne Frauen in Berrin, die sich über einen Platz in Le-Ivas Bett freuen würden. Doch nicht heute. Heute, mit der kalten Angst in ihrem Herzen und den blutigen Eisblumen auf ihrem Rücken, würde sie sich erlauben, sich von Asatis Lächeln und ihrer Zuneigung trösten zu lassen.
Das Problem Asati galt es an einem anderen Tag zu lösen.
Sie bewegte sich vorsichtig. Das Kleid war hinten offen, wie sie es gewünscht hatte, doch der Saum kratzte über eine der Eisblumen. Jede der feinen Linien war eine Wunde. Für die anderen mochte es hübsch aussehen, für Le-Iva bedeutete es bloß Schmerz.
Jedes Stechen, jedes Brennen fachte ihre Wut an.
Eridan sagte nichts.
»Habt Ihr keine Meinung dazu, Meister?«, fragte Le-Iva.
Eridan war jünger als Meister Jadden. Er war ein großer, breitschultriger Mann, dessen Alter sich schwer schätzen ließ. Er konnte Mitte dreißig sein oder Ende fünfzig, sein schwarzes Haar noch ohne jede graue Strähne. Man hätte ihn für einen Soldaten halten können in entsprechender Tracht – für einen Befehlshaber. Das weiße Magiergewand, das unter seinem dunkelgrauen Mantel hervorblitzte, wirkte an ihm wie eine Priesterrobe, und mit der Autorität eines solchen sprach und handelte er – als hätte er eine lebendige göttliche Macht hinter sich. Seitdem er das Zimmer betreten hatte, war er konzentriert bei der Sache. Er hatte Le-Ivas Rücken betrachtet und sich gleich danach dem Fenster zugewandt, wo er das ins Glas eingeritzte Muster eingehend untersuchte – das Spiegelbild der Ornamente, die sich nun auf ihrer Haut befanden.
Nun drehte er sich zu ihr um. Sie hatte ihn noch nie so fassungslos erlebt. »Es ist ... erstaunlich.«
»Wie kann man das ins Glas malen? Mit einem Diamanten?«
Eridan gab seine Gedanken nicht preis. »Ich hörte, es wurde noch etwas gefunden?«
Le-Iva winkte dem Wächter, der neben der Tür bereitstand, und er reichte dem Zauberer die Holzstücke, die Ulinne vom Teppich aufgelesen hatte und die in der Aufregung zuerst unbemerkt geblieben waren. »Was haltet Ihr davon?«
»Ein Stock?«, murmelte er. »Nein, zwei. Ein zerbrochener Stab.«
Die wirre schwarze Mähne hing ihm ins Gesicht, während er mit höchster Konzentration die dritte Merkwürdigkeit dieses Vormittags untersuchte. Seine dunklen, brennenden Augen wirkten auf viele einschüchternd oder gar verstörend, Le-Iva war sein Anblick so gleichgültig wie seine schlechten Manieren. Sie brauchte nur seine Macht und sein Wissen.
»Der Baum Vandi«, murmelte er. »Der Zweig steht für den Baum. Das ist Euch doch klar? Es sollte Euch klar sein. Mitten entzweigebrochen. Sie sind nah. Sie sind hier. Wer sind Eure Feinde, Majestät?«
»Das wollte ich von Euch hören.« Sie kannte ihren Feind, aber sie wollte sich auch davor hüten, zu schnell Schlüsse zu ziehen. »Habt Ihr auch irgendetwas Nützliches zu sagen?«
»Das Muster auf Eurem Rücken ... das sind Eisblumen.« Er wandte sich zum Fenster und zeigte mit dem Finger auf das Glas. Seine Nägel liefen spitz zu und waren leicht gebogen. Ein Schauer lief durch Le-Ivas Adern. »Als hätte Frost die Scheibe überzogen … Es war offen heute Morgen?«
Der Wächter nickte. Es war einer der Zwillinge; zwei junge, rundgesichtige Männer, die sie nicht unterscheiden konnte.
Eridan wandte sich wieder der Königin zu. »Ihr habt mich rufen lassen, um eine Antwort zu finden, die Ihr Euch längst selbst gegeben habt.«
»Es ist nicht möglich.« Er hatte recht; natürlich kannte sie die Antwort. Sie ließ es zu, dass seine Worte ihre Wut weiter anfachten, damit ihre Angst nicht überhandnahm. »Wie kann das möglich sein? Die Wächter waren vor der Tür, in den Gängen. Es sind gute Leute, handverlesen und bewährt. Jedem von ihnen würde ich mein Leben anvertrauen.« Le-Iva war die Sorge in den Augen des Wachmannes nicht entgangen. Es hatte Könige gegeben, die ihre Untergebenen für weniger zu einem schändlichen Tod verurteilt hatten. »Ich habe nichts gemerkt, nichts gehört, nichts gesehen. Hätte ich es nicht spüren müssen, wenn jemand hier im Zimmer war? Oder können sie einem das aus der Entfernung antun?«
Der Zauberer schüttelte den Kopf. Er wusste genau, von wem sie sprach. »Einer von ihnen war hier bei Euch im Zimmer. Natürlich habt Ihr nichts gespürt. Die Messer der Mönche sind so scharf, dass es Euch im Schlaf wie ein Kitzeln vorgekommen sein wird. Er muss einige Stunden damit zugebracht haben. Und dann auch noch das Fenster. Er arbeitet sehr schnell und sehr leise – erstaunlich, selbst für einen Kriegermönch. Sie haben keinen Adepten geschickt, sondern einen ihrer Meister. Wann seid Ihr zu Bett gegangen? War jemand bei Euch?«
»Nein, ich war allein.« War es ein Fehler gewesen, dass sie Asati weggeschickt hatte? »Hätte er mich sonst in Ruhe gelassen?«
»Womöglich hätte er das Mädchen getötet.«
Eridan wusste es nicht – wie hätte ein Zauberer es auch wissen können? Trotzdem ärgerte es sie, dass er sich ahnungslos gab. »Hätte er? Sind alle in meiner Umgebung in Gefahr? Sollte ich allein schlafen in den kommenden Nächten? Ihr sollt mich beraten, Meister, und nicht blind raten, während sich Eure Unwissenheit wie ein Geschwür in Euch ausbreitet!«
Ihre Wut prallte an ihm ab. »Eure Majestät«, sagte er mit einer kaum sichtbaren Neigung seines Kopfes. »Solange ich nicht weiß, was die Eismönche von Euch wollen, kann ich schwerlich sagen, wie weit sie gehen würden, um Euch zu kränken. Falls Euch bekannt ist, warum Keiorons Orden Euch Tod und Verderben angekündigt hat, Majestät, solltet Ihr es mir sagen.« Er warf den zerbrochenen Stab auf den Tisch.
»Das geht Euch nichts an.«
»Dann wird es noch schwerer, Euch zu schützen.« Eridan gab sich nicht einmal Mühe, bedauernd zu klingen. »Wenn wir nicht wissen, was sie Euch mitteilen wollen, können wir ihnen nichts anbieten.«
»Anbieten? Sagtet Ihr, anbieten? Ich verlange, dass Ihr gegen meine Feinde kämpft, nicht, dass Ihr ihnen irgendetwas anbietet!«
»Wir werden alles Menschenmögliche tun, um den Palast abzusichern. Aber …«
Die Wut. Die Angst. Es tat gut, wenn die Wut stärker war, so viel stärker.
Le-Iva hob die beiden Teile des zerbrochenen Stabes auf. »Das ist eine Kriegserklärung. Es gibt nur einen Weg, darauf zu antworten.«
Eridans dunkle, brennende Augen waren ohne Scheu auf sie gerichtet. »Seid Ihr sicher, dass Ihr das tun wollt? Andere Stadtkönige arrangieren sich mit dem Orden Keiorons. Die Mönche nehmen sich der Feinde der Herrschenden an und werden dafür reich belohnt, und so profitieren beide Seiten. Vielleicht erwartet der Kriegerorden, dass Ihr etwas Ähnliches vorschlagt?«
»Es ist mir gleich, was der Orden erwartet. Ich werde diesen Angriff auf mich nicht hinnehmen.«
»Der Rat wird von Euch erwarten, dass Ihr ihn zusammenruft, um über das weitere Vorgehen angesichts dieser Bedrohung zu entscheiden. Berrin ist vermutlich die einzige Stadt, die es wagt, die Mönche zu ignorieren.«
»Zu ignorieren?«, keuchte Le-Iva. »Ich werde sie jagen und durch die Straßen hetzen. Sie werden sich kein zweites Mal trauen, aus ihren verdammten Bergen herabzusteigen!«
»Vergebt mir, aber wisst Ihr, was Ihr da sagt? Habt Ihr eine Ahnung, von wem Ihr da sprecht? Einer von ihnen war in Eurem Schlafgemach. Vielleicht ist er jetzt noch im Palast!«
Sollte sie glauben, dass er sich fürchtete? Dieser Mann gierte doch nach Streit und Kampf. Le-Iva wusste nicht viel über Magie, sie hatte nie die göttliche Macht in ihren eigenen Adern gespürt, aber sie hatte gesehen, was sie den Menschen antun konnte. Wie Zauberer nach immer mehr davon gierten, wie sie danach lechzten, die Kraft zu benutzen.
»Das Fenster stand offen«, sagte sie.
»Sie können fliegen«, sagte der Zauberer, »aber nicht so. Sie bringen große Sprünge zustande, aber aus dem Fenster zu fliegen wie ein Vögelchen, das halte ich für unwahrscheinlich. Es sei denn«, fügte er zögernd hinzu, »dieser spezielle Mönch ist stärker als alle seine Brüder … Wenn sie Euch einen Denkzettel verpassen wollen, würden sie nicht einfach irgendwen schicken. Der Herr des Ordens würde jemanden auswählen, der nicht scheitern kann. Oder er ist es selbst. Ihr wisst, was sich die Leute über Prinz Tagoron erzählen – dass er der wahre Herr von Berrin ist?«
Le-Iva starrte ihn einschüchternd an; es mochte auf diesen Mann nicht wirken, doch immerhin verstummte er. Als wäre der Zorn der Königin nicht sein Problem, trat er ans Fenster.
»Dort geht es hinaus auf die Stadt. Falls es schon hell war, ist das zu auffällig. Ich halte es für ein Ablenkungsmanöver. Euer Mönch ist keineswegs zum Fenster hinausgeflogen. Wenn er bis in die Morgenstunden hier beschäftigt war, ist er vielleicht noch auf der Suche nach einem Fluchtweg. Oder er versteckt sich irgendwo, um in der nächsten Nacht zu fliehen – oder wiederzukommen.«
»Dann werde ich ihn suchen lassen. Ich will diesen Bastard. Ich lasse alles auf den Kopf stellen, bis wir ihn gefunden haben!«
»Davon rate ich Euch dringend ab«, sagte Eridan. »Ihr habt keine Vorstellung davon, wie gefährlich diese Kreaturen sind. Ich würde ihn an Eurer Stelle entkommen lassen. Wenn Ihr ihn in die Enge treibt … Der Mönch wäre nicht hergekommen, wenn er nicht stark genug wäre, es mit einem Zauberer aufzunehmen, und hier drinnen im Palast kann ich meine Kraft nicht voll ausspielen.«
»Ich soll ihn einfach wieder weggehen lassen – einen Mörder?«
»Vergesst nicht, Ihr wärt längst tot, wenn er es gewollt hätte. Dies war eine Warnung. Wenn es zum offenen Krieg zwischen der Stadt und dem Orden kommen sollte …«
»Ja?«, fragte sie scharf.
»Ihr wolltet meinen Rat? Hier ist er: Beruft die Ratsversammlung ein. Ganz Berrin würde Euch anflehen, die Versammlung einzuberufen und über Verhandlungen mit dem Orden nachzudenken.«
Le-Iva wurde bewusst, wer noch mit im Raum war. Nara, die einen Blumenstrauß auf dem Tisch ordnete und jede einzelne Blüte küsste. Woher hatte sie die Blumen, so spät im Jahr? Dann waren da noch Ulinne, in deren ängstlichem Gesicht Hoffnung aufglomm, und der Wächter, der ins Nichts starrte, als sei er nicht da, doch sie konnte beinahe hören, wie schnell sein Herz klopfte. Das war ihr Volk. Nara war etwas Besonderes, ihre Meinung war nicht mit der Stimme des Volks gleichzusetzen. Das Mädchen und der junge Mann hingegen reagierten, wie jeder Mann und jede Frau in Berrin reagieren würde. Die Angst vor dem Orden beherrschte jeden, aber Le-Iva weigerte sich, dieses Spiel mitzuspielen. Und sie würde nicht zulassen, dass irgendwer ihr hereinredete, wie sie auf die Anmaßung der Eismönche zu reagieren hatte. Weder der Rat der Fürsten noch die Magier noch irgendjemand sonst.
»Das lasse ich mir nicht bieten. Durchsucht den Palast! Ruft mehr Zauberer her, alle, die in der Stadt sind. Durchsucht jedes Zimmer, jeden Schlupfwinkel! Und Ihr seid entlassen, Meister.«
Er nickte und ging. Sie war es leid, die Zauberer zur Höflichkeit zu mahnen. Leid, sich sagen zu lassen, was sie tun sollte. Ihr Zorn brannte so hell wie die Herbstsonne draußen über den Gipfeln der Berge.
»Euer Frühstück, Majestät«, sagte Ulinne schüchtern.
Ja, sie würde essen. Sie würde die Wut befeuern, das wilde Leben in ihren Adern mit Nahrung versorgen, und dann in den Kampf ziehen.