8. Ein verdorrter Baum
Während sie ihre Pläne schmiedete, hielt Le-Iva es nicht im Palast aus. Stundenlang war sie unruhig in ihren Gemächern auf und ab gewandert, hatte Nara und Ulinne angezischt, und die Wächter mit ihren stoischen Mienen hätte sie am liebsten aus dem Fenster geworfen.
Schließlich ließ sie sich einen Mantel bringen und ging hinaus in den Garten.
Die Grünanlagen des königlichen Palastes waren größer, als die meisten Gäste vermuteten. Sie füllten die Ecken, die durch den verwinkelten Umriss des Gebäudes entstanden, malten die kiesbestreuten Wege mit Grün nach, warfen bunte Blütentupfer dazwischen. Ein Großteil der Pflanzen wurde von den Köchen und Heilern genutzt, wertvolle, duftende Kräuter, die im Schutz der Mauern gediehen und wuchsen, während sie draußen im Gebirge oft nur vor sich hin kümmerten. Doch es hatte in den vergangenen Tagen geschneit – früh im Vergleich zu den letzten Jahren – und nun war alles unter einer weißen Schicht verborgen, und nur einige wenige dunkelgrüne Nadeln ragten aus dem Schnee.
Le-Iva folgte dem spiralförmigen Pfad durch den Kräutergarten und den Hügel hinauf, dorthin, wo der Baum stand. Er sah nach nichts Besonderem aus – ein gekrümmter Stamm, die letzten, verdorrten Äste, trockene Blätter in den Schneeverwehungen zwischen den Wurzeln. Ein paar letzte goldene Blätter waren der Beweis dafür, dass er noch lebte.
Sie starrte auf diese Blätter. Frost hatte sie an den Rändern weiß gefärbt, und es würde nicht lange dauern, bis sie abfielen.
Trotz der Kälte kniete sie sich in den Schnee. Sie war allein, die Wachen hatte sie weggeschickt. Sie waren irgendwo in der Nähe und vermutlich beobachteten sie sie, wie es ihre Pflicht war, aber in diesem Moment zählten sie nicht.
Le-Iva war allein. Mit sich und ihren Gedanken und ihrem Kummer.
»Du lebst«, flüsterte sie. »Du bist irgendwo da draußen. Der Baum lebt noch, und du atmest. Du lachst, du weinst, du bist glücklich oder unglücklich. Wenn ich nur wüsste, wo du bist.«
Eine Träne rollte über ihre Wange und fiel in den Schnee. Nara hatte ihr einmal gesagt, dass jede Träne der Liebe den Baum wachsen und gedeihen ließ, dass jede Träne der Trauer ihm zu neuer Blüte verhelfen würde.
Sie hatte in Rätseln gesprochen wie eine verdammte Dichterin. Von Tränen und Göttern, von Segen und Fluch, von den Waffen der Menschen, die nicht viele Waffen hatten in diesem ungleichen Krieg.
Es galt, das winzige Messer zu schärfen, das man besaß.
Auch das war nicht wörtlich gemeint. Nara hatte gelächelt und Tee gebracht und dann eine ausgefranste Stelle an einer Weste genäht, als wäre es von Bedeutung, wie eine Königin gekleidet war. Da hatte sie vermutlich recht, wie mit allem.
Und falls dem so war, hatte Le-Iva noch lange nicht genug geweint.
»Avi«, sagte sie. »Avi, du hättest nicht gehen sollen. Du hättest bei mir bleiben sollen.«
Sich nach einer verlorenen Liebe zu sehnen war ein Schmerz, der niemals ganz aufhörte. Es war besser geworden mit den Jahren, der Druck auf ihrer Brust hatte ein wenig nachgelassen. Manchmal schaffte sie es sogar, zu lächeln. Sich an den Träumen zu erfreuen, die sie regelmäßig heimsuchten, und dann loszulassen. Nicht, dass sie Avi jemals ganz hätte loslassen können, nicht, dass sie das jemals würde. Aber sie hatte akzeptiert, dass im Palast von Berrin nie wieder jemand auf dem Thron neben ihr sitzen würde.
Irgendwann, wenn sie genug geweint hatte, würde der Baum blühen, und nach ihrem Tod würden die Zauberer den letzten Spross des Hauses Vandi aufspüren. Der Baum würde ihnen den Weg weisen, so wie es immer gewesen war. In der Blüte würden sie den Namen des Erben lesen können – nicht so deutlich wie Buchstaben auf Papier, sondern in Zeichen, die es zu deuten galt. Auf diese Weise hatte man auch sie selbst gefunden, und so war es all die Jahrhunderte über gewesen, seit das Haus Vandi über Berrin und das Land von den Berriner Bergen bis zum Roten See herrschte. Früher hatte der Baum in vollem Saft gestanden, unzählige grüne Blätter hatten sich in jedem Frühling an seinen Zweigen entfaltet und die Blüte der Könige war vom ganzen Volk bejubelt worden. Es hatte Streit und sogar Krieg gegeben um die Frage, wie die Zeichen in der Blüte zu deuten waren – Bruder hatte gegen Bruder gekämpft, Fürst gegen Fürst, Geschwister gegeneinander oder gegen ältere Verwandte. Doch nun, da die letzten Abkömmlinge des alten Geschlechts mühsam aufgespürt werden mussten, hielten die Zauberer ihre Deutung geheim, bis sie den Erben gefunden hatten.
Solange der Baum lebte, würde Le-Iva nicht ganz verzweifeln.
Eine verlorene Liebe zu vermissen war das Eine, doch sich nach einem verlorenen Kind zu sehnen war ungleich schlimmer. Sie wusste nicht einmal, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, dieses längst erwachsene Kind, das man ihr geraubt hatte.
Man? Oh, sie wusste genau, wer dafür verantwortlich war. Sie wusste, wer ihr Glück gestohlen hatte.
»Eine Träne für Avi«, sagte sie. »Zwei Tränen für dich, mein Liebling.«
Schritte knirschten im Schnee. So leise Schritte, als hätte das Mädchen, das dem Pfad folgte, kein Gewicht.
Le-Iva drehte sich nicht um. Sie lauschte den Schritten, die so vorsichtig waren wie Fuchspfoten. »Habe ich dir gestattet, herzukommen?«, fragte sie.
»Ihr weint um König Avi«, sagte Asati. »Und«, fügte sie kaum hörbar hinzu, »um Euer Kind.«
Oh, wenn sie wüsste! Avi war so viel mehr. Avi mit den Sommersprossen und den Grübchen. Avi mit dem Schmollmund und den langen, hellen Wimpern und den rundlichen Wangen. Keine Schönheit – nein, das war Avi nie gewesen. Nicht so wie Asati mit ihren großen dunklen Augen und dem seidigen schwarzen Haar. Wie hätten Avis widerspenstige Locken da mithalten können? Asatis Stimme war wohlklingend, nicht so wie Avis raues Lachen, das manchmal in ein Gackern umschlug. Und erst der Gedanke an Avis Hände, die zärtlich sein konnten oder herausfordernd, schüchtern oder erobernd!
Avi hatte auf dem Thron gesessen, doch die Brokatweste und die elegante Hose und die Spitze am Kragen und die goldenen Ketten – all das war nichts als eine Verkleidung gewesen. Avi war klein gewesen und zierlich, bis auf die Schultern und die Hüften, und selbst im prächtigen Ornat eines Königs hatte sie immer wie ein Bursche vom Land gewirkt.
Oder wie ein verkleidetes Mädchen.
Eine Träne an ihren Wimpern hing dort wie ein vergessener Kristall. Le-Iva blinzelte, und die Träne fiel auf die Wurzeln des Baumes und blieb dort liegen, als wäre sie eine Perle oder ein Diamant oder ein Versprechen.
Sie holte die Phiole aus ihrem Gewand.
Sammle sie, hatte Nara gesagt.
Worte haben Macht. Gesang hat Macht. Schweigen hat Macht. Aber Tränen ... kannst du ihre Macht auch nur erahnen?
»Meine Königin.« Asati war nicht schnell eingeschüchtert. Sie war hartnäckiger, als es gut für sie war.
Wieder dachte Le-Iva darüber nach, dass sie das Mädchen wegschicken sollte. Hatte sie sich das nicht unlängst erst vorgenommen?
»Erwartest du, dass ich dir ins Warme folge und heißen Tee trinke, um mich aufzuwärmen? Du bist nicht meine Gouvernante.«
»Ich möchte einfach nur bei Euch sein.«
»Ich brauche keine Gesellschaft«, sagte Le-Iva schroff. »Weißt du nicht, was das für ein Baum ist?«
»Der magische Baum des Hauses Vandi. Jeder in Berrin kennt die Geschichten darüber.«
»Hast du ihn dir größer vorgestellt? Prächtiger? Es ist kaum mehr als ein verkrüppelter Zweig.«
»Er ist schön«, sagte Asati ehrfürchtig, aber diese Bemerkung war falsch, ganz falsch. Wie konnte dieses hübsche Mädchen, das stundenlang Kleider anprobierte und Farbe auf ihre Augenlider tupfte und ihre Haare bürstete und flocht, in einem armseligen, gebeugten Zweig die Schönheit sehen?
»Du musst nicht lügen, um mir einen Gefallen zu tun, Kind.«
»Ich bin kein Kind!«, fauchte Asati. »Wie Ihr sehr wohl wisst. Und ich lüge nicht. Ich sage, was ich denke. Er ist schön. Glaubt Ihr, ich bin zu jung und zu einfältig, um im Krummen das Vollkommene zu erkennen und in winterlicher Leere die Fülle des Frühlings und im Schnee das Lebendige? Ich bin nicht hier, weil Ihr die mächtige Königin von Berrin seid, sondern weil ... weil Ihr Ihr seid.«
Oh, und wenn das keine Liebeserklärung sein sollte, dann wusste Le-Iva auch nicht. Diese dumme, viel zu ehrgeizige, verblendete Närrin!
»Du bist hier, um dich in den Vordergrund zu spielen und deine Konkurrentinnen auszustechen«, sagte Le-Iva. »Eure Eifersüchteleien sind mir egal, ich möchte nichts davon mitbekommen.«
Asati atmete scharf ein. Sie schien widersprechen zu wollen, überlegte es sich dann jedoch anders. »Natürlich, meine Königin.«
Le-Iva stand auf und klopfte sich den Schnee von den Knien. Ihr Mantel war durchnässt, ihre Beine kalt bis auf die Knochen. Sie spürte ihr Alter, als sie beim ersten Schritt beinahe gestolpert wäre. Asati war sofort an ihrer Seite und stützte sie. Ungeduldig machte Le-Iva sich frei.
»So alt bin ich noch nicht, dass ich Hilfe beim Gehen brauche.«
»Verzeiht, meine Königin.« Asati klang nicht gerade schuldbewusst.
Verflucht, ihr Arm war wirklich hilfreich. Le-Iva fühlte sich wie eine Greisin, ihre Gelenke waren steif, ihr war so kalt, dass sie meinte, den Frost in ihren Lungen knistern zu hören. Sie musste die Zähne fest zusammenbeißen, damit sie nicht klapperten.
»Bei der nächsten Ratsversammlung werde ich meine Entscheidung verkünden, gegen den Orden in den Krieg zu ziehen«, sagte sie.
»Davon habe ich gehört, ja.« Asati zögerte.
»Was ist? Sprich offen. Du weißt, dass ich feige Zurückhaltung hasse.«
»Der Kriegerorden ... Das sind äußerst gefährliche Gegner. Wollt Ihr Euch wirklich mit einem Gott anlegen? Einem der Acht?«
Die Priester, die von den Taten der Götter erzählten, brachten den Menschen auch die Namen der Götter nah. Und ihre Hierarchie.
Drei Große Götter des Lichts. Zwei Große Götter des Zwielichts. Drei Große Götter der Dunkelheit.
Und dann die anderen, der Hofstaat der Acht, hunderte, wenn nicht gar tausende unbedeutende Gottheiten, die mit ihren Zänkereien beschäftigt waren.
Die drei guten Götter wurden in allen Königreichen südlich und östlich des Berriner Gebirges verehrt:
Hako, die Göttin des Sommers.
Gowin, die Göttin der Ernte.
Jarinder, der Gott des Frühlings.
Die beiden Götter, die sich weder zur lichten noch zur dunklen Seite zuordnen ließen: Diran, die doppelgesichtige Gottheit des Tanzes, und Ran, die Göttin der wilden Jagd.
Die Namen der drei Dunklen flüsterte man nur.
Sen, der Gott der Nacht.
Keioron, der Gott des Eises.
Und Marl, die Göttin des Sturms.
Keioron war einer der drei, über die man höchstens am Tag sprach und lieber nicht in der Nacht. Die man erwähnte, wenn man unter Menschen war und das Feuer im Kamin brannte und die Kinder in ihr Spiel vertieft waren und nicht zuhörten – dann, ja dann konnte man es wagen, die Geschichten zu wiederholen, von denen die Priester manchmal flüsterten.
Denn die Götter lagen beständig im Krieg miteinander, und sie schätzten es nicht, wenn die Menschen denen huldigten, denen sie nicht huldigen sollten. Von Vertrauen war nicht die Rede – den Göttern war nicht zu trauen. Selbst auf die Göttin der Ernte war nicht immer Verlass, die Göttin des Sturms bekam Wutanfälle, und die wilde Jagd duldete die Gottheit des Tanzes nicht neben sich. Es hieß, einst habe die Sommergöttin Hako dem doppelgesichtigen Maskengott Diran ein Auge ausgestochen, und deshalb blinzelte er nun mit seinem verbliebenen Auge, hasserfüllt und stumm, und die anderen Götter lachten über ihn. Daher habe er seine eine Hälfte schlafen gelegt und spaziere nur noch mit seinem heilen Gesicht umher.
Es hieß, der Gott der Nacht würde die lichten Götter hassen, und der Gott des Eises die Göttinnen von Sommer und Frühling, und die Jagd hätte die Sturmgöttin einst leidenschaftlich geliebt, und dann hätten sie sich zerstritten. Oh, die Götter! Sie waren eine Plage.
Das Schmollen der Nacht änderte nichts daran, wie mächtig Sen war. Oder wie gefährlich Keioron sein konnte, in seinem Wahnsinn oder, noch schlimmer, in seinen lichten Momenten.
Die hellen Götter mochten zugänglicher sein, doch man durfte sie nie unterschätzen oder denken, sie hätten etwas Besonderes für ihre Anhänger im Sinn. Götter dachten nicht wie Menschen. Sie tranken die Verehrung, die ihnen zuteilwurde, und aßen die Gebete der Gläubigen wie Brot mit Butter und verfolgten ihre Priester mit ihren Launen, fuhrwerkten in deren Träumen herum und stocherten in ihrem Geist wie Kinder, die einen Ameisenhügel gefunden hatten und sich über das Gewimmel freuten. Die Zerbrechlichkeit des menschlichen Verstands war den Göttern egal.
Nein, Le-Iva würde nicht mit Asati über die Götter sprechen und erst recht nicht über diesen einen, den gefährlichsten von allen, den wahnsinnigen Gott des Eises.
In diesem Moment begann das Wetterleuchten über den schneebedeckten Gipfeln. Der Donner, der in der Ferne grollte.
Asatis Gesicht war weiß vor Furcht. »Was ist das?«, flüsterte sie.
»Das«, sagte Le-Iva, plötzlich von wilder Freude erfüllt, »ist seine Herausforderung an mich. Er weiß, dass ich komme. Er fürchtet sich nicht. Aber ich werde ihn das Fürchten lehren.«