10. An der Seite einer Königin
»Werdet Ihr ihn heiraten?«, fragte Asati, während sie die mit winzigen Edelsteinsplittern besetzten Schnüre aus Le-Ivas Haaren zupfte. Sie ging behutsam vor und hatte alle ihre Ringe abgelegt, damit sich keine Strähnen darin verfingen. Die Königin war nicht wehleidig, aber sie konnte es nicht gut haben, wenn man ihr Haare ausriss. Außerdem war sie ungeduldig und ertrug es nicht, lange stillzusitzen.
»Heiraten? Wen?«
»Fürst Cario. Er war heute sehr hilfreich.«
Le-Iva schnaubte nur. »Wenn ich jeden Menschen heiraten würde, der sich als hilfreich erweist, hätte ich einen Harem, der nicht mehr ins Schloss hineinpasst.«
Nara, die mit einem Kamm bereitstand, grinste still vor sich hin. Im Gegensatz zu einigen der anderen Mädchen, die mit der stummen Dienerin nichts anfangen konnten, kam Asati recht gut mit ihr zurecht. Die Alte hatte jedenfalls Humor.
»Wirklich? Meistens vertretet Ihr die Ansicht, dass sich kaum jemand jemals nützlich macht.«
»Auch wieder wahr. Der Adel ist ein nutzloser Haufen Wichtigtuer. Sie verstecken sich hinter ihrer Angst und ihrem Geld und vergessen, wozu es den Adel überhaupt gibt – um das Volk zu schützen! Es war niemals so gedacht, dass all die kleinen, feinen Baroninnen in Gold baden und die Herzöge Muscheln aus der Tirasee verspeisen, zu einem Wein aus Rotlonien, als hätten sie all das verdient. Aber wenn es gefährlich wird, gelingt es ihnen kaum, nach dem Schwert zu greifen, so fett und satt sind sie geworden.« Sie schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Er scheint ... ehrgeizig«, sagte Asati vorsichtig. Es war vielleicht unklug, mit Le-Iva darüber zu sprechen – am Ende brachte sie die Königin noch auf die Idee, dass der Fürst der perfekte König für sie sein könnte.
»Cario ist ein guter Freund. Einer der besten Männer von Berrin. Unerschrocken, nicht so wie der Rest dieses ganzen Gesocks. Er weiß, dass ich keine unüberlegten Entscheidungen treffe. Cario war mit mir in der Wüste, er hat sich bewährt. Wenn du andeuten willst, dass er sich auf meine Seite gestellt hat, um sich bei mir einzuschmeicheln, sagt das nichts Gutes über deine Menschenkenntnis aus, Liebste. Und er hat sich unlängst erst verlobt. Hast du das nicht mitbekommen? Mit einer Verwandten von dir, soviel ich weiß.«
Liebste? Oh, das tat weh. Es schmerzte wie eine Ohrfeige, weil es herablassend klang und nicht liebevoll, weil es mit einer Rüge verbunden war, nicht einem Lob, nicht mit wilden Küssen und innigen Umarmungen und ekstatischem Stöhnen.
In ihrem Bett nannte Le-Iva sie niemals so.
»Mit einer Verwandten ... Odiane? Er heiratet meine Cousine?«
»Das ist sein Plan. Und es wird die Gerüchte um ihn hoffentlich eindämmen. Wir müssen Berrin schützen und er ist der beste Mann dafür, und ich will, dass die Menschen ihm vertrauen, weil er der Beste ist, und nicht, dass sie denken, ich hätte ihn an die Spitze meiner Kriegsregierung gestellt, weil er so gut im Bett ist.«
»Was wird jetzt geschehen?«, fragte Asati und legte einen weiteren Zierdraht auf das Tischchen.
Le-Iva drehte sich halb zu ihr um. »Hast du Angst?«
Sie wollte es abstreiten. Aber welchen Sinn hätte das gehabt? Vermutlich hatte sie noch nie so große Angst gehabt. »Ganz Berrin fürchtet die Rache der Mönche.«
»Sie sind nur Menschen«, sagte Le-Iva sanft. »Nicht anders als wir.«
»Menschen, ja. Aber so wie wir? Ich denke nicht, Eure Majestät.«
»Sie sind nicht unbesiegbar, Liebes. Das werden wir beweisen. Sie hocken da oben in den Bergen wie Krähen in ihrem Nest, verbreiten Angst und Schrecken und fordern Opfergaben ein. Das muss ein Ende haben. Berrin wird sich ihnen nicht beugen.«
Asati nickte. Sie war keine Ratgeberin, sie hatte nicht das Recht, mit der Königin zu streiten. Doch die Angst vor dem, was geschehen könnte, war sehr real. Sie wohnte wie ein dunkler, schwerer Klumpen in ihrer Brust.
»Werdet Ihr ein Heer in die Berge hinaufführen? So wie bei der Schlacht am Schwarzen Tor?«
Sie hatte einen Vater, der gedient hatte, der wieder dienen würde, wenn es sein musste. Und zwei Brüder. Sie lebten nicht in Berrin; der eine hatte ein Haus unten am Roten See in den Weinbergen, der andere lebte im Westen in einem der kleineren Dörfer, wo ihre Familie einen Landsitz hatte und Getreide anbaute, für das es oben in den Bergen zu kalt war.
»Ja«, sagte Le-Iva, »aber nicht so eine Art Heer, wie du denkst. Es bringt nichts, den Mönchen und ihrem verrückten Gott ängstliche Soldaten zum Fraß vorzuwerfen. Wir werden anders vorgehen.«
»Bitte«, flüsterte Asati. »Könnten wir nicht doch … verhandeln?«
»Man kann mit dem Orden nicht verhandeln.«
»Aber in den anderen Königreichen funktioniert es doch anscheinend. Wenn man sich irgendwie einigt …«
»In Berrin wird das nicht geschehen. Nie.«
»Aber …«
»Nicht, solange ich lebe.« Le-Ivas Gesicht war streng und entschlossen, das Gesicht einer Kriegerin. Man hätte auch sagen können, sie sei stur. Stur und halsstarrig und gewillt, ganz Berrin zu opfern. »Und es reicht. Wir werden nicht darüber diskutieren. Ich habe einen Plan, aber es ist wichtig, dass er geheim bleibt.«
Asati ließ den Kamm durch Le-Ivas dickes, schwarzes Haar gleiten. Das schwere Haar glänzte, seidig floss es über ihre Handgelenke. Normalerweise erledigte Nara diese Arbeit; Nara, die abwartend neben dem Tisch stand und die Glitzerdrähte einsammelte. Doch Asati hatte nicht vor, ihr das zu überlassen, zu sehr liebte sie es, Le-Iva zu kämmen.
Normalerweise beruhigte es sie auch. Nur heute nicht.
Sie warf Nara einen Blick zu, doch die stumme Dienerin hob nur die Schultern. Falls auch sie Angst empfand, zeigte sie es nicht. Oder ihr Vertrauen in die Königin war grenzenlos.
Ob Le-Iva sich ihr anvertraute – oder mit einem der anderen Mädchen über alles sprach? Es wäre unerträglich, nicht die erste Vertraute der Königin zu sein. Asati wollte, dass Le-Iva ihren Kummer oder ihre Sorgen mit ihr teilte und mit niemandem sonst.
Bitte, dachte sie, während sie die dunkle Haarpracht flocht. Bitte, erzähl es mir.
Doch die Königin schwieg. Und darum musste auch Asati schweigen.
***
»Halt dich nicht zurück. Es ist schon fast verheilt.«
Würde es jemals ganz verheilen? Oder würde es immer zu sehen sein, helle Narben, die das Zeichen Keiorons auf die Haut malten? Die die Königin von Berrin zum Eigentum eines fremden Gottes erklärten?
Asati fuhr mit den Fingerspitzen das Muster nach, aber in Gedanken war sie nicht wirklich dabei.
Le-Iva könnte tot sein … War ihr überhaupt bewusst, was für ein Glück sie gehabt hatte? Wie würde Asati damit leben, diese Frau zu verlieren – diese Königin, der sie viel mehr gehörte als umgekehrt? Der Kampf gegen den Orden würde Le-Iva das Leben kosten. Die sture Königin konnte das nicht sehen, und Fürst Cario unterstützte sie darin auch noch. Götter! Wie blind und dumm war der Mann?
Die Kriegermönche würden den Palast bis auf die Grundmauern abreißen. Sie würden die ganze Stadt zerstören, wenn Le-Iva nicht rechtzeitig zur Vernunft kam. Sie würden ein Exempel statuieren und der Welt zeigen, dass sich mit den Söhnen des Eises nicht scherzen ließ. Es konnte keinen anderen Ausgang dieser Geschichte geben – Götter waren nun mal Götter.
Wer sein Leben retten wollte, musste aus der Stadt fliehen, am besten die Gegend ganz verlassen. Sollte sie ihren Bruder am Roten See besuchen? War das weit genug weg? Aber wie hätte sie Le-Iva in einer solchen Situation allein lassen können?
Ihre Konkurrentinnen würden das sofort ausnutzen.
Nicht Fürst Cario war die wahre Gefahr – darin irrte sich Baronin Magala. Es waren die anderen Mädchen. Gandria, deren silberhelles Haar wie eine Wolke aus Schnee auf ihre Schultern fiel. Vandija, deren dunkle Haut so köstlich weich war und die selbst im tiefsten Winter nach Pfirsichen duftete. Oder Meree, die mit ihrer roten Lockenpracht und den Sommersprossen und dem ansteckenden Lachen selbst die ernste Königin zum Lächeln brachte. Ein Sonnenschein. Jemand, der Le-Iva glücklich machen konnte, vielleicht sogar glücklicher, als Asati es vermochte.
Ihre Mutter wollte, dass sie die Königin dazu brachte, sie neben sich auf den Thron zu setzen. Dass sie nicht zuließ, dass Fürst Cario diesen Platz bekam. Doch im Moment sah es nicht danach aus, als würde Berrin überhaupt so lange bestehen. Würde der Gott nur die Königin strafen? Sie ohne Erben zurücklassen? Das hätte zur Folge, dass sich die adligen Familien gegenseitig zerfleischen würden. Dann konnte der Gott gleich Schnee und Eis über die Stadt regnen lassen. Tote würden die Straßen säumen – was zählte es, ob es die Mönche waren oder die adligen Mitglieder der alten Häuser?
Bitte, Le-Iva, wollte sie sagen. Glaub mir, du musst diesen Krieg widerrufen. Wir leben in einer Welt, in der ein falsches Wort den Verlust von Ehre und Ansehen bedeuten kann und ein leerer Thron einen hundert Jahre währenden Krieg.
Aber nichts davon konnte sie ihrer Geliebten sagen, denn da war dummerweise noch Gandria, die sich sehr eifrig zwischen Le-Ivas Beinen abmühte, während Meree ihre Brüste in Le-Ivas Gesicht hängen ließ.
Die Königin war angespannt gewesen und überließ es ihren Mädchen, für ihr Glück zu sorgen.
Verdammt. Am liebsten hätte Asati sich davongemacht, aber die Königin hatte sie zu sich gerufen; sie konnte nicht einfach gehen, wann es ihr passte. Auch wenn Le-Iva ihre Abwesenheit womöglich gar nicht aufgefallen wäre. Gierig, geradezu verzweifelt, küsste sie Meree weiter, als wollte sie sie verschlingen.
***
»Mach die Augen zu. Du solltest das nicht sehen.«
Ke-Achan fuhr herum, das Messer schneller als ein Gedanke. Vor ihm stand die alte Dienerin, die andauernd um die Königin herumscharwenzelte. Sie rührte sich nicht von der Stelle, als die Klinge die faltige Haut ihres Halses berührte, sondern verengte nur die Augen.
»Wirklich, Junge? Steck das weg. Komm mit.« Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Jetzt.«
Dann drehte sie sich um und ging voraus, offenbar der Ansicht, dass er ihr folgen würde. Ke-Achan warf noch einen letzten Blick durch die Ritzen des geflochtenen Paravents auf das Bett der Königin, dann huschte er ins Nebenzimmer, wo die Alte ihn zwischen den hölzernen Schneiderpuppen erwartete. Es waren hunderte, eine Armee von hölzernen Königinnen, in festliche Kleider gehüllt, in Uniformjacken oder Mäntel, Jacken mit Pelzkragen oder gewebte Tuniken mit fremdartigem Muster, wie niemand in Berrin sie trug. Einen Teil der Kleider musste Le-Iva von ihren Reisen mitgebracht haben.
Die Dienerin stapfte zwischen den Puppen hindurch bis zur hintersten Ecke des Zimmers. Es war, als würde man einen Wald durchqueren – oder während eines Balls sämtliche Tänzer einfrieren.
»Wie hast du mich bemerkt?«, fragte er leise. Sie waren hier weit genug vom Schlafzimmer entfernt, trotzdem senkte er seine Stimme. Die Frau hätte ihn nicht entdecken dürfen. Er war leichtsinnig gewesen, abgelenkt. Ein dummer Fehler, denn er wollte sie nicht töten. Vielleicht war es auch nicht nötig. Sie hatte sein Gesicht unter der Kapuze nicht sehen können, und selbst wenn – was wollte sie tun? Ihn anklagen? Die Königin wusste längst, dass einer der Mönche den Palast heimsuchte. Und selbst wenn die Dienerin um Hilfe schrie, würde ihr das nicht viel nützen. Ke-Achan wäre fort, bevor der erste Wächter hereinstürmen konnte.
»Die Frage ist, was du hier machst, Tagoron.«
Der Name traf ihn wie ein Schlag. Niemand wusste, wer er war, nicht einmal seine Ordensbrüder. Nur einige wenige Mönche kannten seine Identität.
»Hast du dir überlegt, dass ich der Prinz sein müsste, weil ich so geschickt darin bin, meine Botschaften überall zu hinterlassen? Das ehrt mich, aber ...«
»Papperlapapp«, unterbrach sie ihn. »Leugne es nicht. Du hast mich verstanden.«
»Was habe ich verstanden?«
»Mich«, sagte sie. »Ich habe mit dir gesprochen, und du hast verstanden, was ich zu dir gesagt habe.«
»Und?« War sie ein bisschen verwirrt?
»Du kommst vom Orden, wie man an deinem Mäntelchen unschwer erkennen kann. Und du hast göttliches Blut. Liegt da der Schluss nicht nahe, dass du Prinz Tagoron bist, der Herr des Berriner Klosters?«
Das Messer in seiner Hand wollte ihren Tod. Er konnte es spüren, diesen Drang, seinem Gott ein Opfer zu bringen. Schon viel zu lange musste Keioron sich mit Blumen und Schmerz zufriedengeben, während er doch stets nach etwas anderem gierte.
Die Alte musterte ihn ungerührt. »Nun?«, fragte sie. »Hat es dir die Sprache verschlagen?«
Das kleine, scharfe Messer, mit dem er Eisblumen in zarte Haut ritzte. Der Tod aus den Händen eines Eismönchs kam schnell und plötzlich, sodass keine Zeit zum Schreien oder Angsthaben blieb.
Ein Teil von ihm wollte sie nicht töten. Sie war bloß eine scharfzüngige, unerschrockene Dienerin, alt genug, um zu glauben, dass sie allen Jüngeren überlegen war. Unbedeutend für die Pläne des Eisgottes.
Doch der andere Teil wusste, dass er sein Geheimnis schützen musste. Keioron würde niemals dulden, dass er als Prinz Tagoron frei und offen herumspazierte und Schwätzchen mit Le-Ivas Dienerschaft hielt.
Es war leicht, wenn man bedachte, wer er war und was er schon alles getan hatte. Es hätte leicht sein müssen. Eine rasche Bewegung, das Zucken der Klinge, eine gerade Linie, mitten durch ihre Rippen hindurch in ihr Herz. Dann griff er rasch zu, um sie aufzufangen, und ließ sich auf dem Boden zwischen den Holzpuppen nieder, um bei ihr zu sein, während sie ihren letzten Atemzug tat.
Sie war alt und verwirrt, und wenigstens hatte er ihr nun Jahre der Krankheit und Schwachheit erspart. Trotzdem fühlte er eine seltsame Traurigkeit, als er auf den harten Dielen kniete, die zierliche Frau in seinen Armen. Er hätte gerne geweint, aber das würde er natürlich nicht tun. Keiorons Diener hatten keine Tränen.
»Schön«, murmelte sie. »Ist schon lange her, dass mich ein hübscher junger Mann umarmt hat.«
»Was?«
Sie starb nicht. Er hörte sie atmen, sah, wie sich ihr Brustkorb hob und senkte. Und er fühlte ein Entsetzen wie nie zuvor. Am liebsten hätte er sie abgeschüttelt und wäre von ihr fortgesprungen, doch ihre knorrigen Finger legten sich wie Schraubstöcke um seine Handgelenke. »Das gefällt mir. Du verstehst es, ein Mädchen im Arm zu halten.«
War ihm in Keiorons Gegenwart jemals so kalt gewesen? »Wer bist du?«,
»Nun überleg doch mal, junger Prinz.«
»Dein Name ist Nara. Es gibt keine Göttin namens Nara.«
»Und das weißt du woher? Es gibt tausende Götter, aber die meisten Menschen kennen nur die Hauptgötter, die sich immer in den Vordergrund drängeln, ihre Namen seien gepriesen.«
»Das ... ergibt keinen Sinn. Wenn du eine Göttin bist, warum bist du dann hier – und noch dazu als Dienerin?«
»Warum nicht? Die Königin ist eine interessante Gesellschaft, was man von den meisten Menschen nicht behaupten kann. Viele von uns leben unter euch, obwohl es wirklich ein Manko ist, dass wir nicht mit euch reden können. Einige Götter vermögen es, aber die meisten bringen es einfach nicht fertig, eure Sprache zu sprechen. Oder ihr sprecht einfach nicht unsere, wie auch immer. Doch ich komme zurecht, danke der Nachfrage.«
Endlich ließ sie ihn los und setzte sich auf. Sie drehte sich auf den Knien zu ihm herum, und da war etwas Funkelndes in ihren Augen. Nun sah sie viel jünger aus, trotz der grauen Haare. Nein, sie waren silbern, nicht grau. So wie ihre Augen. Ihre Haut war von einem satten Braun, und ihr Lächeln so schmal und scharf wie sein Messer.
»Das kann nicht sein«, sagte er lahm. »Ich komme oft her, und du sprichst mit ...« Es traf ihn wie ein Schlag. Mit der Königin. Nara sprach ausschließlich mit Le-Iva.
»Der Baum Vandi. Die Familie Vandi. Überrascht dich das wirklich? Jedermann in Berrin weiß, dass seit vielen Generationen göttliches Blut in den Adern der Königsfamilie fließt. Dünn mittlerweile, aber nichtsdestotrotz. Das ist ihre Legitimation, deshalb wurden sie auserwählt, auf diesem Thron zu sitzen. So wie Keioron, dieser Bastard, dich ausgewählt hat, sein Sprachrohr zu sein.«
Ihm klingelten die Ohren. »Aber ...« Der Eisgott hatte ihn auserwählt, weil er der beste Krieger war, der schnellste Kämpfer, derjenige, der dazu geeignet war, dem Orden am meisten Ruhm einzubringen.
»Du bist der Einzige, mit dem er reden kann. Deshalb bist du sein Prinz. Keioron hat viele Söhne. Er mag die Liebe verachten, doch nicht die körperlichen Freuden.«
»Aber ...«
»Du wusstest es nicht? Hat er dir nie gesagt, dass er aus diesem Grund mit dir redet? Götter können nur mit Göttern und Halbgöttern und Viertelgöttern sprechen, Menschen sind taub für unsere Worte.«
Was immer Ke-Achan von diesem Abend im Palast erwartet hatte – diese Enthüllungen waren es nicht.
»Was wirst du tun?«, fragte er vorsichtig. Er hatte es nicht geschafft, sie umzubringen. Offensichtlich gehörte mehr dazu, einen Gott zu töten, als ein Messer. »Wenn du die Königin beschützt, wie weit gehst du dabei?« Und Keioron hatte ihn nicht gewarnt, dass eine Göttin im Palast wohnte. Wusste er es überhaupt? Interessierte es ihn, ob Ke-Achan sich in Gefahr begab? Wenn er so viele Söhne hatte, konnte er jederzeit einen anderen ins Kloster von Berrin schicken.
»Du wirst dich respektvoll verhalten, Prinz«, sagte Nara. Das silberne Haar umfloss ihr Gesicht wie ein seidener Vorhang. Sie war nicht hübsch, trotz der Verjüngung, trotz der Macht, die sie nicht mehr verbarg. Und sie war gefährlich, daran zweifelte er nicht. »Du wirst sie nicht mehr verletzen, und du wirst sie nicht mehr heimlich beobachten. Junge, sie könnte deine Mutter sein! Womöglich ist sie es sogar! Es ist unerhört, seiner eigenen Mutter nachzuspionieren.«
»Was? Warum sollte die Königin meine Mutter sein?«
»Habe ich dir nicht gesagt, dass Keioron mehr Söhne hat, als er zählen kann? Das sollte als Antwort genügen.«
»Sie ist ... nein.«
»Nun, sicher bin ich mir nicht.« Sie zuckte mit den Schultern; besonders wichtig schien ihr die Sache nicht zu sein. »Wir sind nicht allwissend. Wir lesen keine Gedanken, jedenfalls die meisten von uns, und wir stolpern ebenso blind durchs Leben wie ihr, mit weitaus schlimmeren Konsequenzen für die Welt. Vielleicht ist sie nicht deine Mutter, vielleicht ist sie es. Was zählt es? Das Einzige, was feststeht, ist dies: In ihrem Schlafgemach hast du nichts zu suchen. Und nun geh zurück in dein Kloster auf dem Berg.«
»Ich kann nicht.« Er widersprach nur ungern einer Göttin, aber wenn er wählen musste, wessen Zorn er auf sich ziehen wollte, dann war die Antwort klar. »Keioron hat mir den Befehl gegeben, Königin Le-Iva in Angst und Schrecken zu versetzen.«
Nara seufzte. »Na schön. Versuch es, obwohl ich dir gleich sagen kann, dass die Königin nicht so leicht einzuschüchtern ist. Aber halte dich daran, was ich gesagt habe: Hüte deine Augen, was Le-Iva betrifft. Und du musst vorsichtiger sein. Beinahe hättest du mich ermordet, eine alte, harmlose Dienerin, nur weil du dich hinter einem Paravent versteckt hast, statt die Geheimgänge zu benutzen.«
»Geheimgänge?«
»Die hast du noch nicht entdeckt? Hier ist eine Tür.« Sie klopfte an die Wand. »Mithilfe der Gänge kannst du wahrhaft unsichtbar sein und dich frei im Palast bewegen.«
Ke-Achan legte die Hände auf die Wandvertäfelung, die mit einem kaum hörbaren Schnappen aufsprang. »Erstaunlich. Und überaus praktisch. Warum zeigst du mir das?«
Sie lächelte. Das erste Lächeln, das sie ihm schenkte. »Weil ich Nara bin. Nara, die Göttin der kleinen, liebevollen Taten.«