12. Am Roten See
Im Archiv war es dunkel und kalt. Die Luft roch staubig, und die magischen Lichter flackerten unruhig. Öllampen oder gar Kerzen waren in den steinernen Gewölben nicht erlaubt. Galahar verfügte nicht über das Talent, magisches Licht zu erzeugen, und musste sich mit der kleinen Lampe begnügen, für deren Benutzung er jeden Tag einen halben Kupfermond bezahlte.
Im Archiv am Roten See zu studieren, kostete weitaus mehr, als er es sich jemals vorgestellt hatte. Die Unterweisung durch die Mentoren. Der Besuch der Bibliothek, in der er täglich Stunden zubrachte. Es kostete mehr und die Zauberer benahmen sich nicht wie Lehrer. Dies war weit weniger eine Schule, als er gedacht hatte. »Unterweisung« traf es nicht. Es war kein Unterricht wie in der kleinen Dorfschule, in die er als Kind gegangen war. Die Meister halfen den jungen Adepten, doch ihre Hilfe bestand nur aus rätselhaften Hinweisen und dem Zugang zu den alten Schriften.
»Ihr müsst selbst danach suchen«, hieß es wieder und wieder.
Nach dem Namen. Nach dem Wort, das die jeweiligen Talente eines Magiers erklärte und Hinweise auf weitere, noch unentdeckte Fähigkeiten gab.
Für jeden Adepten war es ein anderes Wort.
Mit einem Seufzer griff Galahar nach der nächsten Schriftrolle. Es gab auch gebundene Bücher hier unten, in geschmeidiges Leder eingefasste Chroniken, auf Ziegenhaut geritzte Anrufungen, sogar Steine mit verblichenen Runen darauf. Uralte Zeugnisse vergangener Zeiten – hunderte oder gar tausende von Jahren alt.
Auf Fäden gezogene Steine, Holzperlen und Muscheln.
Gebetsteppiche und Ketten.
Wandbilder, die beim Aufrollen zerbröckelten.
So vieles ließ sich nicht mehr entschlüsseln, ganze Sprachen waren verloren gegangen in den Stürmen von Kriegen und Völkerwanderungen.
Die Hingabe der Meister galt dem Archiv. Sie sammelten die alten Zeugnisse nicht nur, erwarben sie mit viel Geduld und Geld, sondern arbeiteten unermüdlich daran, die Zeichen zu deuten, die Wörter zu entziffern – manchmal nur Silben oder Buchstaben, deren Aussprache ein ewiges Rätsel bleiben würde. Doch hin und wieder, in seltenen kostbaren Momenten, fanden sie einen Namen. Manchmal waren es nur die Namen von Königen oder Heerführern, von Kriegerinnen, die eine Schleppe an Liedern hinter sich hergezogen hatten. Von Priesterinnen und Dorfvorsteherinnen oder einem Einsiedler, der in einer Höhle hauste. Galahar hatte einmal einen Namen gefunden, der ihn in höchste Aufregung versetzt hatte, und obwohl es bloß der Name eines Handwerkers gewesen war, der eine Getreidemühle gebaut hatte, war er ein paar Tage lang glücklich gewesen. Doch worum es im Archiv ging, war etwas anderes. Sie forschten nach den Namen der alten, vergessenen, toten Götter.
Nach dem Namen eines Gottes, dem einst gehuldigt wurde. Einer Göttin, die seit zehntausend Jahren niemand mehr anbetete.
Und manchmal, in diesen seltenen, glücklichen Stunden, die so wunderbar und wertvoll waren wie eine ungewöhnliche Sternenkonstellation, spürte einer der Zauberer die Verbindung. Die Magie in ihm prickelte, sang, rief ihm etwas zu. Vielleicht flüsterte sie auch nur. Galahar hatte es sich tausend Mal ausgemalt, wie es wäre, wenn es ihm passierte. Doch bisher hatte er sich vergeblich durch vergilbte Wälzer geblättert und Glasperlen untersucht, Holzstücke abgezählt und ratlos auf Knotenfäden gestarrt.
Für ihn blieb die Magie namenlos.
Nicht, dass sie gänzlich stumm gewesen wäre. Manchmal hörte er sie summen und wispern. Sie war wie das Zwitschern einer Lerche am Sommerhimmel, so fern und unerreichbar und doch nicht zu überhören. Dann überkam ihn die Sehnsucht nach mehr. Danach, die Kraft zu verstehen, die in ihm Wohnung bezogen hatte, seit er acht Jahre alt war.
Damals hatte es begonnen – spät, wenn man es mit anderen Zauberern verglich.
Ein glänzender Faden, der durch die Luft schwebte, einer Schlange gleich. Hatte er sie eingeatmet, war sie durch seine Haut gedrungen, durch seine Augen in ihn eingezogen? Er konnte sich nicht mehr an den Tag erinnern, als es begonnen hatte. Seitdem war sie da, in ihm.
Magie.
Seltsame Magie. Sie war unberechenbar, und er hatte noch lange nicht verstanden, was er alles damit tun konnte. Er wünschte sich, er hätte sie einfach fragen können.
Wo kommst du her? Bei welchem Namen soll ich dich rufen?
Eine Staubwolke stob auf, als er das Buch zuschlug. Das wievielte an diesem Tag? Seine Schultern schmerzten, seine Augen brannten, sein Rücken fühlte sich an wie der eines uralten Mannes. Mit einem leisen Stöhnen richtete Galahar sich auf, streckte sich und hörte seine Wirbel knacken. An einem der Tische stieß einer der anderen Adepten ein mitfühlendes Grunzen aus.
Galahar griff nach dem magischen Licht und ließ die Studiertische hinter sich. Die Wendeltreppe erstreckte sich über mehrere Stockwerke nach oben. Er war zu müde für die unzähligen Stufen. Stattdessen konzentrierte er sich auf die Kraft und stellte sich vor, dass sich die Luft unter ihm zu einer festen Masse verdichtete. Unsichtbare Stufen hochzusteigen war nicht viel anders, als die echte Treppe zu nehmen, doch wenn er der Luft mit der Magie einen sanften Stoß gab, trug sie ihn von selbst ein Stück. Fliegen hätte leichter sein müssen, als sich jedes Mal eine neue Methode zu überlegen, möglichst schnell und leicht vorwärtszukommen. Dennoch genoss er die überraschten Blicke seiner Mitschüler, als er an ihnen vorbei in die Höhe schwebte.
Am Ausgang gab er die Lampe ab und setzte seine Unterschrift unter die Stunden, die er im Archiv verbracht hatte. Am Empfang saß kein Meister, sondern einer der anderen Adepten, der heute Dienst hatte. Er gähnte laut. »Du hast Mehl in den Haaren.«
»Das ist Staub«, berichtigte Galahar.
»Sieht schimmelig aus.«
»Da kann ich dich beruhigen. Alles hübsch trocken.« Er zwang sich zum Lächeln. Verdammter Staub. Wenigstens schimmelte es dort unten nicht. Die Meister taten alles, um Feuchtigkeit und Fäulnis von den kostbaren Schriften fernzuhalten. Auch dafür konnte Magie überaus nützlich sein.
»Übst du heute noch im Garten?«
Galahar nickte missmutig. Auch das kostete etwas. So wie alles. Er musste nicht sofort bezahlen; das Geld hätte er gar nicht aufbringen können. Wie die meisten Adepten war er mittellos hergekommen. Die Magie ließ sich nicht von Macht und Reichtum anlocken, auch wenn die Reichen und Mächtigen es nicht wahrhaben wollten. Sie kam, zu wem sie kommen wollte. Sie durchströmte die Welt. Sie gab sich dem Nächstbesten, der ihr im Weg stand.
Es war Zufall.
Oder Schicksal, wie Galahar glauben wollte. Er war erwählt worden. Nicht von irgendeiner beliebigen Kraft, sondern von ihr, deren Namen er immer noch nicht herausgefunden hatte.
Sie ließ ihn fliegen.
Und sie hatte ihm noch ein Geschenk gemacht, dessen Nutzen er mehr und mehr für sich entdeckte.
Auf dem Weg in den Garten begegnete er vielen einzelnen Studenten, die, jeder für sich, ihre Kraft erprobten. Manche waren stark wie Riesen, manche konnten sich unsichtbar machen, andere hatten beeindruckende Gaben, die es ihnen erlaubten, Gewitterwolken zu beschwören oder Bäume auszureißen oder die Erde zu spalten. Die Meister erlaubten nur denjenigen, ohne Aufsicht zu trainieren, deren Talent keine unschönen und gefährlichen Überraschungen zur Folge hatte. Deshalb standen einigen der Adepten erfahrene Mentoren zur Seite. Galahar hingegen hatte recht schnell herausgefunden, dass er nicht viel bewirken konnte. Und das Wenige, was er vermochte, war mehr Spielerei als irgendetwas sonst.
Fliegen – das war schön. Nicht, dass er damit besonders hoch oder weit oder schnell vorwärtsgekommen wäre.
Und dann war da die Sache mit den Kuppeln.
Sein Experiment befand sich am hinteren Ende des Gartens. Das Gebäude war an einem Hang gelegen. Weinberge gediehen gut in diesem Klima, und mitten im Anbaugebiet war das Archiv in den Hügel hineingebaut worden. Von hier draußen aus hatte man einen fantastischen Blick auf den Roten See. Heute schien die Sonne, und das Wasser wirkte tatsächlich blutrot. Die weißen Segel kleiner Fischerboote und größerer Ausflugsschiffe sprenkelten die tiefrote Fläche. Die Dächer der Häuser weiter unten am Ufer glänzten in Blau, Grün und Gelb. Das grelle Licht ließ seine Augen tränen, die empfindlicher geworden waren, seit er seine Tage unten in den Kellergewölben zubrachte, mit winzigen Buchstaben und dem schummerigen Flackern der magischen Lampen.
Am Ende des Kieswegs, hinter dem Zaun, der seinen Bereich absteckte – die Pacht dafür war nicht gerade billig –, stand Meister Kzan.
»Adept Galahar.«
Vorsichtig trat Galahar näher. »Meister.« Für gewöhnlich zeigte Kzan sich nur, wenn etwas Wichtiges anstand – die Aufnahme eines neuen Schülers, der zum Adepten erklärt wurde, sobald er die Grundzüge seiner eigenen Magie verstanden hatte, oder Gäste von weither, die eine Demonstration magischer Fähigkeiten wünschten.
»Wie sieht es mit deiner Kuppel aus, Adept?«
»Sie ist unsichtbar«, sagte er und fühlte sich dumm. Natürlich war sie das. Eine unsichtbare Wand, die etwas umschloss, es schützte oder abwehrte, je nachdem, wie man es betrachtete. Andere Magier konnten Schutzwälle errichten, die sie vor Pfeilen oder Steinen schützten, die ihre Feinde abwehrten oder wen auch immer sie von sich fernhalten wollten. Galahar konnte keine geraden Schutzmauern errichten, sondern nur Kuppeln. Schutzwände in der Form einer umgedrehten Schüssel. Er hatte versucht, sie anders zu formen, sie zu beherrschen, während er seine widerspenstige Magie anrief, aber es kam immer dasselbe heraus. Eine Kuppel. Er konnte sie errichten und wieder auflösen. Er konnte bestimmen, wie groß sie sein sollte. Wozu es gut war, hatte er noch nicht herausgefunden.
»Sie ist noch da?« Meister Kzan beugte sich interessiert über den Zaun.
Galahar konnte es spüren, das leise Summen seiner Magie. Das Gras unter der hüfthohen Kuppel war längst vertrocknet. Ein Frosch und eine Seeamsel lagen tot darin, doch sie hatten sich nicht verändert. Die Tiere hatten die Luft vor ihrem Tod verbraucht, und darum blieb unter der Wölbung des magischen Bannes alles, wie es war, und die kleinen Körper verwesten nicht. Vielleicht konnte man damit die alten Schriftrollen vor dem Zerfall schützen? Er wollte es schon vorschlagen, da fiel ihm ein, wie sinnlos das war. Niemand außer ihm konnte den Zauber aufheben, daher war seine Kunst nicht für die Bibliothek geeignet.
»Wo?«, fragte Kzan.
»Dort.« Er wies auf die toten Tiere.
»Kann ich es anfassen?«
»Wenn Ihr wollt, Meister.«
Kzan streckte die Hand aus und zuckte zurück, sobald seine Hand die magische Grenze berührte. »Au!«
Galahar ertappte sich bei einem Lächeln, das er rasch unterdrückte. »Sie besteht seit vier Monaten und hat sich noch nicht selbst aufgelöst.«
»Erstaunlich«, murmelte der Meister. »Aber deshalb bin ich nicht hier. Es geht um eine Mission.«
»Ich bin nur ein Adept«, sagte Galahar.
»Wir haben eine Anfrage. Einen Kunden, der sich wünscht, dass wir ihm Zauberer schicken. Er hat uns eine Liste wünschenswerter Talente geschickt, und deine sind dabei, Adept.«
»Wirklich?« Sein Herz machte einen kleinen Sprung. »Aber ... was ist dann mit meinen Studien?«
»Die Bezahlung könnte dich auf einen Schlag von allen deinen Schulden befreien – sowohl von den bisherigen Kosten deiner Ausbildung als auch von den zukünftigen.«
Es klang fast zu gut, um wahr zu sein. »Wer ist der Kunde?«
Meister Kzan lächelte. »Das erfahren nur diejenigen, die den Auftrag annehmen. Ich darf dir nicht verschweigen, dass es gefährlich werden könnte. Wir rechnen nicht damit, dass ihr alle wieder zurückkommt.«
Galahar dachte an den Keller. An den Staub, die Rückenschmerzen, die müden Augen. Er brauchte den Namen. Aber genauso gut, wenn nicht noch mehr, brauchte er die Chance, sich zu beweisen. Vielleicht war es an der Zeit, zu fliegen. »Ich bin dabei.«