14. Eine unerwartete Entdeckung
Asati schnäuzte sich in ihr Taschentuch und blinzelte, als ihr der Wind den Schnee in die Augen blies. Es war überhaupt keine gute Idee, allein durch die Straßen zu wandern. Ohne Wächter, ohne Kutsche. Wenn sie Straßendieben in die Finger geriet … oder einem Kriegermönch. Da standen schon ein paar zwielichtige Gestalten in dunklen Mänteln. Nein, ein Pärchen, das sich küsste. Sie lächelte über sich selbst. Die Fantasie sorgte schon selbst für die Gefahr. Und für Gedanken wie diese: Ist das überhaupt ein Paar? Sieht aus wie zwei Männer … und ist das nicht …
»Cario? Fürst Cario?«
Die beiden fuhren auseinander.
»Geh!«, zischte der Fürst, und der andere Mann wich zögernd zurück, drehte sich dann um und rannte die Straße hinunter. Schnell verbarg ihn das Schneegestöber vor ihren Blicken. Sie hatte ihn nicht erkannt, was ein Jammer war, denn es war stets nützlich, so viel wie möglich zu wissen. Vor allem über seine Gegner.
»Sieh an«, sagte Asati. »Wen man so alles trifft.« Sie wollte nicht, dass ihr Lächeln verschlagen wirkte, sie wollte sich den Ratgeber der Königin nicht zum Feind machen, beileibe nicht. Aber das hier, diese Gelegenheit, das war ein Geschenk der Götter.
Cario musterte sie genauer, als ihr lieb war. Einen anderen hätte sie vielleicht täuschen können, aber ihm schien nichts zu entgehen. »Ihr habt geweint, Baroness?«
»Die Frage ist doch eher, was Ihr hier macht. Ich muss sagen, ich bin … überrascht.«
Er hob die Schultern. »Die Überraschung sei Euch gegönnt.«
»Immerhin … Seid Ihr nicht mit meiner Cousine Odiane verlobt?«
»Kommt, Baroness«, sagte er leise. »Lasst uns ein Stück gehen.«
Er war in ihrer Hand. Und er wusste es. Asati dachte darüber nach, welche Möglichkeiten sich ihr dadurch boten.
»Ihr habt keinerlei Beweise«, sagte er nach einer Weile. »In Anbetracht meiner Verlobung würde eine solch ungeheuerliche Anschuldigung nur lächerlich und absurd wirken.«
»Ihr denkt, ich würde Euch verraten? Ausgerechnet ich?«
Er sah ihr ins Gesicht, ohne stehen zu bleiben. »Nehmt Euch in acht. Ich bin auch recht gut im Erfinden von Geschichten. Wenn ich damit anfange, was ich um Euretwillen nicht hoffe, wird man glauben, dass Ihr mich beschuldigt, um Euch dafür zu rächen, was ich
gesehen habe. Euch mit einer anderen Frau. Oder gar mit zweien? Die Königin wird toben.«
Nein, das Weinen war ihr vergangen. Sie rutschte auf dem glatten Bürgersteig aus und hakte sich bei ihm unter. »Das wird sie niemals glauben. Ihr solltet etwas Besseres erfinden, wenn Ihr schon Geschichten erzählen wollt.«
»Oder wir sparen uns die Mühe, uns Geschichten auszudenken«, schlug er mit angespannter Stimme vor. »Und lassen die Dinge ruhen.«
Was er wohl am meisten fürchtete? Wenn sich herumsprach, dass die Verlobung mit Baroness Odiane von Wilda nur eine Farce war, würde dann nicht ganz Berrin glauben, dass er der Liebhaber der Königin war – was ohnehin alle dachten? Er brauchte das Vertrauen der Soldaten und des Rats, wenn es zum Kampf gegen den Orden kam. Seine Position hing ausschließlich vom Wohlwollen der Königin ab, und Le-Iva wäre über diese Entwicklung sicherlich nicht erfreut.
»Wer ist Euer Freund?«
»Das fragt Ihr mich im Ernst?«
Sie lachte leise. »Nein. Aber Odiane wird danach fragen.«
Die Öffentlichkeit würde ihr vielleicht nicht glauben, aber ihre Cousine schon. Cario wusste das. Es war der denkbar schlechteste Zeitpunkt für einen Skandal.
»Sagt es ihr nicht, Baroness.«
»Sie ist nicht nur meine Cousine, sondern auch eine meiner engsten Freundinnen. Wollt Ihr sie wirklich heiraten, oder ist das nur eine Inszenierung, die Ihr solange aufrechterhaltet, wie Berrin gegen die Mönche kämpfen wird?« Odiane war in Cario verliebt, das wusste Asati. Umso grausamer war es, sich zuerst mit ihr zu verloben und sie dann wieder zu verlassen. Und noch grausamer wäre eine Ehe, die von vornherein zum Scheitern verurteilt war und für gegenseitiges Unglück sorgen würde. Odiane war keine Frau, die sich damit zufriedengeben würde, ein Schauspiel aufzuführen. Oder zu dulden, dass ihr Gemahl einen Liebhaber hatte.
Cario antwortete nicht.
»Wollt Ihr diese Ehe wirklich führen? Denn wenn nicht, solltet Ihr es so rasch wie möglich beenden. Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie sie leidet.«
»Dann redet es ihr aus.«
»Was?« Das hatte sie nicht erwartet. »Ich soll es ihr ausreden? Nachdem Ihr Euch gerade erst verlobt habt?«
»Wenn ich die Verlobung platzen lasse, wirft das Fragen auf und heizt die Gerüchte an. Und diese Gerüchte können wir im Moment nicht gebrauchen. Sie gefährden die Sicherheit der Stadt. Ich werde Odiane heiraten, aus politischen Gründen, wie ihr bewusst sein sollte. Ich war davon ausgegangen, dass es ihr bewusst ist. Wenn Ihr das nicht billigt, Baroness, dann bringt sie dazu, mit mir zu brechen. Ansonsten werde ich es durchziehen. Mir ist durchaus klar, in welche Lage ich mich gebracht habe, aber ich appelliere an Euer ...« Er zögerte, suchte offenbar nach einem passenden Wort.
»Verständnis?«, schlug Asati vor. »Gewissen? Ehrgefühl?«
»Verständnis klingt gut.« Er lächelte vorsichtig, und bei all seinem Charme und seiner sicherem Auftreten sah sie doch die Angst in seinen Augen. »Verständnis für meine Lage. Dafür, was ein Skandal für Berrin bedeuten würde. Oder für die Pläne der Königin.«
»Womöglich wäre es mir ganz recht, wenn es nicht zu einem Krieg gegen den Orden käme.«
War es so, wie er andeutete? Würde sein Absturz auch Le-Iva zu Fall bringen? Ihre Pläne vereiteln, ihre Position schwächen, sie den Rückhalt des Militärs und der Ratsversammlung kosten?
»Ihr habt Euch einen schlechten Zeitpunkt ausgesucht für eine Affäre, Fürst.«
»Es ist mehr als eine Affäre. Und mir ist bewusst, wie schlecht der Zeitpunkt dafür ist, doch ... solltet nicht gerade Ihr wissen, dass das Herz sich nicht an Regeln hält?«
Was sollte das denn bedeuten? Wie konnte er wissen, was Asati für Le-Iva empfand? Hatte er nur geraten? Oder – bei dem Gedanken wurde ihr heiß und kalt zugleich – oder wussten es etwa alle?
»Ich glaube nicht, dass ich Euch da helfen kann«, sagte sie.
»Wirklich nicht? Wenn Baroness Odiane Euch vertraut ... Sicherlich habt Ihr Einfluss auf sie.«
Wie war es dazu gekommen, dass sie ihn bei einem Kuss ertappt hatte und er nun versuchte, Druck auf sie auszuüben?
Es hätte andersherum sein sollen. Und nicht nur das, eigentlich hätte sie einen Gefallen frei haben sollen oder ihn dazu bringen müssen, Le-Iva zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Er war einer der wenigen, denen die Königin uneingeschränkt vertraute. Vielleicht würde ihm etwas einfallen, wie man die anderen Mätressen loswerden konnte. Ohne ihrem Ruf zu schaden, ohne ihnen wehzutun. Die drei Mädchen waren ihre Freundinnen. Aber wenn sie nicht mehr da wären ... wäre dann nicht alles besser?
»Baroness«, sagte er. »Könnt Ihr mir helfen, die Auflösung der Verlobung nach dem Konflikt, der uns bevorsteht, durchzuführen? Ich möchte Eure Cousine nicht verletzen.«
»Das werdet Ihr aber. Es sei denn, Ihr könnt ihn aufgeben.« Sie deutete in die Richtung, in die der andere Mann davongerannt war.
Sein Gesicht sagte alles. Das hatte er nicht vor.
»Bei allen Göttern, Fürst Cario!«
»Niemals«, sagte er leise. »Wenn Ihr das verlangt, dann werde ich Berrin verlassen.«
Und damit stand Le-Iva alleine da. Nein, so sehr Asati sich auch wünschte, dass die Königin diesen unseligen Krieg aufgab, bevor er begonnen hatte, das konnte sie ihrer Geliebten nicht antun. Ihr den Freund zu nehmen, den Einzigen, der sie im Rat unterstützt hatte, den Mann, der sie auf ihren Reisen begleitet hatte, der immer hinter ihr stand ... nein. Asati hatte Cario wegen dieser Freundschaft und Verbundenheit gehasst, aber in diesem Moment verstand sie, wie selbstsüchtig es von ihr wäre, die Königin dieser Stütze zu berauben.
Le-Iva war einsam genug.
Asati hatte den Fürsten verabscheut und mit Misstrauen betrachtet, doch nun, da sie wusste, wie sehr er an seinem Liebhaber hing, konnte sie ihn nicht länger hassen. Aber er war immer noch dazu fähig, die Königin zu heiraten, wenn die Schlacht geschlagen war. Falls sie das überlebten. Angenommen, der Gott des Eises zertrat sie nicht alle unter seinen Absätzen, traute sie Cario durchaus zu, sich auf den Thron zu setzen. Er würde Le-Iva ihre Mätressen lassen und sich im Gegenzug mit seinem Freund vergnügen – die perfekte Kombination.
Oh, er war gefährlich. Immer noch. Vielleicht mehr denn je. Erst diese Verlobung, dann die Auflösung derselben, bei der sie ihm helfen sollte ... Was geschah hier eigentlich?
»Ich kann Euch nicht helfen.«
»Bitte. Wenn Ihr nur herausfinden könntet, wen meine Verlobte in ihrem Herzen trägt, wenn Ihr sie dazu bringen könntet, sich ihre wahren Gefühle einzugestehen ... Und ihnen nach dem Krieg nachzugeben ...«
Odiane war seit Jahren in ihn verliebt. Nur in ihn.
»Oder«, fuhr er fort, »wenn wir sie dazu bringen könnten, sich in der Zwischenzeit in einen anderen zu verlieben …«
»Und wenn sie Euch liebt?«
Er war attraktiv. Groß, mit breiten Schultern und einem stolzen Gesicht; nicht zu hübsch, aber durchaus ansehnlich, wenn Asati den Schwärmereien ihrer Cousine Glauben schenken wollte. Das musste ihm doch bewusst sein. Er ging mit der lässigen Arroganz eines Mannes durchs Leben, dem alle zu Füßen lagen.
Und da glaubte er wirklich, Odiane würde freiwillig verzichten?
»Dann müsste man ein bisschen nachhelfen.«
Asati runzelte die Stirn. »Was soll das heißen? Wovon sprecht Ihr? Davon, sie verführen zu lassen, ihr womöglich ein Kind anzuhängen? So etwas werde ich gewiss nicht in die Wege leiten.«
»Liebeszauber.« Er machte sich nicht einmal die Mühe zu flüstern. Der Schnee fiel dicht, niemand sah sie. Niemand hörte sie. Er hätte die Hände um ihren Hals legen und sie erwürgen können, und niemand hätte es mitbekommen.
»Liebeszauber? Das ist unmöglich.«
»Ich muss nur wissen, für wen sie sich erwärmen könnte. Alles andere erledigen … gewisse Leute für mich.«
Die Welt … drehte sich. Oder sie hörte auf, sich zu drehen. Die Dinge wurden klar. Klarer, als sie jemals gewesen waren. Es war, als würde sie nach einem langen Rausch endlich nüchtern.
Man konnte etwas tun. Sie konnte etwas tun. Für sich. Gegen die anderen Mätressen. Sie konnte das Herz der Königin gewinnen und die Einzige werden. Es war, als würde sich das wirre Netz der Möglichkeiten vor ihr ordnen. Das Muster. Eine Eisblume? Es gab Wege, ein Herz aus Eis zum Schmelzen zu bringen.
»Ihr habt eine Liebeszauberin zur Hand?«
Carios dunkle Augen blickten wachsam und ernst. Er zögerte, doch dann nickte er.
»Und das ist kein Betrug? Sie ist echt?«
»Das versichere ich Euch.«
Da war etwas, was er ihr nicht sagte. Etwas ... oh.
»Ihr habt Euren Freund also … verzaubert? Könnt Ihr deshalb nicht von ihm lassen, weil Ihr alles riskiert habt, um ihn zu bekommen?«
»Nein«, sagte er. »Ich bin derjenige, der verzaubert wurde. Und daher kann ich Euch versichern, dass es kein Betrug ist und kein Verbrechen. Es ist nichts, was mir angetan wurde und wofür ich nach Vergeltung rufen würde. Mir wurden die Augen geöffnet. Ich fand Mut in mir, den ich sonst nicht aufgebracht hätte. Ich fand Glück.«
»Ihr wurdet verzaubert?« Er sagte das so gelassen, dabei machte nur der Gedanke an Liebeszauber sie wütend.
War das nicht Manipulation? Hatte sein Freund, der vorhin so eilig davongelaufen war, den begehrtesten Junggesellen von ganz Berrin durch einen üblen Trick für sich gewonnen – und Cario war dermaßen verzaubert, dass er ihm das nicht einmal übelnehmen konnte? So hätte sie den Fürsten nicht eingeschätzt. Oder war auch das Teil des Zaubers?
»Es ist nicht, wie Ihr denkt, Baroness«, sagte er. »Wenn ich es irgendwann herausgefunden hätte, dann wäre ich vermutlich außer mir gewesen. Aber er hat es mir sofort gestanden. Und ich habe selbst mit der Zauberin gesprochen. Es ist kein Bann, gegen den man sich nicht wehren könnte; so wirkt diese Magie nicht. Es ist nur ein kleiner Stoß in die richtige Richtung. Diese Art Zauber mag verboten sein, aber es ist nicht falsch. Ihr braucht also keine Angst um Eure Cousine zu haben. Wenn es so ist wie bei mir, findet sie ihr Glück und ist mich los. Vielleicht wünscht sie sich bereits, es zu beenden, und weiß nicht wie. Danach wird sie es wissen.«
Ihr Herz raste.
Eine Liebeszauberin. Ein Liebesbann. Eine echte Liebeszauberin.
»Wie ist ihr Name? Wo wohnt sie?«
Cario schüttelte den Kopf. »So nicht, liebe Baroness. Wir stehen kurz vor einem Krieg. Erst danach soll die Trennung geschehen. Und bevor die Zauberin tätig werden kann, solltet Ihr mit Odiane sprechen.« Plötzlich weiteten sich seine Augen. Er packte er sie den Schultern und schüttelte sie. »Nein! Denkt das nicht! Tut das nicht!«
Sie riss sich los. »Was fällt Euch ein!«
»Denkt nicht einmal daran. Wagt es ja nicht!«
»Sie liebt mich«, sagte Asati trotzig. »Sie weiß es nur noch nicht.«
Cario senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Ihr werdet keinen Zauber gegen die Königin anwenden. Niemals. Unter gar keinen Umständen.«
»Wo wohnt die Liebeszauberin?«
»Das sage ich Euch gewiss nicht!«
»Dann werde ich mit Odiane sprechen und ihr alles erzählen, und Ihr werdet schon sehen, was passiert, wenn die Wahrheit bekannt wird!«
»Aber der Krieg gegen den Orden ...«
»Der Krieg ist mir verflucht noch mal egal!«
Wie zwei Ringer standen sie einander gegenüber. Dann ließ Cario die Hände sinken. »Tut das nicht, Baroness«, wiederholte er. »Das wird böse enden, ganz böse – für uns alle.«
»Nein«, widersprach sie. »Mit Hilfe dieser Zauberin werden wir alle unser Glück finden.«