16. Der Angriff
»Einer oder mehrere?«, fragte Basdin und rieb sich die Hände.
Der Mönch konnte nicht antworten. Er starrte sie mit großen Augen an.
Ke-Achan packte ihn am Kragen und schüttelte ihn, um ihn zur Besinnung zu bringen. »Wie viele?«
So große, erschrockene, ängstliche Augen sollte ein Eiskrieger nicht haben. Keioron verabscheute Angst. Wie lange war dieser Bruder schon im Kloster? Ke-Achan versuchte sich zu erinnern, wann er angekommen war. Es konnte noch nicht allzu lange her sein, wenn er noch die abergläubische Furcht gewöhnlicher Menschen vor der Macht der Zauberer teilte. Und er hatte noch keinen Namen. Es war der Gott, der seinen Dienern einen Namen gewährte, wenn sie sich bewährt hatten – oder wenn er gerade in der Stimmung war, Namen zu geben.
»Sie können uns nichts anhaben, wir sind Keiorons Söhne«, sagte er sanfter. »Also, wie viele hast du gesehen?«
»Es waren so viele. Wie eine kleine Armee. Zehn, zwanzig?«
»Das ist ungewöhnlich«, meinte Basdin.
»Brüder!« Wieder eilte ein Mönch in den Hof und winkte. »Mehr als ein Dutzend Zauberer sind am unteren Hang unterwegs.«
»Woher sollten sie wissen, wo wir sind?«
Sich in den Bergen zurechtzufinden war alles andere als einfach. Zudem war der Weg hier herauf für gewöhnliche Menschen unmöglich zu bewältigen.
Nun, Zauberer waren keine normalen Menschen.
»Ich habe vier gesehen. Einer der Brüder meinte, am Ostberg hätte er zwei bemerkt, und angeblich klettern am vierten Gipfel noch ein paar herum.«
Ke-Achan runzelte die Stirn. »Das klingt, als würden sie nach uns suchen. Sie wissen nicht, wo wir sind.«
»Nach uns suchen?« Basdin lachte ungläubig. »Das würden sie nicht wagen. Niemand sucht die Mönche. Es sei denn … meinst du, Le-Iva schickt ihre Zauberer her, damit sie um Gnade bitten?«
»Die Königin? Niemals.« Ke-Achan hatte alles mitangehört, an jenem Morgen nach seiner Tat. Der Hofzauberer hatte recht gehabt – ein Mönch konnte nicht aus dem Fenster fliegen. Ke-Achan hatte nicht aus dem Schlafzimmer der Königin schleichen können, während die Dienerinnen schon im Vorraum hantierten. Um an ihnen vorbeizukommen, hätte er sie töten müssen, aber es widerstrebte ihm, Unbeteiligte für etwas büßen zu lassen, an dem sie keinen Anteil hatten. Also hatte er sich im königlichen Gemach versteckt und gewartet. Die Königin war eine Närrin – eine zornige, uneinsichtige, verblendete Närrin. Sie hatte alle Räumlichkeiten durchkämmen lassen, bereit für eine Auseinandersetzung, die den halben Palast in Schutt und Asche legen konnte, und hatte dabei den schmalen Zwischenraum zwischen dem geschnitzten Kopfteil ihres Bettes und der Wand vergessen.
»Die Königin wird nicht verhandeln, glaubt mir.«
»Was sollen wir mit den Zauberern tun?«, fragte der zweite Bote, ebenfalls ein Namenloser. Er schien sehr darum bemüht, alles richtig zu machen. Keine Angst zu zeigen, sondern Stärke und Besonnenheit.
»Die finden niemals hierher«, sagte Basdin gelassen.
»Mag sein, aber ist das ein Grund, sie einfach herumstreunen zu lassen?« Der Namenlose wollte sich den Kampf offenbar nicht entgehen lassen. Seine Chance, dem Gott zu beweisen, dass er einen Namen verdiente.
»Wir sollten Prinz Tagoron fragen, ob wir die Erlaubnis haben, sie anzugreifen«, schlug Basdin vor.
»Warum sollte er etwas dagegen haben?« Ke-Achan hasste es, dass bei allen wichtigen Entscheidungen der Herr des Klosters befragt werden musste. »Er hat uns noch nie einen Kampf verwehrt.«
»Wenn wir uns zeigen, könnte das den Zauberern einen Hinweis darauf geben, wo sich das Kloster befindet.«
»Nur, wenn wir sie am Leben lassen.«
Basdin blickte zu der knatternden Fahne empor. »Frag ihn trotzdem.«
Die beiden Namenlosen musterten Ke-Achan mit einem Anflug von Bewunderung. »Du weißt, wer Tagoron ist?«
Darauf musste er nicht antworten. »Ich bin gleich wieder da.«
Er durchquerte den Hof, ohne sich zu beeilen. Selbst wenn die Zauberer die Schlucht überwunden hatten, würde es noch Stunden dauern, bis sie hier waren – wenn sie den Weg überhaupt fanden. Die Berge waren groß, die wenigen steinigen, steilen Pfade nur den Eingeweihten bekannt. Und das Kloster war nicht leicht zu entdecken. Von weitem verschmolz das graue Gebäude mit den Felsen, wenn man es nicht im richtigen Winkel sah; es gab nur wenige Stellen, von denen aus das möglich war. Um näher heranzukommen, musste man entweder ein Schneefuchs sein, eine Himmelskatze oder ein Eismönch. Vielleicht waren die Zauberer bessere Bergsteiger, als er annahm? Trotzdem, allein der Versuch war lächerlich. Andererseits ... wenn Le-Iva sie geschickt hatte, würden sie nicht so schnell aufgeben. Sie würden das Gebirge systematisch durchsuchen, einen Gipfel nach dem nächsten. Irgendwann würden sie Erfolg haben.
Um den Kampf von diesem Ort fernzuhalten, mussten die Brüder den Feinden entgegengehen und selbst bestimmen, wo die Auseinandersetzung stattfinden sollte. Prinz Tagoron würde die Namenlosen vorschicken, damit sie die Gelegenheit hatten, sich auszuzeichnen, doch vorher mussten sie die Stärke der Zauberer prüfen. Ke-Achan hatte nicht vor, die unerfahrenen Brüder in den Tod zu schicken. Dem Gott mochte es egal sein, wenn das Blut seiner Diener floss, er liebte es geradezu, ihr Sterben mitanzusehen. Als Herr des Klosters sah Ke-Achan das völlig anders.
Auch das war ein Beweis für den Wahnsinn des Gottes: dass er darauf bestand, die Identität des Prinzen geheim zu halten. Der Meister sollte einer von vielen sein, einer der Brüder, einer wie jeder. Deshalb durfte niemand wissen, hinter welchem der vielen Gesichter sich Tagoron verbarg. Die wahre Identität des Prinzen war nur einigen wenigen ranghohen Brüdern bekannt, die sie sorgsam hüteten. Diese Männer nahmen auch seine Anweisungen entgegen, falls Ke-Achan nicht gleich selbst so tat, als hätte er mit Tagoron geredet. Bei den Feierlichkeiten zu Ehren des Gottes trug der Prinz eine Maske, die sein Gesicht verbarg, und einen magischen Schleier, der seine Gestalt verhüllte. Sie benötigten einen Mittelsmann zwischen den Mönchen und dem Gott, keinen Anführer.
Ke-Achan war das ganz recht. Sie brauchten keinen Prinzen, so wie die Menschen ihre Könige brauchten. Sie hatten ihren Gott, dem sie gehörten.
Wenn es allerdings um wichtige Entscheidungen ging, durfte der Prinz vortreten, Befehle geben und sie anführen. Dann teilte er den Brüdern mit, was der Gott ihm geoffenbart hatte. Diese Befehle verkündete jemand anders, um Tagorons Geheimnis zu wahren, doch nur ein Narr hätte geargwöhnt, dass irgendein beliebiger Bruder sich dazu anmaßte, in Keiorons Namen zu handeln. Der Gott hätte niemals zugelassen, dass jemand anderes als sein Auserwählter seinen Willen verkündete.
Dennoch war der Zwang, aus allem ein Geheimnis zu machen, einfach so verdammt unpraktisch. In den anderen Klöstern des Eisordens war dem nicht so. Da trat der jeweilige Prinz offen und im Glanz seiner Macht auf. Nur hier in Berrin musste Keioron wieder einmal seinem Hang nachgeben, sinnlose, grausame Spielchen zu spielen.
Wie jedes Mal, wenn Tagorons Autorität gefragt war, empfand Ke-Achan dunkle Wut. Sein Status verschaffte ihm keine Privilegien – es sei denn, man betrachtete das Vorrecht, mit dem Gott zu reden oder vielmehr zu streiten, als Privileg. Er hätte gut und gerne darauf verzichtet. Nein, er war kein demütiger, gehorsamer Mönch, der fromm und eifrig seinen Pflichten nachging. Er fragte nach, er klagte an, er zweifelte, er stritt sich mit dem Gott. Und genau aus diesem Grund schätzte Keioron seine Gebete und antwortete ihm. Hass, Auflehnung und Zorn waren alles Gefühle, die der Gott begriff, und Ke-Achan machte sich nichts vor – genau deshalb war er der Auserwählte. Sollte er jemals damit beginnen, Keioron mit Achtung oder gar mit Liebe zu begegnen, würde dem Eisgott langweilig werden und er würde ihn wegwerfen wie ein kaputtes Spielzeug.
Er war nicht Keiorons leiblicher Sohn, wie Nara behauptet hatte. Was für ein absurder Gedanke. Er war nur der Fußabtreter des Gottes.
Diesmal machte er sich nicht die Mühe, die gigantische Treppe Stufe für Stufe zu erklimmen, obwohl Keioron dies als Akt der Demut gerne sah. Stattdessen bewältigte er die Treppe mit drei großen Sprüngen und stand wenig später im Thronsaal, dem größten Raum des Klosters. Der leere steinerne Thron ragte wie ein Berg vor Ke-Achan auf, einschüchternd und ehrfurchtgebietend. Im Sockel befand sich eine schmale, unscheinbare Tür und dahinter lag die Kammer, die als Anbetungsraum diente. Der schlichte, würfelförmige Raum war an die acht Lanzen hoch, doch im Vergleich zu den gewaltigen Sälen wirkte er klein. Zudem war er warm. Ohne Unterbrechung brannte hier ein Feuer, dessen Rauch durch die hohe, steile Lehne des steinernen Throns abzog. Ein kleiner, gemusterter Teppich lag vor dem Kamin.
Dies war der einzige Raum im ganzen Kloster, der beheizt wurde. Im Kamin verbrannten Tag und Nacht die Holzscheite, die sie aus den Tälern heraufholten. Einer der jüngeren, namenlosen Mönche war dafür zuständig, dass das Feuer nie ausging. Die Brüder fragten nie, was ein Feuer mit der Anbetung des Eisgottes zu tun hatte. Wie alle Anordnungen ihres Prinzen nahmen sie auch diese ohne aufzubegehren hin. Für Diskussionen und Zweifel war im Orden kein Platz.
Ke-Achan hielt seine Hände in die Nähe der Flammen, bis die Hitze schon fast schmerzte.
»Die Brüder sind begierig auf einen Kampf, aber die Zauberer sind nicht zu unterschätzen«, sagte er. »Es könnte Verluste geben und wir sind hier nur wenige.«
Aus der Stille kam nur Schweigen. Aber er war nicht länger allein.
»Der Auftrag lautet Tod«, sagte Ke-Achan nach seiner Rückkehr in den Hof. »Keioron will nicht, dass wir die Zauberer vertreiben, sie nur verwunden oder schwächen. Wir sollen niemanden am Leben lassen, der den Berg hinaufkommt.«
Basdin öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder.
Die anderen Mönche nickten.
Und Ke-Achan kochte vor Wut. Zauberer waren unberechenbar. Sie einzuschüchtern und zurückzudrängen sollte nicht allzu schwierig sein, aber sie ausnahmslos umzubringen? Sobald die Zauberer merkten, dass die Mönche keine Gnade zeigten, würden sie ihrerseits ihre volle Stärke ausspielen.
Es war dumm und gefährlich, ein Auftrag, der die Mönche gefährdete und die Zauberer nur reizen würde, statt sie zu besiegen und davon abzuhalten, es jemals wieder zu versuchen. Tote Zauberer würden weitere Zauberer anlocken, die kamen, um sich zu rächen. Ke-Achan hatte den Gott angeschrien und beschimpft, aber Keioron war unerbittlich gewesen.
Und Prinz Tagoron war sein Sprachrohr. Sie hatten keine Wahl.
Andererseits ... womöglich hatten sie die doch.
»Also werden wir sie daran hindern, den Berg hinaufzukommen.« Die Befehle eines Gottes wörtlich auszulegen war riskant – doch nur für Ke-Achan selbst. Keioron würde vor allem auf ihn wütend sein, nicht auf die anderen Mönche.
»Wir teilen uns auf. Einige von uns sichern die Ostflanke, die anderen die Westflanke. Wir hindern die Zauberer daran, die Schlucht zu überqueren. Ist das klar? Wir lassen sie nicht weiter, wir greifen an und treiben sie zurück, mit allem, was wir haben. Sie sollen gezwungen sein, umzukehren. Ich will sie gedemütigt und geschlagen sehen.«
»Und Keioron will sie tot sehen«, sagte Torlin mit einem spöttischen Lächeln. Er war einer der jüngsten Mönche, die bereits einen Namen hatten. »Außerdem, seit wann gibst du hier die Befehle? Er will sie tot, und das ist eindeutig.«
Basdin warf Ke-Achan einen nachdenklichen Blick zu. »Machen wir es so, wie du vorschlägst.« Basdin tat, als wäre es nur ein Vorschlag gewesen, kein Befehl. »Wir tragen den Kampf zu ihnen. Wenn sie davonrennen, ist es ihre Sache. Dann können sie unten in Berrin erzählen, dass wir wachsam sind.«
Torlin verdrehte die Augen, doch Basdin teilte die Gruppen ein, und keiner der anderen Brüder protestierte. Der Großteil der Mönche würde die Zauberer aufhalten, die noch nicht bis zur Schlucht vorgedrungen waren. Eine kleine Streitkraft von sechs Brüdern würde sich denjenigen in den Weg stellen, die dieses erste Hindernis bereits überwunden hatten. Es sollten nicht viele sein, die den vollen Zorn des Gottes zu spüren bekommen würden.
Wie immer blieb Basdin an Ke-Achans Seite. Er wirkte angespannt. Seine Stirn war gerunzelt und seine Sprünge nicht so weit und kraftvoll wie sonst. Als Ke-Achan in einer Schneewehe neben ihm landete, machte er seinem Ärger Luft. »Wir hätten einfach angreifen sollen«, murmelte er. »Es war ein Fehler, den Prinzen zu fragen.«
»Dir liegt doch sonst so viel an seiner Meinung.«
Sein Freund warf ihm einen grimmigen Blick zu. Ke-Achan war sich ziemlich sicher, dass Basdin längst erraten hatte, wer Tagoron war. Es war nicht sonderlich schwer, die Wahrheit herauszufinden, da Ke-Achan meist irgendwie in die Befehlskette verwickelt war. Doch sie sprachen nie darüber und Basdin wagte sonst nie, es auch nur anzudeuten. Er fürchtete Keiorons Zorn, und das zu Recht.
»Hast du wenigstens versucht, dem Prinzen klarzumachen, dass es ein Fehler ist?«
Ke-Achan zuckte mit den Schultern. »Er gibt nur die Befehle des Gottes weiter. Das weißt du.«
»Und der Gott lässt nicht mit sich reden?«
»Nein«, sagte Ke-Achan. »Tut er nicht.«
Basdin war nicht zimperlich. Er war wie eine Klinge aus Eis, klar und scharf und präzise, kalt und tödlich. Sonst hätte er sich nie so lange im Orden behaupten können. Und doch hatte er die vielen Jahre über immer etwas Menschliches in sich bewahrt. Dieses Menschliche blitzte nun in den Tiefen seiner dunklen Augen auf. War es Mitleid? Sie waren verloren, wenn sie damit anfingen, einander zu bemitleiden.
»Das nächste Mal lassen wir es. Dann handeln wir einfach«, sagte Ke-Achan. »Die jüngeren Brüder werden uns folgen.«
Basdin nickte. Das kam einer Revolution gleich. Die Befehlskette zu umgehen gehörte sich nicht für demütige Mönche.
Ke-Achan war die ewigen Streitereien mit dem Gott so leid, aber auf diesen Streit freute er sich beinahe.
Sie sprangen den Berg hinunter, immer mehrere Lanzenlängen von einem Vorsprung zum anderen, von einem Felsbrocken zum nächsten, tiefer gelegenen Stein. Ihre schwarzen Mäntel flatterten; es war windig und in der Luft lag Schneegeruch. Ke-Achan spürte ein Pochen hinter seiner Stirn. Wenn ihn nicht alles täuschte, zog ein Schneesturm herauf.
»Wartet.« Basdin hob die Hand, und sie kauerten sich auf einen Felsen, von dem aus sie einen guten Blick auf den steinigen Pfad unter ihnen hatten. Ein richtiger Weg war es nicht, aber für einen unkundigen Bergwanderer mochte es so aussehen. Wer hier entlangging, hatte es bereits geschafft, die Schlucht, die das Berriner Tal von den Pfaden in die höheren Bergregionen trennte, zu überwinden. Nachdem sie eine Weile gewartet hatten, wurden zwei Gestalten in grauen Mänteln sichtbar.
Die Brüder blickten zu Basdin hin und warteten auf Anweisungen. Er war ein paar Jahre älter als Ke-Achan und übernahm häufig die Führung, wenn sie in einer größeren Gruppe unterwegs waren. Manche der jüngeren Krieger hielten ihn aufgrund seiner Autorität und Ausstrahlung für Prinz Tagoron und begegneten ihm mit einer Ehrfurcht, die ihm nicht zustand, die er jedoch mit leiser Belustigung hinnahm.
»Es sind nur zwei Zauberer«, sagte Basdin. »Das wird leichter als erwartet. Der Schnee wird sich von ihrem Blut rot färben.«
»Das ist der ganze Angriffsplan?«, fragte Torlin. »Der Schnee färbt sich rot? Wirklich?«
»Eistiere«, sagte Basdin. »Eisspeere. Besser?«
Der Junge schnaubte bloß.
Basdin schätzte sorgsam ausgeklügelte Pläne. Es war ihm ein Gräuel, einfach loszustürmen und draufloszuhauen. Ke-Achan lächelte in sich hinein. Wenn sein Freund gewusst hätte, wie spontan der Gott war, dem sie dienten, hätte er sich vielleicht weniger dagegen gesträubt, einfach der Kraft zu vertrauen.
»Zeigen wir ihnen, wem dieser Berg gehört.«
Sie sprangen vom Felsen hinunter. Während sie schwebten, richteten sie schon ihre Hände auf die beiden Zauberer, die mit gesenkten Köpfen durch den Schnee stapften, und sandten ihnen einen Sturm aus Eiszapfen entgegen, die sich in der kalten Luft mühelos bildeten.
Einer der Zauberer war Eridan, der schwarzhaarige Mann, den Ke-Achan im Palast in Le-Ivas Schlafzimmer gesehen hatte – der Meistermagier der Königin. Er reagierte zuerst. Mit einem Schrei riss er beide Arme hoch und schuf eine unsichtbare Schutzwand zwischen den Magiern und den Brüdern.
Die Eiszapfen zerbarsten. Einige wurden abgelenkt und prasselten auf die nahen Felsen. Steine und Eisbrocken wirbelten hoch, und ein zerstörerischer Hagelschauer ging auf beiden Seiten der Barriere nieder; sie reichte offenbar nicht sehr hoch. Der jüngere Zauberer, seinem Kragen nach noch ein Adept, fluchte lauthals.
Bei der nächsten Angriffswelle der Mönche zerbarst die Schutzwand unter dem Ansturm des Eises. Torlin stieß einen triumphierenden Schrei aus.
Die Kraft Keiorons erlaubte nur gewisse Kampfkünste – seine Diener konnten Eis und Schnee formen und fliegen lassen, und sie waren Meister im Umgang mit den magischen Messern. Es gab noch weitere Gaben, die im Kampf hilfreich sein konnten. Ke-Achan streckte seine Hände aus, um ein Schneetier zu schaffen, doch wie so oft wölbte sich der Schnee zwar in die Höhe, fiel jedoch gleich wieder in sich zusammen. Wenn er ein Monster erschaffen wollte, so wie seine Brüder, musste er sich weitaus mehr anstrengen. Er konnte weiter springen als die meisten, er war schneller, er konnte sich so gut wie unsichtbar machen, doch die Ungeheuer, die durch die Kraft entstanden, waren unberechenbar.
So wie jetzt. Er versuchte es noch einmal, aber es gelang ihm nicht. Natürlich nicht. Keioron liebte es, ihm seine Kraft vorzuenthalten, ausgerechnet dann, wenn es darauf ankam, und ihn damit zu quälen, dass er die einfachsten Dinge nicht fertigbrachte. In einigen wenigen Disziplinen musste er seinen Brüdern den Vortritt lassen; diese war eine davon. Eine andere war der Angriff mit Kälte. Etliche Mönche konnten es so kalt werden lassen, dass die Zauberer an Ort und Stelle erfroren wären. Ihr Blut würde langsamer fließen und schließlich zu Eis erstarren, ihr Herz pochen wie ein gefangener Vogel und dann still werden, ihre Augen, in denen das Entsetzen stand, milchig überfrieren.
Ke-Achan schlug nicht vor, dass sie die Feinde auf diese Art bekämpften; ihm graute davor.
Basdin streckte die Hand aus, und aus dem Schnee erhob sich ein Bär. Er wuchs und wuchs, während immer mehr Schnee in seine kräftigen Beine floss. Vor ihren Augen türmte sich das Ungeheuer auf und reckte das gewaltige Haupt in die Luft. Die Zauberer wichen jedoch keinen Schritt zurück, nicht einmal dann, als der Bär sich auf die Hinterbeine aufrichtete. Er war mindestens zwei Lanzen hoch. Seine kleinen zornigen Eisaugen glitzerten.
»Wartet!«, rief Eridan. »Ich habe Euch etwas mitzuteilen. Wir kommen von Königin Le-Iva.«
Basdin hob die Hand. »Wer hätte das gedacht. Nur ein erbärmlicher Zauberer stellt sich in den Dienst eines Königs statt eines Gottes.«
Der Zauberer verzog keine Miene. »Wir sind nicht hergekommen, um gegen den Orden zu kämpfen. Wir überbringen eine Botschaft.«
»Also doch?«, murmelte Ke-Achan. »Das kommt überraschend.«
Basdin drehte sich zu seinem Freund um. »Wollen wir uns anhören, was sie zu sagen haben?«
»Niemand soll uns vorwerfen, wir wären unhöflich«, meinte Ke-Achan.
»Also«, fragte Basdin laut, »was hat die Königin zu sagen?«
»Königin Le-Iva verlangt die Auslieferung des Ordensmitglieds, das ungebeten in den Palast eingedrungen ist. Das Antasten der königlichen Person muss bestraft werden.«
»Hört, hört«, sagte einer der Mönche.
»Falls ihr euch bereiterklärt, dieser Aufforderung nachzukommen, sieht die Königin davon ab, euer Kloster ausfindig zu machen, zu zerstören und den Kriegerorden aus den Bergen von Berrin zu vertreiben.«
Die Mönche sahen sich ungläubig an. »Meint er das ernst?«, fragte einer der Namenlosen. »Das soll ein Scherz sein, oder?«
»Die Auslieferung«, wiederholte der Zauberer unerschrocken.
Ke-Achan beobachtete ihn, während er sprach. Hatte der schwarzmähnige Magier Angst? Eridan konnte nicht wirklich daran glauben, dass die Mönche auf diese Provokation eingehen würden. Dachte er, dass er diese Begegnung überleben konnte? Dann war er entweder von allen guten Geistern verlassen – was Zauberer sowieso waren – oder er konnte mit einer Kraft aufwarten, die ihm Grund für so viel Selbstbewusstsein gab. Im Schlafgemach der Königin war ihm der Zauberer nicht gerade forsch und unüberlegt vorgekommen, sondern vielmehr nachdenklich und zurückhaltend.
Basdin warf Ke-Achan einen fragenden Blick zu, der wohl bedeuten sollte: Bestrafen wir ihn für seine Frechheit?
Das ungute Gefühl nahm überhand. Ke-Achan schüttelte den Kopf. »Er hat irgendeine Überraschung auf Lager. Nehmen wir uns den Adepten vor. Jetzt!«
Der Bär sprang auf die beiden Zauberer los. Eine Feuersäule bildete sich vor dem jüngeren Magier, ein flimmerndes, glühendes Gebilde, in das der Bär direkt hineinlief.
Es dauerte nur wenige Augenblicke. Das Ungeheuer schaffte es kaum, wieder auf der anderen Seite herauszukommen, es zerfloss bereits, und die Pranke, die sich nach den Feinden ausstreckten, wurde länger und dünner und klatschte wirkungslos in den Schnee.
Drei Brüder sammelten armlange, spitze Eiszapfen vor sich, richteten ihre Flugbahn aus und schickten sie los. Der andere Zauberer lachte nur. Aus den Handflächen des Feuerzauberers schlugen Flammen, die das Eis zum Schmelzen brachten. Es leuchtete rot auf. Weit hinter ihnen über den Bergen erklang das erste Gewittergrollen. Ein Vibrieren ging durch den Fels.
Ke-Achan unterdrückte einen Fluch. Gewitter gehörte nicht zu Keiorons Macht; Marl, die Göttin der Stürme, schwelgte darin. Sie sollten das hier schleunigst beenden und ins Kloster zurückkehren.
Der Feuerzauberer hob den Arm und sandte seine Kraft aus. Er schien zu tanzen, als er sich um seine eigene Achse drehte und dabei erstaunlicherweise keine Flammen, sondern einen Luftwirbel erzeugte, der sich wie eine Windhose auf die Mönche zubewegte.
Die Brüder hielten sich nicht länger zurück. Sie konzentrierten ihre Angriffe auf den wirbelnden Tänzer.
Ke-Achan wandte sich dem Hofzauberer zu. Eridan bewegte sich kaum; er setzte seine Gabe gezielt und konzentriert ein – Kraftstöße, die die Mönche fortschleuderten, wenn sie nicht achtgaben, ihre Eisspeere zerbersten ließen und die Luft summen ließen. Dennoch hatte Ke-Achan das Gefühl, dass der Magier sich noch zurückhielt.
»Kehrt um!«, rief er. »Oder ihr seid des Todes!«
Es donnerte erneut, ohrenbetäubend hallte es von den Hängen zurück, der Boden bebte. Steine prasselten den Hang hinunter.
Ein verächtliches Grinsen zog über Eridans Gesicht. »Meinst du, Eissklave?« Höhnisch lächelnd bewegte er die Hände; was er damit bewirkte, sah Ke-Achan erst im gleißenden Licht des nächsten Blitzes – eine neue Schutzwand wie aus Kristall, die zu glühen schien.
Doch durch das Licht konnte Ke-Achan genau erkennen, wie hoch die Mauer war.
»Das sind nicht eure Berge«, sagte er und griff an – mit beiden Händen riss er eine gewaltige Ladung Schnee in die Höhe, und diesmal gehorchte ihm die Kraft ohne Widerstand. In der Luft formte sich der Schnee zu einem gewaltigen Löwen, der auf Eridan zuschnellte. Das mächtige Schneetier sprang höher als die Wand, grub die Klauen in den oberen Rand, erklomm sie, ließ sich darüber fallen und ging auf die beiden Magier los. Nicht auf Eridan, der darauf gefasst war, sondern auf den Feuerzauberer, der sich auf die anderen Mönche konzentrierte. In diesem Moment war er gerade dabei, einen neuen Luftwirbel zu erzeugen. Als der Löwe ihn zu Boden warf, schrie er auf und sammelte die Flammen in seinen Händen, doch es war zu spät. Eiskrallen zerfleischten seinen Brustkorb, Eiszähne rissen ihm die Kehle auf. Der Löwe warf den Kopf in den Nacken und brüllte, und der Donner antwortete ihm. Schlagartig wurde es dunkel, als die Wolken sich über den Hang hinabsenkten. Der Hofzauberer schrie – nicht vor Wut oder Angst, sondern triumphierend, und bevor Ke-Achan sich darüber wundern konnte, streckte Eridan beide Arme in die Höhe. Das Aufflackern eines Blitzes beleuchtete das Gesicht des Zauberers, in seinen Augen glomm ein grünliches Licht.
»Zurück!«, schrie Ke-Achan.
Basdin hob den Kopf und wiederholte den Ruf. »Zurück! Alle zurück!«
Sie sprangen bereits den Berg hoch, als der nächste Blitz aus den Wolken zuckte. Ke-Achan sah gerade noch, wie der Zauberer einen Strahl nach oben sandte, der sich mit dem Blitz verband, und die geballte Ladung Energie auf den Berg schmetterte.
Unter ihren Füßen zersprang der Hang in Stücke.
Ke-Achan warf sich mit einem Salto nach vorne, wurde von herumfliegenden Felsbrocken gestreift und stürzte ab. Er schaffte es kaum noch, seine Kraft einzusetzen, um sich abzufangen. In der Dunkelheit und dem urplötzlich einsetzenden Schneefall sah er nichts mehr. Dann blitzte es wieder und er konnte den goldenen Kragen des Zauberers aufleuchten sehen. Eridan stand über einem der abgestürzten Kriegermönche und empfing den Blitz mit hoch erhobenen Händen, um diese gleich darauf sinken zu lassen und auf den Gefallenen zu richten.
Ke-Achan stolperte davon, in den Schnee hinein, und dann kam der ganze Berg herunter und die Welt wurde dunkel.