18. Der Platz am Feuer
Das Licht war grellweiß und blendete so, dass es schmerzte.
Ke-Achan blinzelte.
Die Kälte und das unglaubliche Gewicht des Schnees bewirkten, dass er seinen Körper nicht mehr spüren konnte. Sein Herz schlug so langsam, dass zwischen jedem Herzschlag Äonen zu vergehen schienen. Durch seine Adern schoben sich Kristalle.
Ohne die Kraft des Eisgottes wäre er tot gewesen. Zum Glück konnte man Ordenskrieger nicht durch Schnee umbringen – auch nicht durch die Lawine, die der Zauberer ausgelöst hatte.
Draußen war es hell, ein neuer Tag war längst angebrochen. Etwas kratzte und schnüffelte, und über das Loch, das sich über seinem Gesicht aufgetan hatte, beugte sich eine rote Fratze.
Rotverschmierte Zähne, dunkelrote Lefzen, ein breites Grinsen mit furchterregenden Hauern.
»Löwe?«, fragte Ke-Achan. Seine Lippen waren eingefroren, seine Zähne kleine Eisklumpen. Es bereitete ihm Mühe zu sprechen.
Das Schneetier beugte sich tiefer zu ihm hinunter und fuhr ihm mit einer langen, kalten Schneezunge übers Gesicht.
»Löwe«, sagte Ke-Achan. »Lass das. Grab weiter.«
Der Löwe gehorchte. Er kratzte weiter am Schnee, und da er so groß war und seine Eiskrallen mühelos selbst durch verdichteten Schnee glitten, hatte er keine Mühe damit, seinen Herrn auszugraben.
Ke-Achan war überrascht, dass der Löwe noch da war – dass er noch lebte, wäre zu viel gesagt. Der Zauberer, den er getötet hatte, war nicht schnell genug mit dem Feuer gewesen, und irgendwie war es dem Ungeheuer gelungen, dem Blitzgewitter des Hofzauberers zu entkommen. Statt Eridan anzugreifen, hatte es sich davongemacht. Schlaues Biest.
Worin sich wieder einmal zeigte, dass er seine Mühe mit dieser Art der Kraftanwendung hatte. Die Untiere der anderen Krieger taten ihre Pflicht – sie griffen an und töteten. Sie besaßen nicht genug Verstand, um vorsichtig zu sein. Von der mörderischen Kraft Keiorons angetrieben, erfüllten sie ihre Bestimmung. Sie leckten ihrem Schöpfer nicht tröstend das Gesicht und gruben ihn aus einer Lawine aus.
Ke-Achan lag still und duldete es, dass dieses Wesen, der erneute Beweis seines Versagens, ihn mit sichtbarer Freude aus seinem eiskalten Grab befreite. Auch danach konnte er sich erst einmal nicht rühren, doch irgendwie brachte er es schließlich fertig, sich auf den Rücken des Schneelöwen zu hieven und sich von ihm zum Kloster tragen zu lassen.
Nur im Anbetungsraum war es warm genug, um sich aufzuwärmen. Ein Ort, der den Löwen unweigerlich zum Schmelzen gebracht hätte.
»Bleib hier«, befahl er ihm deshalb an der Schwelle, wo der Eiswolf wie gewöhnlich herumlungerte und döste. Zum ersten Mal fragte Ke-Achan sich, wer für dieses schläfrige Geschöpf verantwortlich war, dass sich nie zu den Trainingskämpfen im Hof verirrte, wo es den Kriegern unweigerlich zum Opfer gefallen wäre. Hatte er dieses Schneetier etwa selbst in einer glücklichen Stunde geformt?
Der Wolf hob den Kopf und blinzelte, als der Löwe sich umständlich neben ihn plumpsen ließ. Er knurrte warnend. Der Löwe leckte sich unbeeindruckt das blutige Maul und streckte die Tatzen aus, sodass die Krallen in ihrer ganzen Herrlichkeit sichtbar wurden.
Ke-Achan überließ die Tiere sich selbst und ihrem wenig subtilen Wettstreit und schleppte sich ins Gebäude. Seine Knie protestierten, als er die schmale Treppe hoch in seine Kammer stieg. Die Zellen der Mönche hatten nichts mit den gigantischen Sälen und Hallen gemein. Jene waren wie für Riesen gemacht, diese boten kaum genug Platz für eine Matte und einen Hocker. Der Fensterladen klapperte, Schnee rieselte durch die Ritzen hinein. Glasfenster gab es hier oben nicht.
Ke-Achan kauerte sich auf die schmale, harte Liege – nur ein Brett und darauf ein strohgefüllter, schon recht plattgedrückter Sack. Er war der Einzige, der sich diesen Luxus gönnte, also hatte Torlin wohl recht. »Bettschläfer« nannte er ihn. Niemand hatte es gerne so weich und warm wie er. Niemand der anderen schien jemals zu frieren oder zeigte es. Ke-Achan war der Stärkste von allen, doch manchmal reichte seine Kraft kaum aus, um seine Schmerzen zu verbergen.
Er wickelte sich in die dünne Decke und lehnte sich gegen die raue Wand, auf der Eisblumen nicht nur wuchsen, sondern geradezu wucherten. Mit eisigen Fingern schienen die Steine nach ihm zu greifen.
Das war noch gar nichts gegen das, was ihn gleich erwartete. Er schluckte. Wie konnte man sich vor dem fürchten, womit man lebte, davor, was man war? Dann war es besser, gleich den Tod zu wählen. Er musste nur irgendwann einen Fehler machen, zu kurz über einen Abgrund springen und fallen. Keioron würde ihn nicht auffangen. Der Gott des Eises hasste Versager und er bestrafte jeden, der scheiterte. Doch Ke-Achans Stolz ließ diesen Ausweg, der ihm manchmal sogar verheißungsvoll schien, nicht zu.
Draußen tobte der Sturm unvermindert weiter. Der Wind heulte so laut, dass er mit der Stimme eines Gottes zu sprechen schien. Ke-Achans Gedanken trafen ihn ebenso hart wie die Eisbrocken, die gegen die Mauer prasselten.
War es ein Fehler gewesen, den Rückzug zu befehlen? Und hatte er seine Brüder auf den falschen Mann angesetzt? Hätte er den Angriff auf Eridan konzentrieren sollen, bevor dieser die Gelegenheit bekam, nach den Blitzen zu greifen? Er hätte sich Keiorons Anweisungen widersetzen oder sie verfälscht weitergeben sollen, um seine Mitmönche zu schützen.
Doch wie hätte er wissen können, dass Le-Ivas Schoßhündchen ein Blitzzauberer war?
Es dauerte lange, bis Ke-Achans verweichlichter Körper aufgehört hatte zu zittern, und noch länger, bis er sich wieder bewegen konnte, ohne vor Schmerz zusammenzuzucken. Das Schlimmste jedoch war der Gedanke an die Brüder, die sie verloren hatten.
»Ein Blitzzauberer!«
Einige Stunden später fanden sich die Mönche zu einer Besprechung ein. Gemeinsam saßen sie im Speisesaal auf dem harten, kalten Boden und nahmen schweigend das Mahl aus harten Fladen ein. Das Brot war gefroren; jeden Bissen musste man im Mund auftauen. Zwei Brüder fehlten in ihrer Mitte. Ke-Achan bezweifelte, dass sie noch zurückkehren würden.
»Ein Blitzzauberer«, wiederholte Torlin. Der Junge hatte die Lawine weitaus besser überstanden als Ke-Achan. »Verdammt, wo kommt der her? Ich dachte, Le-Iva hätte Zauberer unter Vertrag, die Warzen heilen können, aber nicht solche Kampfmagier. Schutzwälle, Feuer und verdammte Blitze! Seit wann unterstellt sich so einer der Königin von Berrin? Wir hätten nicht fliehen dürfen. Wir hätten unseren Angriff auf den Meistermagier konzentrieren sollen statt auf seinen Begleiter. Mit dem Feuer- und Windwirbler wären wir nachher noch fertiggeworden.« Er fixierte Ke-Achan wütend. »Daran bist du schuld! Du hast den Befehl zum Rückzug gegeben.«
Basdin hob die Hand und sofort kehrte Ruhe ein. »Ich hätte dieselbe Entscheidung getroffen. Und dazu stehe ich. Wir waren zu wenige, um einen Blitzzauberer anzugreifen.«
Ke-Achan lachte leise.
»Was?«, fuhr ihn Torlin an. »Was ist so lustig?«
»Gar nichts«, antwortete Ke-Achan, wieder ernst. »Nur deine Naivität. Es gibt da draußen tatsächlich Feinde, die stärker sind als wir.«
»Nichts ist stärker als Keiorons Macht!«, rief Torlin aus. »Alles andere auch nur zu denken ist Blasphemie.«
»Wir können diesen Magier besiegen«, sagte Ke-Achan. »Und wir werden es. Aber nicht ohne einen Plan.«
»Ha!«, meinte Torlin wütend. »Es gibt keine Grenzen für Keiorons Diener. Habe ich mich ihm verschrieben, um einzuknicken, wenn ein Bastard von einem Blitzzauberer uns herausfordert?«
»Sei still, Junge«, befahl Basdin.
»Was würde Keioron dazu sagen?«, fragte der jüngere Mönch weiter. »Hat er zugeschaut und sich für uns geschämt? Ein paar von uns sind gestorben, ihm zu Ehren, und wenn es mehr wären, die bereit dazu sind, hätten wir gesiegt. Ich fürchte mich nicht. Was ich fürchte, das ist, feige den Schwanz einzuziehen!«
»Hör auf«, zischte Basdin.
»Und wenn nicht? Bist du unser Prinz, dass du mir Befehle erteilst? Frag den Gott, was er davon hält, wenn wir feige fliehen. Frag ihn, ja, ich will hören, was er antwortet!«
Basdin starrte den aufsässigen Bruder eine Weile wortlos an.
Einer der anderen Männer legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Er ist jung. Er wird schon noch lernen, wann er den Mund zu halten hat.«
Vindo fixierte den Jungen, der den strafenden Blick des Alchimisten zornig erwiderte. »Wie alt bist du – fünfzehn, sechzehn? Wie alt willst du werden?«
»Ich fürchte mich nicht davor, Keioron meine Seele zu geben. Er ist der Gott des Eises, er ist im Schneesturm, er gibt uns Kraft. Schande über jeden, der den Rückzug befiehlt!« Torlin funkelte Ke-Achan an. »Bettschläfer«, zischte er verächtlich.
»He!«, rief Basdin. »Das nimmst du zurück! Er ist unser bester Krieger!«
Ke-Achan hörte nicht länger zu. Mit geballten Fäusten stand auf und verließ den Raum. Es mochte aussehen, als würde er schmollen, aber es gab einen anderen Grund, warum er davoneilte; er hatte keine Zeit, um irgendetwas zu erklären. Manchmal war er so kurz davor, zu verraten, wer er war. So kurz! Der Zorn wallte in ihm auf, er wollte jemanden schlagen und musste sich doch bezähmen. Manchmal wusste er nicht, wessen Wut es war, die er fühlte, ob seine eigene oder die des Gottes.
Falls es Keiorons Ärger war, den er spürte, war Torlin in großer Gefahr. Deshalb musste Ke-Achan so rasch wie möglich ins Heiligtum. Von hier aus war der Weg außen herum kürzer als durch die vielen Säle und Hallen. Der Nebeneingang neben der Küche besaß eine Tür, die im Vergleich mit dem Eingangsportal geradezu winzig anmutete. Er wollte sie gerade öffnen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte.
»Sprichst du jetzt mit ihm?«, fragte Basdin leise. Er hatte eine tiefe Schramme auf seinem kahlgeschorenen Schädel, wo ihn ein Stein getroffen hatte, und eine Brandwunde am Kinn.
Ke-Achan nickte.
»Bitte ...« Basdin schenkte ihm einen langen Blick. »Torlin ist fast noch ein Kind.«
»Ich weiß«, sagte Ke-Achan und öffnete die Tür. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«
»Wir brauchen ihn«, rief Basdin ihm nach. »Gerade jetzt!«
Was gab es dazu zu sagen? Es war Keioron, der die Entscheidungen traf, nicht Prinz Tagoron.
Draußen sprang ihn der Sturm an wie ein ausgelassenes Schneeungeheuer und versuchte, ihn umzuwerfen. Mit gesenktem Kopf kämpfte Ke-Achan gegen den Wind an. Er schritt am Gebäude entlang, bis er den offenen Hof überblicken konnte. Bei dem Wetter trainierte niemand mehr. Wirbel aus Schnee fegten über die freie Fläche.
Die gigantischen Torflügel standen weit offen, und dahinter war der Berghang zu erahnen – noch mehr Weiß. Mannshohe Schneewehen häuften sich an der westlichen Klostermauer. Die Fahne mit dem Blut der Königin klebte festgefroren am Mast.
Die beiden fehlenden Mönche würden nicht mehr kommen. Einen hatte der Blitz getroffen, wenn ihn seine Erinnerung nicht täuschte, doch der andere? Er war gewiss ebenfalls tot. Bittere Gewissheit erfüllte Ke-Achan, während er dem Heulen des Sturms lauschte. Vielleicht würde ihm der Gott morgen zeigen, wo ihre vom Schnee begrabenen, verkohlten Leichen lagen, möglicherweise hatte er sie jedoch bereits verschlungen. Dann würden sie nichts mehr finden, was sie bergen konnten. Dennoch nahm er sich vor, nach seinen Brüdern zu suchen. Sobald der Sturm nachgelassen hatte, würde er mit Basdin zusammen aufbrechen.
Die Wut wuchs in ihm, während er an der hohen Mauer entlangging, und sie schwoll weiter an, als er die gigantische Eingangshalle betrat und sich auf den Weg ins Heiligtum machte. Der Gott wartete gewiss schon unter dem Thron auf ihn. Ob er sich inzwischen beruhigt hatte? Keioron hasste Niederlagen, er nahm sie persönlich, auch wenn sie auf seinen falschen Entscheidungen beruhten. Vor allem dann.
Im Anbetungsraum war es warm. Wohltuend warm. Verlockend warm. Wenn das nicht gewesen wäre, hätte Ke-Achan es noch schwerer gefunden, herzukommen. Er zog sich die Schuhe aus und kniete sich auf den Teppich vor dem Kamin. Bis auf ihn und Vindo, der sich als ältester Ordensbrüder gerne ein paar Vorrechte herausnahm, liefen die Mönche barfuß. Immer und überall. Ke-Achan wusste, dass sich einige Brüder – vor allem die jüngeren, namenlosen – über ihn lustig machten, aber kaum jemand außer Torlin wagte ihm das ins Gesicht zu sagen. Er erklärte die Schuhe damit, dass er sich bei gewagten Sprüngen nicht an schroffen Felskanten verletzen wollte, und da er schneller und weiter sprang als sie, akzeptierten sie diese Erklärung. Die Wahrheit war, dass er erbärmlich fror. Immer.
Vielleicht war das der Preis für das Wohlwollen des Gottes. Es gab für alles einen Preis, und Keioron war niemand, der sich mit Kleinigkeiten zufrieden gab.
Der Platz vor diesem Feuer war der einzige warme Ort im ganzen Kloster.
Genieß es, sagte er sich. Die wenigen Augenblicke, die dir bleiben, bevor …
»Ich will Torlins Herz!« Keiorons Stimme füllte den Raum.
Nein, der Gott hatte sich noch nicht beruhigt. »Ich will sein Herz! Bring es mir! Bestrafe ihn!«
Ke-Achan fiel rücklings auf den Teppich. Falls er bewusstlos wurde, was recht wahrscheinlich war, würde er wenigstens nicht vollkommen auskühlen. Keioron zu reizen endete meistens mit einer Ohnmacht.
Er ging zum Gegenangriff über. »Warum hast du mir nicht gesagt, dass wir einem Blitzzauberer begegnen werden? Verdammt, das hätte ich wissen müssen!«
»Warum hast du nicht zugehört? Was kann ich dafür, wenn du dich dümmer stellst, als du bist?«
Moment. Was hatte der Hofzauberer im Palast gesagt? Hier drinnen kann ich meine Kraft nicht ausspielen …
»Das war ein Hinweis, ja«, gab Ke-Achan zu. »Aber du hättest es mir trotzdem sagen können.«
Der Gott war heute auch nicht vernünftiger als sonst. »Ihr hättet einfach weiterkämpfen sollen, egal wer eure Feinde sind!«
»Das hat Torlin auch gesagt. Willst du ihm nicht doch noch eine Chance geben? Er ist jung und eifrig. Er wird dir lebendig mehr nützen als tot. Der Junge ist dir innig ergeben.«
Der Gott verharrte einen Moment. Dann beugte er sich über Ke-Achan und malte mit der eisigen Fingerspitze einen Löwenkopf auf seine Haut. »Mehr als du, meinst du wohl?«
Der Schmerz wäre ohne die Kraft nicht zu ertragen gewesen. Auch so bereitete es Ke-Achan unendliche Mühe, weiterzusprechen. »Du weißt, dass ich dir mit Haut und Haaren gehöre.«
Keioron lächelte geschmeichelt. »Oh ja, das weiß ich. Was sollte ich sonst wohl über dich denken? Dass du zu feige bist, um meine Kinder in den Kampf zu führen?«
»Ich lege Wert darauf, sie nach jedem Kampf wieder zurückzubringen – im Gegensatz zu dir. Es ist meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass wir unsere Aufgaben erfüllen können. Dass genug Männer da sind, die für dich kämpfen. Ich weiß, welchen Genuss es dir bereiten würde, uns alle sterben zu sehen, aber bedenke, dass dann niemand mehr übrig bleibt, um dir zu dienen.«
Keioron nickte missmutig. Sein Gesicht, in das Ke-Achan nur flüchtig zu schauen wagte, zerfloss im Schein des Feuers. »Mach es aus! Ich hasse es!«
»Du würdest mich umbringen, wenn ich das täte. Wir lassen es an.«
»Mach es aus!«
»Nein.«
Keioron legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend. »Du sorgst dich also um deine Brüder? Deine nichtsnutzigen, unfähigen Brüder, die es wagen, dich zu beleidigen? Niemand beleidigt dich ungestraft. Ich werde dich rächen, mein Sohn. Bring mir Torlins Herz.«
»Es würde reichen, wenn ich ihm sagen dürfte, wie sehr du mich liebst. Dann wird er von selbst damit aufhören. Ich brauche jeden Mann im Kampf gegen diese Zauberer. Wir wissen nicht einmal, was sie noch gegen uns aufzubieten haben. Wie ich dich kenne, verrätst du es mir nicht oder höchstens im letzten Moment.«
Liebevoll strich der Gott mit den Fingerspitzen über seine Haut. Der Schmerz war zu groß, um überhaupt noch etwas zu fühlen. »Du kannst es ihm aber nicht sagen.«
»Warum nicht? Was wäre so schlimm daran?«
Der Gott beugte sich über ihn. »Ich will nicht, dass du herrschst. Du sollst dienen.«
»Ach, und wie soll ich dann diesen Kampf führen? Den übrigens du angezettelt hast?«
»Führen?« Keioron lachte kalt. »Du sollst nur kämpfen. Und meine Anweisungen weitergeben. Du wirst hier gar nichts führen.«
Beim nächsten Mal würde er wieder etwas anderes sagen. Das war Ke-Achan längst gewöhnt. Deshalb wunderte er sich auch nicht, als der nächste Befehl erfolgte. »Du gehst wieder in den Palast. Dein kleiner Streich hat mir gefallen. Es gibt genug andere, die sich mit den Zauberern streiten können.«
»Dann soll Basdin sie anführen?«
»Ja«, flüsterte der Gott. »Basdin … Sein Herz wird immer größer. Seine Seele reift. Er duftet nach Blut und Kampf. Ihm werden sie willig folgen. Der köstlichste Krieger von allen.«
Vor Wut und Frustration keuchend setzte Ke-Achan sich auf, obwohl die Hand des Gottes auf seinen Rippen lag.
»Nicht Basdin! Nimm nicht Basdin, Herr!«
»Herr nennst du mich? Und winselst um das Leben deines Freundes?«
»Er ist nicht mein Freund. Denn du würdest ihn töten, wenn er das wäre – nur aus diesem einen Grund, weil er mir etwas bedeutet.«
»Mir ist egal, wen du magst«, sagte Keioron. »Was in deinem Herzen vor sich geht, ist mir völlig gleich. Nur deine Taten interessieren mich. Bevorzugst du einen der Brüder? Hältst du jemanden aus den Kämpfen heraus? Ist dir irgendein Mensch wichtiger, als ich es bin? Ich und meine Sache?«
»Nein«, beteuerte Ke-Achan.
»Bring mir ein Herz. Morgen. Such mir eins aus. Ich bin gespannt.«
Das Zimmer war leer, nur ein Hauch von Kälte blieb zurück. Stöhnend ließ sich Ke-Achan auf den Teppich zurücksinken. Es war ihm nicht gelungen, den Gott zur Gnade zu überreden und ihn von dem abzulenken, was er tun wollte. Dabei würde dieser Kampf alles andere als ein Spaziergang werden. Die Zauberer hatten unerwartet große Stärke gezeigt. Die Ordensbrüder waren an einen leichten Sieg gewöhnt, doch nun standen sie vor einer echten Herausforderung. Ke-Achan hatte Königin Le-Iva erlebt – diese unerschrockene Königin würde alles aufbieten und in die Berge schicken, was ihr zur Verfügung stand. Blitzzauberer waren vielleicht bloß der Anfang. Natürlich würde Keioron letztendlich siegen, aber Ke-Achan wollte seine Männer ungern verlieren, auch wenn ihn das in den Augen des Gottes und der Brüder bemitleidenswert schwach machte.
Enttäuscht biss er sich auf die Lippe.
Die Wärme vor dem Kamin wurde schwächer. Er rappelte sich auf und legte Holz nach, wobei er die linke Hand an seinen Bauch presste, wo er immer noch die eisige Hand des Gottes spürte. Oh, er wusste, wie die Königin sich an jenem Morgen gefühlt hatte. Nur zu gut.
Ke-Achan fand den kalten, faden Getreidebrei ungenießbar, dennoch zwang er sich dazu, auch den letzten Rest aufzuessen. Als er aufsah, begegnete er Basdins fragendem Blick, und er schüttelte den Kopf. Wie immer nahmen sie ihr Frühstück ein, ohne viel zu sprechen. Ganz leise war es in dem kalten, zugigen Speisesaal dennoch nicht. Das Schaben der Holzlöffel über die Teller, das Rücken der Stuhlbeine, das Rascheln von Kleidung war unvermeidbar. Jemand hustete. Basdin, der gerade den dünnen Tee schlürfte, der diesen Namen kaum verdiente, stellte den Becher ab. Sein Gesicht verdüsterte sich; er hatte die Antwort auf seine stumme Frage durchaus verstanden.
»Na«, fragte Torlin gehässig, »brauchst du keine Extraportion, großer Krieger?«
Ke-Achan musterte ihn mit gespielter Gleichmütigkeit. Der Junge wusste es nicht besser. Er hatte gelernt, alles zu hassen, was einem normalen Menschen guttat. Ein Kriegermönch brauchte keine Wärme, keine ausgefallenen Mahlzeiten, kaum Schlaf und keine Zerstreuung. Keine Frau in seinem Bett und keine Freunde. Nur seinen Gott. Sonst nichts.
»Ich würde mit dir kämpfen, Kleiner«, sagte er. »Schon allein dafür, dass du zu viel sprichst, statt zu schweigen, wie es angemessen ist. Doch ich bin für eine andere Aufgabe eingeteilt.«
»Du bist ein feiger Hund«, zischte der Junge.
Basdin winkte Ke-Achan, mitzukommen. »Was hat Keioron gesagt? Was für eine andere Aufgabe?«
»Ich muss wieder in den Palast.«
»Noch einmal? Was soll das bringen?«
»Außer die Königin in Angst und Schrecken zu versetzen? Was nicht klappen wird, weil es sie bloß zur Weißglut bringt. Frag nicht mich – du sollst die Brüder anführen.«
»Ich brauche dich, wenn wir diesen Zauberern begegnen!«
»Ich weiß«, sagte Ke-Achan. »Aber Keioron schickt mich nach Berrin. Sieh zu, dass du die beiden Toten findest und mit hochbringst. Das ist wichtig, hörst du? Wir werden heute Abend ein Herz losschicken.«
Basdin wurde bleich. »Wessen? Wer soll sterben? Torlin?«
»Niemand, wenn es nach mir geht«, knurrte Ke-Achan. »Nimm die Toten mit. Ich denke mir etwas aus, um den Gott zu besänftigen.«
Sollte er Basdin sagen, dass es ihn treffen würde, wenn Torlin überlebte? Um seinen Freund zu retten, könnte er ihn dazu bringen, dass er den Jungen als Ersten losschickte, mitten in die Gefahr. Aber Torlin war so verflucht jung! Wie sollte Ke-Achan entscheiden zwischen seinem besten Freund und einem Kind, mochte es noch so unerträglich sein?
Er konnte es nicht. Und noch weniger konnte er Basdin diese Entscheidung überlassen. »Pass auf dich auf. Ich muss gehen.«
Gerade kamen die anderen Brüder aus dem Speisesaal. Torlin hatte die letzten Worte gehört. »Du willst weg, Schuhträger? Du lässt uns das alleine ausfechten?«
Mit einem höhnischen Grinsen ging er an den beiden vorbei.
»Das ist ein Junge nach Keiorons Geschmack«, murmelte Ke-Achan.
»Irgendwann sage ich es ihm«, drohte Basdin. »Egal, was dann passiert. Ich sage ihm, dass du der Mann bist, zu dem unser Gott spricht.«
»Nein«, widersprach Ke-Achan. »Du beugst dich unter Keiorons Willen. So wie wir alle.«