20. Ein königliches Mahl
Le-Iva hob die Gabel zum Mund.
Asati beobachtete, wie die Königin kaute, wie sie mit den Augen rollte. Le-Iva konnte sich so hingebungsvoll einer Mahlzeit widmen, dass es ein Genuss war, ihr dabei zuzusehen.
»Es scheint Euch zu schmecken.« Sie versuchte, ihre Nervosität mit einem verheißungsvollen Lächeln zu kaschieren. »Ich war in der Küche und habe dem Koch genaue Anweisungen gegeben.«
Le-Iva sagte nichts und hob nur leicht die Brauen. Sie kam Asati etwas blasser vor als sonst, als hätte sie die ganze Nacht nicht geschlafen, und ihre vorsichtigen Bewegungen verrieten, dass sie Kopfschmerzen hatte. Asati kannte sie gut genug, um jede ihrer kleinen Gesten zu deuten. Als wären sie ein altes, perfekt aufeinander eingespieltes Ehepaar.
Doch so durfte sie nicht denken. Noch nicht.
Warum war diese Frau bloß Königin? Wäre sie jemand anderes gewesen, eine einfache Frau oder auch nur eine der anderen Adligen, es hätte so viel einfacher sein können. Sie könnten ein Paar sein. Sie könnten zusammen leben, ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, was irgendjemand dachte oder erwartete. Nun, ganz so einfach war es nicht. Ihre Eltern hätten Druck gemacht, sie zwingen wollen, einen adligen jungen Mann aus ihrem Bekanntenkreis zu wählen, jemanden aus einer Familie, die entweder wohlhabender war oder einflussreicher. Asati hätte zusammen mit ihrer Geliebten fliehen müssen, um diesem Zwang zu entgehen. Doch wäre Le-Iva eine gewöhnliche Bürgerliche gewesen, wäre sie sicher mitgekommen, und sie hätten sich zusammen irgendwo anders ein gemeinsames Leben aufbauen können.
Doch vielleicht auch nicht. Vielleicht hätte Le-Iva Eltern gehabt, die sie nicht allein lassen konnte. Einen Vater mit einem schlimmen Bein, der Unterstützung brauchte, oder zwei kleine Brüder, die auf sie angewiesen waren, oder ...
Ach, was brachte es, sich eine andere Welt zu erträumen, die es nicht gab? Es war ein schwacher Trost, daran zu glauben, dass ihr Leben in keiner dieser anderen Welten besser und leichter gewesen wäre als dieses Leben in dieser Welt.
Asati wollte sich nicht den Kopf über Dinge zerbrechen, die ohnehin nicht real waren. Denn dies war die Wirklichkeit: Diese schöne, kluge, sturköpfige Frau war nun einmal die Königin von Berrin. Häufig grantig und aufbrausend und dann wieder in Gedanken und Erinnerungen verloren, der Kummer in ihren Augen nur sichtbar, wenn man genau hinsah. Und das durfte Asati nicht. Sie tat es, weil sie nicht anders konnte, aber sie hatte kein Recht dazu, hinter die Fassade der Königin zu blicken.
Noch nicht. Auch das musste sie sich wieder und wieder vorbeten, um nicht den Mut zu verlieren.
Es mochte nicht der ideale Tag für ihren kleinen Liebeszauber sein, aber würde dieser Tag, an dem alles genau passte, jemals kommen? Ein Tag, an dem Le-Iva sie ansah, lächelnd, und in ihren dunklen Augen ein Ernst lag, tief und geheimnisvoll, ein Tag, an dem die Königin sagen würde: Asati, ich glaube, ich liebe dich und ich kann nicht ohne dich leben.
Träum nicht, schalt sie sich. Du Närrin, das wird niemals geschehen.
Aber vielleicht geschah es ja doch. Vielleicht war heute der Tag für ein Wunder.
»Euer Wein. Trinkt, er ist vorzüglich.« Sie hob ihr Glas. »Von den Inseln des Südens. Ich habe ihn von einem Händler aus Arit.«
»Du denkst an alles.« Le-Iva bemühte sich um ein Lächeln, aber sie stützte das Kinn auf ihre Hand. Asati fielen die Ringe unter den ausdrucksvollen dunklen Augen auf. Seit der Mönch im Palast spukte, schlief die Königin schlecht.
»Ist wieder etwas passiert?«, entfuhr es ihr, obwohl sie doch über die Liebe reden wollte und nicht über ein Thema, das Le-Iva jedes Mal in Wut versetzte. Doch wenn sie erst ausgesprochen hatte, was sie bedrückte, würde sie sich vielleicht ein wenig entspannen.
»Du meinst, ob wir wieder Besuch hatten? Ob er wieder etwas geschnitzt hat? Ob er noch ein paar Eisblumen auf den Hinterteilen schöner Damen verewigt hat?«
Darüber
wollte Asati nun wirklich nicht sprechen. Immerhin konnte sie schon wieder einigermaßen sitzen. Sie hatte gedacht, dass der Kriegermönch sich zurückhalten würde, wenn sie im Bett der Königin blieb. Oder – im schlimmsten Fall – dass er sie umbringen würde. Trotzdem hatte sie nicht immer die Wahl, und in jener Nacht war sie in ihrem eigenen Gemach gewesen und hatte Gandria den Vortritt gelassen. Ein Fehler, wie sich herausgestellt hatte, denn diese außergewöhnliche Verzierung hätte sie sich gerne erspart.
»Vielleicht sollte ich geschmeichelt sein, dass uns nun diese besondere Erfahrung eint, Majestät«, sagte sie.
»Und, bist du es?«, fragte Le-Iva »Oder ist es schmeichelhafter, mit einem Mörder zu plaudern als mit mir?«
Sie erschrak über die plötzliche Schärfe in der Stimme der Königin.
»Wie bitte? Ich habe nicht …«
»Was hat er dir geboten? Was hat er dir angedroht?« Die Königin stand auf, ihr Stuhl fiel polternd um. »Womit kann man dich dazu bringen, Asati, deine Königin zu vergiften?«
Asati lachte ungläubig auf. Erst als sie den Hofzauberer Eridan und zwei Soldaten durch die Tür kommen sah, begriff sie, dass Le-Iva es völlig ernst meinte.
»Nein!«, rief sie. »Ich habe Euch nicht vergiftet! Ich würde nie …«
Die Wachen rissen sie von ihrem Stuhl hoch und hielten sie härter fest als nötig.
»Die Königin kam zu mir, nachdem Ihr ihr eine Haarsträhne abgeschnitten hattet«, sagte Eridan. Wie er lächelte. Der Mann war einfach bloß ein gemeiner Bastard. »Dachtet Ihr, wenn ein Kriegermönch sich an der Person der Königin vergreifen kann, könntet Ihr das auch? Es gibt ein paar interessante Dinge, die man mit Haaren anstellen kann. Ein perfekt abgestimmtes Gift herzustellen, beispielsweise, von dem Ihr sorglos hättet trinken können.«
Der Zauberer griff nach dem Glas der Königin und schnupperte daran. Vorsichtig tauchte er einen Finger in den Wein und kostete. »Ich würde Euch raten, uns reinen Wein einzuschenken – dieses Mal, meine Dame«, meinte er trocken. »Es duftet hier nicht nach den Inseln des Südens, sondern nach diversen Ingredienzen, die jedenfalls nicht auf Weinpanscher zurückzuführen sind.«
Le-Iva schenkte Asti einen unbeschreiblichen Blick voller Verachtung. »Was enthält der Wein? Wolltest du, dass ich leide, oder sollte es schnell gehen?«
Sie erwartete, dass ihr das Herz brach, aber stattdessen fühlte sie sich nur enttäuscht – und verzweifelt. »Das ist kein Gift! Glaubt mir, bitte!«
»Was ist es dann?«, fragte der Eridan kühl. »Was hat Euch der Eismönch gegeben?«
»Es war nicht der Mönch! Ich habe nie mit ihm gesprochen!«
Der Zauberer musterte sie unergründlich. »Mit wem dann?«
***
Diesmal wusste Malia sofort, dass etwas nicht stimmte. Im Treppenhaus empfing sie ein fremder Geruch, den unbekannte Besucher mitgebracht haben mussten. Schon die Nachbarn hatten sie so merkwürdig angestarrt, und der Schnee draußen war noch schmutziger und zertrampelter als sonst.
Mit einem unguten Gefühl stieg sie die Treppe hinauf. Das konnte doch nichts mit der Hochzeit zu tun haben, die ihr Vater unbedingt in die Wege leiten wollte? Waren Überraschungsgäste eingetroffen?
Die Tür in die Wohnung stand weit offen. Ihr erster Blick fiel auf den Sessel, in dem ihr Vater saß. Aber nicht wie immer, gemütlich zurückgelehnt und leise schnarchend, sondern vorne auf der Kante, die Hände auf den Knien, wie ein unartiger Schuljunge, der auf seine Strafe wartete.
»Malia«, sagte er hilflos.
Jetzt erst sah sie die Männer neben ihm. Soldaten mit dem königlichen Symbol des magischen Baumes auf ihrer Brust. Aus der Kräuterkammer erklangen Stimmen. Malias Blick huschte dorthin, und einer der Soldaten machte eine Kopfbewegung, die zu bedeuten schien: Geh ruhig hinein.
Ihr Herz klopfte so heftig, dass es wehtat. Trotzdem schob sie behutsam die Tür ins Nebenzimmer auf.
Vor ihren Schätzen, den sorgsam gehüteten Arzneien, stand ein Fremder mit einem Schopf wirrer schwarzer Haare. Mit gerunzelter Stirn musterte er die Beschriftungen auf den Gläsern, nahm sie vom Bord und ließ eins nach dem anderen in einen Sack fallen, den ein zweiter Mann trug, der offenbar sein Diener war. Zwei weitere Soldaten schauten ihnen zu. Der hochgewachsene Eindringling trug einen langen steingrauen Mantel, doch als er sich zu ihr umdrehte, wurde das weiße Gewand mit dem goldenen Kragen sichtbar, das er darunter trug.
Oh nein.
Ihr Mut sank. Ihr ängstliches Herz hörte vor Schreck beinahe auf zu schlagen. Ein Zauberer.
Er ließ seinen kühlen Blick über sie wandern. Was er sah, schien ihn zu erstaunen. Ein verächtliches Lächeln kräuselte seine Lippen.
»Malia, die Liebeszauberin. Das bist dann wohl du.«
»Ja«, krächzte sie. »Gibt es … gibt es ein Problem?«
»Du bist verhaftet.«
»Was?« Es war keine allzu große Überraschung, nachdem sie Soldaten und Zauberer in ihrer Wohnung angetroffen hatte, aber trotzdem. Es laut ausgesprochen zu hören machte es real. »Weil ich … keine Lizenz habe?« Das hat mir diese Frau eingebrockt, dachte sie wütend. Es hat nicht geklappt mit ihrer großen Liebe und nun hetzt sie mir die Zauberer auf den Hals.
Sie sollte Angst haben, aber in diesem Moment war der Ärger über diese undankbare Verräterin größer. »Wer hat mich angeschwärzt?«
Der Zauberer antwortete nicht, sondern musterte sie bloß mit dieser kaum verhohlenen Verachtung, die bewirkte, dass sie ihn am liebsten schlagen wollte.
»Ein solcher Schritt ist nicht nötig, wirklich nicht. Wenn ich Strafe zahlen soll, sagt mir einfach, wie viel.«
»Du machst dir Sorgen wegen deiner Lizenz?«
»Es geht gar nicht darum?«
Sein strenger Blick schien sie verbrennen zu wollen. »Du wirst wegen Hochverrats angeklagt, Mädchen«, verkündete er.
Dazu fiel ihr nichts ein. Tausend Fragen erstarben auf ihrer Zunge. Nur eine einzige hämmerte wie verrückt in ihrem Kopf: Hochverrat? Wieso Hochverrat? Um der Götter willen, doch bestimmt nicht Hochverrat?
In der Wohnstube stieß Nio ein ersticktes Geräusch aus. Sie schaute ein letztes Mal zu ihrem Vater hinüber, als die Soldaten sie aus der Kräuterkammer führten, sah das Entsetzen in seinem Gesicht und den Kummer. Es war unerträglich, zu wissen, dass sie ihm das antat.
»Malia! Malia, was hast du bloß angestellt? War es dieser Graf? In welchen Schlamassel hat er dich denn jetzt schon wieder mit hineingezogen?« Er wandte sich voller Verzweiflung an den strengen Zauberer; Malia wunderte sich über seinen Mut. Es sah ihm gar nicht ähnlich, sich gegen Ungerechtigkeit zu wehren. »Aber Ihr bringt sie doch zurück? Das ist ein Missverständnis, bestimmt! Es wird sich alles aufklären und dann bringt Ihr sie zurück?«
Der Zauberer wandte sich ihm zu. »Wer einen Anschlag auf die Person Ihrer Majestät der Königin verübt«, sagte er, »kommt niemals zurück.«
Es war wie in einem bösen Traum. Mit gefesselten Händen durch das Spalier der glotzenden Nachbarn zu schreiten. Durch die endlosen, schneeverkrusteten Straßen, zwischen den Wächtern mit ihren steinernen Gesichtern. Gaffende Menschen am Wegesrand. Und ein Flüstern, das nicht erstarb, das die Frage in ihrem Kopf wie ein Echo zurückwarf.
»Hochverrat? Das Mädchen da? Ist es zu glauben?«
Die Königin. Ein Anschlag auf die Königin. Das ergab doch gar keinen Sinn.
Oder doch?
Dann hatten also die dunklen Haare Le-Iva gehört. Diese kleine Strähne; Malia hatte die Haare der Königin in ihrer Hand gehalten, ohne es zu ahnen. Das Gesicht der schönen Fremden blitzte vor ihr auf. Reich und attraktiv, eine Frau von ganz oben, das war klar gewesen. Aber Malia hatte nicht an so
weit oben gedacht.
Ein Witwer, dessen Frau seit vielen Jahren tot war! Bei allen Göttern! Es war genau umgekehrt. Le-Iva war eine Witwe, deren Mann schon vor Jahren zu Grabe getragen worden war.
Und sie Närrin hatte auch noch dafür gesorgt, dass der Liebeszauber für Männer wie für Frauen gleichermaßen funktionieren würde!
Der scharfe Wind trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie biss die Zähne zusammen, um nicht zu weinen. Kalissa wäre so etwas nie passiert. Ihre Mutter hätte die richtigen Fragen gestellt. Sie hätte zwielichtige Kunden abgewiesen. Sie hätte nie im Leben einen Liebestrank für die Königin von Berrin gebraut. Es gab Leute, die waren zu dumm, um als Liebeszauberin zu arbeiten. Kein Wunder, dass sie keine Lizenz hatte.
Ihre Füße waren durchnässt und zu Eisklumpen gefroren, als sie endlich am Palasttor anlangten. Die Soldaten waren schnell marschiert, ohne Rücksicht, während der Zauberer bequem in seiner Kutsche saß. Dieser fürchterliche Zauberer! Malia hasste ihn von ganzem Herzen, fast so sehr, wie sie sich selbst für ihre Dummheit beschimpfte.
Das hohe Tor vor dem Eingang in den Palasthof war mit einem Mosaik verziert. Es bestand aus unzähligen kleinen bunten Halbedelsteinen und goldenen Plättchen und stellte den Baum der Familie Vandi dar. Der Mosaikbaum blühte und trug Frucht und war so schön, dass es ihr Herz anrührte. Trost fand sie darin nicht. Sie wollte stehen bleiben, um ihn länger zu betrachten, doch unerbittlich zogen die Soldaten sie weiter, durch einen Hof und dann ins Innere des Gebäudes. Ihre Schritte hallten auf kahlem Stein. Sie wollte wachsam sein, aber es war, als würde ihr Blickfeld immer enger. Sie schritt wie durch einen Tunnel, der immer dunkler wurde. Was sie wahrnahm, schien weit entfernt zu sein. Dunkles Gemäuer. Durch schmale, mit Gitterstäben versehene Fenster drang das letzte Abendlicht. Der Rücken des Soldaten vor ihr war breit wie eine Wand.
Nicht weinen. Jetzt heul nicht, Malia, beschwor sie sich. Du wirst es ihnen erklären – wenn sie dich überhaupt lassen.
Doch was gab es zu erklären? Sie hatte einen Liebestrank für die Königin hergestellt. Daran gab es nichts zu rütteln. Kein Mensch würde ihr glauben, dass ihre Tränke niemandem schaden konnten. Die Mächtigen hatten niemals Verständnis dafür, wenn jemand in ihre Herzensangelegenheiten eingriff.
Fürst Cario war eine Ausnahme. Der hatte es wenigstens mit Belustigung aufgenommen und sich sogar bedankt. Vielleicht konnte er ihr helfen, wenn Graf Felias ihn darum bat? Der Fürst kannte die Königin persönlich, er hatte sie auf ihren Reisen begleitet. Cario gehörte zu einer der vornehmsten Familien von Berrin. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung …
Doch diese erstarb jäh, als die Soldaten eine Tür öffneten und sie in einen nur spärlich beleuchteten Raum stießen.
Die anderen waren alle schon da.
Cario. Graf Felias. Und sogar die dunkeläugige Schönheit, der sie ihre Verhaftung verdankte.
Die Tür knallte hinter ihr zu. Knarzend drehte sich der große Schlüssel im Schloss.
»Oh, meine liebe Malia«, sagte Felias und breitete die Arme aus. »Es tut mir so leid.«