21. Die Zauberer der Königin
Ke-Achan verschwand im Schatten. Er war nicht hier, um einzugreifen. Er wollte bloß wissen, was passierte.
Der geheime Raum erlaubte den Blick in die Kerkerzelle durch eine kleine Öffnung, die der Belüftung diente. Es war eng hier drinnen, und er musste sich in die dunkle Nische pressen, während sich der hünenhafte Zauberer vor dem Gitter breitmachte. Der Blitzzauberer, ausgerechnet. Es wäre leicht gewesen, ihn hinterrücks niederzustechen, während der Feind vor ihm hockte, kaum fähig, sich umzudrehen. Doch Keioron hatte keinen solchen Befehl gegeben, und Ke-Achan sollte verdammt sein, wenn er dem Gott die Arbeit und das Denken abnahm. Er würde niemanden umbringen, wenn er nicht musste.
Dann kam auch noch die Königin auf allen vieren hereingekrochen. Nun, das war eine Überraschung. Ke-Achan hätte nicht gedacht, dass sie sich selbst um dieses Problem kümmern würde. Dabei hätte er sich nicht wundern müssen – mittlerweile kannte er sie recht gut. Le-Iva war keine mit Gold behängte Puppe, die auf ihrem Thron mit der Krone spielte. Sie bot sogar dem Gott des Eises die Stirn. Natürlich war sie sich nicht zu schade, durch einen engen Tunnel in eine kalte Kammer zu kriechen, um ihre Feinde zu belauschen.
»Worüber sprechen sie?«, fragte Le-Iva leise.
Eridan schüttelte den Kopf. »Nichts von Bedeutung. Der blonde Graf macht Baroness Asati Vorwürfe und sie beschimpft ihn. Bis jetzt weist nichts darauf hin, dass sie Verbindung zu den Mönchen haben.«
»Ich übernehme die nächste Wache«, sagte die Königin.
»Das müsst Ihr nicht tun«, wandte der Zauberer ein.
»Doch, ich muss«, widersprach sie, was Ke-Achan mit Stolz erfüllte. Was sich seltsam anfühlte – warum sollte es ihn interessieren, ob die Königin mit schmutzigen Knien in den Geheimgängen herumkroch, statt kleine Häppchen von goldenen Tellern zu naschen?
Es war kaum möglich, die Plätze zu tauschen, doch schließlich nahm Le-Iva den Beobachtungsposten ein, und Eridan zog sich zurück.
Ke-Achan hatte von seiner Warte aus einen mindestens ebenso guten Blick auf die vier Gefangenen. Es hatte ihn neugierig gemacht, als er von der Festnahme hörte. Natürlich hatten die Verschwörer nichts mit dem Orden zu tun; Handlanger oder Spione zu bezahlen, war bei den Kriegermönchen nicht üblich. Höchstwahrscheinlich hatten diese Leute beschlossen, die Situation auszunutzen, um die Königin zu ermorden und den Verdacht auf den regelmäßigen Eindringling, den Mönch, zu schieben. Auf ihn.
Ke-Achan konnte sich denken, warum die Königin persönlich lauschen wollte. War ein solcher Verrat zu fassen? Le-Ivas schöne, dunkelhaarige Geliebte war an dem Komplott beteiligt. Und einer der wichtigsten Ratsherren, ein Mann, der sogar als ein Freund der Königin galt. Fürst Cario, soviel hatte Ke-Achan bereits mitbekommen, war einer der angesehensten und einflussreichsten Männer bei Hofe. Umso schwerer musste es die Königin treffen, ihn als Verräter zu entlarven. Wenn der Anschlag gelungen wäre, hätte Cario höchstwahrscheinlich versucht, den Thron zu besteigen, vermutlich mit der ehrgeizigen Mätresse an seiner Seite.
»Ich bin untröstlich«, sagte der Graf gerade. »Wenn du mir davon erzählt hättest, dass sie bei dir war, Malia, hätte ich dich warnen können.«
Die Stimme einer jungen Frau erklang. »Jetzt macht Euch nicht so viele Gedanken. Was hätte ich Euch denn sagen können? Dass mich eine Frau aufgesucht hat? Dass sie jemanden liebt? Ich frage nicht nach Namen. Und ich spreche nicht über die Geheimnisse meiner Kunden.«
Unter ihren Füßen raschelte Stroh, während sie auf und ab ging. Ke-Achan hatte diese vierte Person bis jetzt noch nicht zu Gesicht bekommen; sie stand zu nah an der Wand, in der sich das Gitter befand. Nun wurde sie wenigstens teilweise sichtbar – eine Frau in einem rauchblauen Mantel, über den sich dunkelblondes Haar breitete. Ihr Gesicht konnte er immer noch nicht sehen, denn sie stand mit dem Rücken zu seinem Lauschposten, ganz dem Grafen zugewandt. Sie hatte eine schöne Stimme. Angenehm. Warm und nicht zu laut.
»Ihr seid nicht schuld, Felias, also hört bitte damit auf.«
»Dann bin ich also schuld, wie?« Die Stimme der Mätresse war schärfer; sie klang gereizt. »Es war nur ein Versuch, und er hätte niemandem geschadet. Dass es schiefgegangen ist, nun, das ist Schicksal.«
Die Königin seufzte leise. »Ach, Asati«, murmelte sie.
Die blonde Frau namens Malia drehte sich um. »Hat die Königin denn gar nichts davon getrunken? Nicht den kleinsten Schluck?«
Sie war jung. Ein Mädchen. Ein hübsches Mädchen, wie Ke-Achan fand, wenn auch auf eine ganz andere Art als die Mätresse. Sie wirkte nicht wie eine eiskalte Giftmischerin, sondern hatte etwas Warmes, Freundliches an sich.
Asati zögerte.
»Sagt es mir«, befahl Malia.
»Am Wein hat sie nicht einmal genippt.«
»Aber?«
»Ich hatte einen Teil des Pulvers ins Essen gemischt«, gab Asati widerwillig zu.
Bei diesen Worten sog die Königin scharf die Luft ein.
»Sie hat also doch etwas davon zu sich genommen«, stellte Malia fest und runzelte nachdenklich die Stirn. »Und lässt Euch danach einsperren. Das ist es also, was Euch solchen Kummer macht. Glaubt Ihr, Liebe kann sich in Hass verwandeln, wenn man mit einem Zauber das Herz öffnet?«
»Es war nicht genug, um eine Wirkung zu erzielen«, sagte Asati. »Und ich glaube gar nichts.«
»Wie hattet Ihr es aufgeteilt?«, wollte das Mädchen wissen. »Die Hälfte im Wein, die Hälfte in den Speisen?«
Die Mätresse antwortete nicht.
»Es kommt nicht auf die Menge an. Der Zauber berührt das Herz. Eine sanfte Berührung vermag mehr als der Angriff eines Heeres. Wenn die Königin ihre Liebe zu Euch jetzt nicht entdeckt hat … Es tut mir leid für Eure Hoffnung.«
»Mir nicht«, fauchte Fürst Cario. »Ich hatte Euch gesagt, Ihr sollt es bei Odiane anwenden, bei niemandem sonst!«
»Ihr habt durchaus geahnt, was ich damit vorhatte!«
»Mag sein, aber ich habe Euch gewarnt. Und ich hätte erwartet, dass Ihr vorsichtiger seid, sonst hätte ich Euch eher einen Tritt vors Schienbein verpasst, als Euch Malias Wohnort zu verraten, Baroness. In Zeiten wie diesen, in denen der Mönch umgeht, benutzt man keinen Liebeszauber! Wenn alle so nervös sind, dass sie beim kleinsten Geräusch einen Herzanfall kriegen, sollte man keine Pülverchen ins Essen der Königin mischen. Also, ich bitte Euch!«
»Was für ein Mönch?«, fragte der Graf.
Nun bekam Ke-Achan eine ausgeschmückte Aufzählung seiner Taten zu hören, die ihn eher langweilte. Immerhin erfuhr er dadurch, dass der Palast sich bedeckt hielt und nicht einmal alle adligen Familien davon erfahren hatten, geschweige denn die Bevölkerung von Berrin. Sämtliche Ratsmitglieder waren eingeweiht, doch in der Südstadt wusste man gar nichts, und auch in der Nordstadt hatten sich die Gerüchte nicht ausgebreitet. Die Angst vor Keioron war für die meisten Menschen kral ; man sprach nicht darüber. Er war beinahe etwas enttäuscht.
Danach schwiegen alle vier, und Ke-Achan fürchtete schon, sie seien eingeschlafen, als der Fürst laut gähnte.
»Welche Hinrichtungsart erwartet uns eigentlich?«
Asati lachte böse. »In letzter Zeit üblich war, glaube ich, das Enthaupten. Aber es ist etwas aus der Mode gekommen, seit hier fast jeden Tag Blut weggewischt werden muss. Hängen ist zwar nicht schön anzusehen, aber es macht weniger Dreck.«
»Könnt ihr damit aufhören?«, bat der Graf. »Ihr macht ihr Angst.«
»Gar nicht«, behauptete Malia. Sie saß neben Felias und hatte den Kopf an seine Schulter gelehnt.
»Oh, das muss es auch nicht«, meinte Cario munter. »Hängen oder Enthaupten sind Todesarten, die sehr zivilisiert sind. Wir sollten uns nicht beschweren. Was ich schon alles in der Wüste erlebt habe ... Da ist man doch froh, hier in einer schönen, mit Stroh ausgelegten Zelle zu sitzen und zu wissen, dass einen nichts Schlimmeres erwartet als ein Beil im Nacken oder ein Strick um den Hals.«
»Jetzt fängt er schon wieder mit seinen Geschichten an«, murrte der Graf, aber es klang liebevoll. Womöglich bekam er gar nicht genug von diesen Geschichten.
»In der Wüste gibt es Ungeheuer, die im Sand leben und die man weder sieht noch hört, bis sie das Maul unter ihrer Beute aufreißen, sodass man mitsamt einem Schwung Sand hineinrutscht. Doch damit nicht genug – das könnte durchaus ein schneller, gnädiger Tod werden, aber so ist es beileibe nicht. Die Biester haben keine richtigen Zähne, sodass sie einen nicht etwa in der Leibesmitte durchbeißen, sondern ihr Opfer in ihren endlos langen Schlund hineinschlürfen. Bei lebendigem Leib von den Magensäften eines Untiers verdaut zu werden – das nenne ich einen unappetitlichen Tod.«
»Das habt Ihr Euch doch bloß ausgedacht«, sagte Asati.
»Meint Ihr?«, fragte Cario grimmig. »Dann habe ich mir vielleicht auch diese merkwürdigen schwarzen Aale nur ausgedacht, die an den Wasserstellen lauern. Wenn ein Tier zum Trinken kommt, sagen wir ein Büffel, schlingen sie sich um seine Beine und fahren ihm ins Maul, wo sie ihm von innen her die Eingeweide heraussaugen.«
»Hör nicht auf ihn, Malia«, sagte Felias. »Er ist ein verrückter Angeber.«
»Hat keiner eine bessere Geschichte zu erzählen?«, fragte Asati, die auf einmal müde und traurig klang. »Eine Geschichte von der Liebe? Eine Geschichte, die gut ausgeht?«
»Ich kenne eine Geschichte von der Liebe«, sagte Fürst Cario. »Aber da die Geschichten von Menschen immer mit dem Tod enden, müssen wir auf eine Göttergeschichte ausweichen.«
»Na, dann los«, meinte der Graf. »Habt Ihr mehr zu bieten als schwarze Aale und Sandmonster? Ich höre.«
»Die Göttin Deiara – dir müsste sie doch ein Begriff sein, Malia?«
»Nein«, sagte Malia.
»Nun, das macht nichts, sie ist eine der unbekannteren Gottheiten. Die Göttin der wahren Liebe. Der Wüstenstamm, bei dem ich eine Weile … Nein, schon gut, keine Angst, ich erzähle nichts mehr über die Wüste. Sie preisen Deiaras Namen und erzählen Geschichten von ihr, die ans Herz gehen. Diese Göttin verliebte sich eines Tages in einen Menschen. Sie zeigte sich ihm und wie es aussah, war der Mann gar nicht abgeneigt, mit einer hübschen kleinen Göttin … nun ja. Miteinander sprechen konnten sie nicht, denn wie ihr alle wisst, können die Götter nur zu ihresgleichen reden. Aber sie verstanden sich auch ohne Worte.«
»Lasst mich raten. Es war ein Mann aus der Wüste«, sagte Asati.
»Oh nein, nein. Er wohnte in den Bergen, weit weg im Westen, und hütete dort Ziegen oder Schafe oder irgendein Getier, das mit meinen schwarzen Aalen leider in keiner Weise mithalten kann. Nun, die Göttin störte sich nicht an seinem harmlosen Beruf.«
»Hatte sie nicht davon gehört, dass Göttinnen sich normalerweise Helden aussuchen und Götter schöne Prinzessinnen?«
»Wohl eher nicht«, bekannte Cario. »Aber immerhin, Deiara ist die Göttin der Liebe. Der echten Liebe, der Herzensliebe. Da kommt es auf Kriegserfolge wohl nicht so sehr an. Sie gebar dem Schafhirten ein Kind – ein wunderschönes Kind, denn wie jeder weiß, sind die Kinder der Götter stets mit allen Gaben des Himmels ausgestattet.«
»Ja ja, wie jeder weiß«, murmelte Asati.
»Sohn oder Tochter?«, erkundigte sich der Graf.
»Eine Tochter. Muss ich sagen, dass sie so schön war, dass die Götter selbst ein Auge auf sie warfen? Sie wuchs in der kleinen Hütte des Schafhirten auf, wohin sich selten Besuch verirrte, daher erregte ihre Anwesenheit auf dieser Erde weniger Aufmerksamkeit, als sie es verdient hätte. Doch eines Tages tauchte einer der Götter dort auf, verkleidet in der Gestalt eines Wanderers …«
Die Königin wollte offenbar keine Geschichten hören. Gerade jetzt, wo es interessant wurde, schob sie sich rückwärts wieder durch den schmalen Gang, der nach draußen führte, und Ke-Achan hörte, wie sie zu jemandem sagte: »Die Verschwörer sind mit den Mönchen im Bunde. Daran besteht kein Zweifel.«
***
Es hätte sich weitaus schlimmer anfühlen müssen, eingesperrt zu sein und auf den Tod zu warten. Oder auf die Folter. Alles, was jetzt noch geschah, würde höchst unerfreulich sein.
Doch die Gefangenschaft hatte auch ihre guten Seiten. Wenigstens die Gesellschaft war amüsant. Hätte Malia sich früher ausgemalt, sie würde in einer Kerkerzelle landen, hätte sie erwartet, dass Schrecken und Angst diese letzten Stunden prägen würden. Das hier hätte kral sein müssen – das pure Entsetzen.
Doch zu ihrem eigenen Erstaunen war die Gemeinschaft der vier Verschwörer eine recht angenehme Runde. Auf Asatis Zorn und Enttäuschung hätte Malia durchaus verzichten können, aber Fürst Carios Gelassenheit machte das mehr als wett. Sie konnte gut verstehen, warum Graf Felias so hingerissen von ihm war. Selbst im Angesicht des Todes spann er Geschichten und machte Scherze. In jedem seiner Worte schwang Hoffnung mit – eine wahrscheinlich trügerische, durch nichts zu rechtfertigende Hoffnung, aber sie übertrug sich auf die anderen.
»Und wenn das Leben uns das hier beschert, dann nehmen wir es an«, flüsterte sie. »Wenigstens landest du nicht im Magen eines Wüstenmonsters, also beschwer dich nicht.«
Graf Felias hatte seinen Arm um sie gelegt; er war eingeschlafen und schnarchte leise mit geöffnetem Mund. Asati strich an den Wänden entlang, auf der Suche nach einem Ausweg. Sie starrte zum Fenster hinauf. Die beiden Gitterstäbe standen so weit auseinander, dass sich eine schmale Person durchaus hätte hindurchzwängen können, doch leider lag es viel zu hoch. Das andere Gitter weiter oben in der Wand, das vermutlich zu einem Lüftungsschacht gehörte, schien fest eingemauert zu sein.
»Wir könnten es versuchen«, murmelte Asati. »Das Fenster ...«
»Vergiss es«, sagte Cario. »Alle Kerkerfenster sind mit einem magischen Schild abgesichert. Ihr könnt hinaufklettern, Baroness, aber auf diese Weise kommt Ihr nicht raus.«
»Das sagt Ihr mir erst jetzt?«
Er hob die Schultern. »Ich dachte, Ihr kennt Euch aus im Palast.«
»Mit den Verlieszellen hatte ich bisher recht wenig zu tun.« Asati wandte sich der Tür zu. »Ach, verdammt!«, schrie sie und trat mit voller Wucht dagegen.
Die Tür schwang auf.
Der Fürst zeigte sich zum ersten Mal überrascht. »Oh. Das ist ... unerwartet.«
Malia schüttelte Graf Felias. »Wacht auf! Schnell!«
»Das könnte eine Falle sein.« Misstrauisch spähte Asati in den Gang hinaus. »Wenn wir fliehen, halten sie das erst recht für den Beweis unserer Schuld.«
»Das macht nichts«, sagte Felias sofort, sobald er sich den Schlaf aus den Augen gewischt hatte. »Bloß weg hier.«
Malia wusste nicht, ob das eine gute Idee war, aber was hatten sie zu verlieren? Sie konnten wenigstens versuchen, der Hinrichtung zu entkommen. Wenn sie scheiterten, konnte die Strafe nicht schlimmer sein. Der Gedanke, was auf dem Spiel stand, hätte sie lähmen sollen, doch stattdessen fühlte sie sich durch die Angst und die Gefahr merkwürdig beflügelt.
Sie huschten durch den Gang. Teilweise mussten sie sich durch völlige Dunkelheit tasten, dann wieder erhellten Fackeln in Wandhalterungen den Weg nach draußen. Es war völlig still im Labyrinth der Gitter und Korridore.
»Keine Wachen«, flüsterte Asati. »Das ist doch mehr als seltsam.«
»Doch, hier liegt einer«, stellte der Fürst fest und wies auf die Stiefel, die aus einem Nebengang in den Hauptgang hineinragten. Die Füße in den Stiefeln gehörten zu einem Wächter, der reglos auf dem kalten Boden lag.
»Ist er tot?«, fragte Malia erschrocken. »Soll ich ...«
Felias zog sie weiter, bevor sie nachschauen konnte. »Dafür haben wir keine Zeit. Komm.«
»Weiter hinten lagen auch ein paar herum«, berichtete Cario. »Wer auch immer unser unbekannter Helfer ist, er hat verdient, dass wir uns auch ein wenig Mühe geben. Dort geht es schon hinaus.« Er öffnete eine Tür und spähte vorsichtig nach draußen. »Die Luft ist rein. Kommt, wir müssen über den Hof, um vom Palastgelände herunter zu kommen. Nicht laufen, sonst fallen wir erst recht auf. Wir gehen ruhig zum Tor, als hätten wir jedes Recht der Welt dazu.«
Niemand widersprach.
Asati ging voraus, mit forschen Schritten und hoch erhobenem Kopf. Der Fürst warf Felias einen ernsten Blick zu und folgte ihr. Der Graf und Malia kamen als Letzte.
Wolken hingen tief über den Zinnen des Palastes. Die dunklen Mauern schienen mit dem Berg zu verschmelzen. Malia sah nur das Tor vor sich und den goldenen Baum darauf, der im Schein der Lampen funkelte. Das Mosaik auf der Innenseite des Tores sah ein wenig anders aus, doch es war genauso kunstvoll gearbeitet wie dasjenige auf der Vorderseite der Torflügel. Die geschwungenen Äste des Vandi-Baumes erinnerten Malia an die wilden Haare des Zauberers, der sie verhaftet hatte.
»Zu viel Licht«, murmelte Felias. »Und zu wenige Soldaten.«
Es war eine Falle; es musste eine Falle sein. Doch ihr Glück hielt an. Wie durch Zauberhand schwang das Tor auf, kaum dass sie den Hof zur Hälfte durchquert hatten.
Vielleicht konnten sie es tatsächlich schaffen, denn wider Erwarten tauchten hinter den weit offenen Flügeln keine Soldaten auf. Der Weg war frei. Sie mussten nur durchs Tor rennen und waren draußen, und hatten sie es erst bis in die Straßen von Berrin geschafft, hatten sie eine reelle Chance, zu entkommen.
»Verflucht«, murmelte Felias, und da sah auch Malia, dass aus einer Seitentür des Palastes zwei Gestalten getreten waren. Sie marschierten quer über den Hof. Wenigstens waren es keine Soldaten; einer trug einen hellen Mantel, der andere einen dunklen Mantel und einen Hut.
»Auch das noch, das ist ein Zauberer«, sagte Cario.
»Verdammt!«, rief Asati. »Lauft!«
Die beiden Neuankömmlinge schienen im selben Moment zu erkennen, dass etwas nicht stimmte.
»Halt! Bleibt stehen!«, rief der Mann mit dem Hut, und gleichzeitig riss der hell gekleidete Mann die Hände hoch.
Die Zeit schien sich zu verlangsamen. Malia sah einen Lichtstrahl auf sich zuschießen; die magische Kraft kam wie eine Druckwelle auf sie zu, und instinktiv hob sie die Arme.
Etwas geschah – sie hatte keine Ahnung, was. Es ging so schnell, dass sie es nicht sofort begriff, und zugleich war es, als würde alles so langsam ablaufen, als würde die Welt selbst durch tiefes Wasser waten. Das grelle Licht blieb vor ihr stehen, mitten in der Luft, als wäre es abgeschnitten worden wie ein Stück Brot. Dann prallte es von ihren Händen ab und kehrte zu seinem Ursprung zurück.
Der Zauberer stieß einen überraschten Schrei aus und stürzte zu Boden. Die Druckwelle erfasste auch den Kerl mit dem Hut. Er schrie laut und schrill, als er davongeschleudert wurde, und verstummte schlagartig, als er in einen Schneehügel krachte, während sein Hut wie ein wilder Falke davonsegelte.
»Schnell!«, rief Cario. »Schnell, schnell, schnell!« Er und Asati rannten auf das immer noch offene Tor zu.
Dort winkte die Freiheit. Die Rettung. Und in der anderen Richtung lagen zwei Männer reglos im Schnee.
»Malia«, flehte Felias, als sie zögerte. »Malia, bitte!«
Sie brauchte nicht mehr als einen Augenblick, um sich zu entscheiden. »Tut mir leid. Flieh mit den anderen, ich kann nicht.«